# taz.de -- Sexismus in Hilfsorganisationen: Erdbeben bei den NGOs | |
> Der Verein Fair Share will bei Hilfsorganisationen für | |
> Geschlechtergerechtigkeit sorgen. Besonders in den Führungsetagen mangelt | |
> es daran oft. | |
Bild: Nach dem Beben 2010: Auf Haiti nutzten einige Oxfam-Helfer die Situation … | |
BERLIN taz | Im Januar 2010 bebt die Erde südwestlich von Port-au-Prince, | |
der Hauptstadt Haitis. Zwei Tsunamis treffen die Küste eines der ärmsten | |
Länder der Welt, manche Städte werden fast völlig zerstört. Es dauert nicht | |
lange, bis die innere Sicherheit des Inselstaats zusammenbricht. Mehr als | |
300.000 Menschen sterben, fast 2 Millionen verlieren ihr Zuhause. | |
Hilfsorganisation entsenden Katastrophenkräfte. | |
Es dauert acht Jahre, bis ein Skandal ans Licht kommt: Mitarbeiter der | |
Hilfsorganisation Oxfam werden beschuldigt, während ihres Einsatzes in | |
Haiti Orgien mit Prostituierten gefeiert und deren Notlage ausgenutzt zu | |
haben. Zwar waren die Vorfälle 2011 intern von Oxfam bestätigt worden. Doch | |
unter anderem im Zuge der #MeToo-Bewegung, in der Frauen sexualisierte | |
Übergriffe und Gewalt anprangerten, kommt dem Thema nun eine andere | |
Bedeutung zu. Nach und nach werden zahlreiche Fälle von sexualisierten | |
Übergriffen oder sexueller Ausbeutung auch bei NGOs wie Ärzte ohne Grenzen | |
oder Save the Children öffentlich. | |
„Den Sektor hat das komplett aus der Bahn geworfen“, sagt Helene Wolf, die | |
2018 als stellvertretende Geschäftsführerin beim International Civil | |
Society Center in Berlin arbeitete, das AkteurInnen aus NGOs in den | |
Bereichen Menschenrechte, Ökologie und soziale Gerechtigkeit vernetzt. „Für | |
mich waren die Skandale und der Umgang damit die emotionale Basis, Fair | |
Share zu gründen.“ | |
Fair Share, zu Deutsch etwa Fairer Anteil, ist ein gemeinnütziger Verein, | |
den Wolf zusammen mit einem Kollegen im Dezember 2018 ins Leben gerufen hat | |
und der zivilgesellschaftliche Organisationen weltweit dazu aufruft, den | |
prozentualen Anteil von Frauen in Führungspositionen dem von Frauen | |
innerhalb des gesamten Teams anzupassen. „In vielen NGOs ist die Mehrheit | |
der MitarbeiterInnen weiblich“, sagt die 36-jährige Kultur- und | |
Politikwissenschaftlerin. Aber das spiegele sich selten in der | |
Führungsebene. „Dabei sollte Geschlechtergerechtigkeit nicht nur in den | |
Programmen der NGOs, sondern auch innerhalb der eigenen Organisation | |
verankert werden.“ | |
## Das Ziel: Machtstrukturen im Sektor verändern | |
Schließlich, so Wolf, arbeiteten viele NGOs ausdrücklich für | |
Geschlechtergerechtigkeit in ihren jeweiligen Zielländern. Wenn | |
ausgerechnet diese Organisationen in der internen Politik und | |
Führungskultur etwas anderes vorlebten, sei das ein Problem – nicht nur in | |
Bezug auf Glaubwürdigkeit, sondern auch auf die Praxis. „Der | |
Machtmissbrauch findet vor allem im Globalen Süden statt, aber die Kultur | |
ist die des Nordens“, sagt Wolf. „Der entsendet schließlich die Leute.“ | |
Wolf verfolgte aus nächster Nähe, wie die NGOs begannen, die Skandale im | |
Fahrwasser von #MeToo aufzuarbeiten: Das Civil Society Center gehört als | |
gemeinnützige GmbH 15 der weltgrößten zivilgesellschaftlichen | |
Organisationen wie Amnesty International, Care oder Oxfam. Allein die | |
größte dieser 15 Organisationen beschäftigt weltweit etwa 45.000 | |
MitarbeiterInnen. Die EntscheiderInnen dieser Organisationen traf Wolf | |
mehrmals im Jahr. | |
Im Zuge der Aufarbeitung sei eine „enorm technische Debatte“ entstanden, | |
sagt Wolf: „Es ging um Berichte, um Zertifizierungen. Das ist wichtig, | |
stellt aber das System nicht infrage.“ Der Ansatz von Fair Share ist | |
deshalb ein anderer: Wolf und ihre MitstreiterInnen wollen die | |
Machtstrukturen und die Kultur des Sektors verändern. | |
Zuerst schrieben sie 28 der größten internationalen Organisationen wie | |
Greenpeace, Plan International oder Human Rights Watch an, um zu erfahren, | |
wie hoch die Frauenquoten tatsächlich sind – denn dazu gab es kaum Zahlen. | |
„Ich habe zwar selbst gesehen, wie überwiegend Männer in die relevanten | |
Posten nachrückten“, sagt Wolf, die mittlerweile nur noch für Fair Share | |
arbeitet, bislang allerdings ehrenamtlich. „Aber ich konnte dieses enorme | |
Ungleichgewicht zwischen MitarbeiterInnenschaft und Führungsebene nicht | |
belegen.“ | |
Jetzt schon. In der Mehrheit der Teams der 28 befragten Organisationen | |
spiegelt sich der Anteil der Frauen in den Gesamtteams nicht in den | |
Führungsebenen, wie auf der Website von Fair Share zu sehen ist. Bei | |
Amnesty International etwa arbeiten insgesamt knapp 70 Prozent Frauen, der | |
Vorstand aber ist nur mit 40 Prozent, die Führungsebene mit nur 20 Prozent | |
Frauen besetzt. Zehn Vorstände haben höchstens ein Drittel weibliche | |
Mitglieder, einer gar keine. | |
## Repräsentation und Vielfalt als erster Schritt | |
Auch in den Führungsteams finden sich wenige Frauen: In sechs arbeiten nach | |
eigener Aussage oder nach von Fair Share recherchierten Daten ein Drittel | |
oder weniger Frauen, in zweien gar keine. „Natürlich lässt sich das Problem | |
nicht nur damit lösen, dass wir überall Frauen hinsetzen“, sagt Wolf. „Ab… | |
Repräsentation und Vielfalt sind ein wichtiger Schritt hin zu einem anderen | |
Rollenverständnis in den Organisationen.“ | |
Erste NGOs wie Care International, Plan International oder Oxfam haben | |
bereits zugesagt, bis 2030 die Fair-Share-Quote einführen zu wollen. „Wir | |
müssen uns verpflichten, die unausgewogenen Machtstrukturen zu verändern, | |
von denen viel zu lange Männer zulasten von Frauen profitiert haben“, wird | |
Kumi Naidoo, Generalsekretär von Amnesty International, auf der Webseite | |
von Fair Share zitiert. Nach den internationalen Zahlen ist der Verein nun | |
gerade dabei, die Zahlen für die deutschen Vertretungen der Organisationen | |
zu recherchieren. | |
Doch auch diese Zahlen sind nur ein erster Schritt. „Als Nächstes geht es | |
darum, mit den Frauen im Sektor selbst zu arbeiten“, sagt Wolf. Eine | |
virtuelle globale Community von Beraterinnen und Mitarbeitenden des Sektors | |
soll entstehen, aus Südafrika zum Beispiel, aus Großbritannien oder Indien, | |
die im NGO-Bereich eine große Rolle spielen. „Wir wollen die nationalen | |
Kontexte und AkteurInnen in den Blick nehmen und einbinden“, sagt Wolf. | |
Der Verein ruft nun dazu auf, Faire-Share-Gruppen vor Ort zu gründen, zudem | |
sollen ein Mentoring- und ein Monitoringprogramm aufgebaut werden, um | |
Fortschritt zu fördern und zu prüfen, ob die NGOs ihren Verpflichtungen | |
nachkommen. Und schließlich soll noch ein Konzept von „feminist leadership“ | |
etabliert werden, sagt Wolf: ein Konzept von feministischer Führungskultur | |
also, an dem sich der Sektor orientieren kann. | |
## Zusammenarbeit statt autoritärem Führungsstil | |
Einem Modell von feministischer Führungskultur der indischen | |
Frauenrechtsaktivistin Srilatha Batliwala zufolge bringt diese andere | |
Qualitäten ein, als es innerhalb männlicher Führungskultur oft der Fall | |
ist: Es ist keine autoritäre, kontrollierende Kultur – sondern eine mit | |
Fokus auf Zusammenarbeit, gemeinschaftlicher Entscheidungsfindung, die | |
einem gleichberechtigten Umgang miteinander und positivem Wandel | |
verpflichtet ist. | |
Mittlerweile unterstützt die Philantropin Ise Bosch Fair Share mit einer | |
Anschubfinanzierung, eine Angestellte kann damit auf einer kleinen Stelle | |
bezahlt werden. Bis zu 25 Personen sind zudem ehrenamtlich am Aufbau des | |
Vereins beteiligt. Momentan ist Wolf auf der Suche nach weiteren | |
Finanzierungsmöglichkeiten. „In einem Jahr“, sagt sie, „hätte ich gern | |
doppelt bis dreimal so viele Organisationen, die sich verpflichten, ihre | |
Strukturen zu verändern.“ Ansonsten lasse sie sich darauf ein, welche | |
Vorschläge innerhalb der Online-Community entwickelt werden. „Wir wollen | |
für die weitere Arbeit nichts vorgeben“, sagt Wolf, „aber die Plattform | |
dafür sein, eine geschlechtergerechte Kultur in NGOs zu etablieren.“ | |
17 Jul 2019 | |
## AUTOREN | |
Patricia Hecht | |
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