# taz.de -- Aufklärung eines Mordes: Tod im Dschungelheim | |
> Eine Frau verschwindet in Brandenburg. Ihr Skelett wird zwei Monate | |
> später gefunden. Haben die Behörden so lange gebraucht, weil sie keine | |
> Weiße war? | |
Bild: Erst zwei Monate nach ihrem Verschwinden wird die junge Frau tot im Wald … | |
BERLIN UND HOHENLEIPISCH taz | Es ist still in der Asylunterkunft | |
Hohenleipisch. Nur wenige Menschen sind auf dem weitläufigen Gelände | |
zwischen den ehemaligen Militärkasernen unterwegs. Kienäpfel knacken unter | |
den Füßen, es riecht nach Harz und warmem Waldboden. Zwei Männer sitzen auf | |
einer Bank, ohne sich zu unterhalten. Obwohl es noch nicht Mittag ist, hat | |
sich die Hitze schon ausgebreitet, die Hitze und die Stille. Und die Angst. | |
„Wir fürchten uns alle“, sagt eine junge Frau, die ihr kleines Kind auf dem | |
Arm hält. Ihr Name solle nicht in der Zeitung stehen, sagt sie, so wie | |
viele weitere Menschen, die in diesem Text vorkommen werden. „Wir wissen | |
nicht, was passiert ist und ob es wieder passieren wird. Es war hier vorher | |
schon schlimm, aber es ist alles noch viel schlimmer geworden, seit Rita | |
weg ist.“ | |
Rita Awour Ojungé verschwand am 7. April aus der Asylunterkunft | |
Hohenleipisch. Die Unterkunft liegt mitten im Wald an einer wenig | |
befahrenen Landstraße. Weil die 32-Jährige weder ihre beiden kleinen Kinder | |
noch eine Tasche, persönliche Gegenstände, Kleidung oder ihre Bankkarte | |
mitgenommen hatte, befürchteten ihre Freunde und Angehörigen sofort ein | |
Verbrechen. Als die Polizei zum ersten Mal den Wald um die Unterkunft herum | |
durchsucht, findet sie Überreste eines menschlichen Skeletts. Es ist das | |
von Ojungé. Ihr Verschwinden ist zu diesem Zeitpunkt bereits mehr als zwei | |
Monate her. | |
Es dauert zwei Wochen, bis die gefundenen Skelettreste identifiziert sind. | |
Ein Schädel, Knochen, Brandspuren. „Warum hat man sie erst so spät | |
gefunden?“, fragt die junge Frau mit dem Kind auf dem Arm. | |
## „Rita würde niemals ohne ihre Sachen wegfahren“ | |
Knapp drei Kilometer sind es von der Unterkunft bis zum Bahnhof | |
Hohenleipisch, wo alle zwei Stunden ein Zug die 150 Kilometer nach Berlin | |
fährt. Wir sind im südlichsten Teil von Brandenburg. | |
Ein Mann joggt hier in der Morgensonne die steile Bahnhofstreppe hoch und | |
runter, der Schweiß läuft ihm über das Gesicht. Hoch, durchatmen, runter, | |
durchatmen, hoch. Auch dieser Mann will nicht, dass sein Name öffentlich | |
wird, nennen wir ihn Jules Ngeko. Ngeko, ein großer, sportlicher Mann, war | |
Ojungés Lebensgefährte seit 2012. Kennengelernt haben sie sich in der | |
Erstaufnahmestelle Eisenhüttenstadt. Sie kam aus Kenia, er aus Kamerun, | |
beide wollten in Deutschland bleiben. Sie wurden ein Paar, bekamen zwei | |
Kinder, führten eine Fernbeziehung: Ojungé, deren Asylantrag abgelehnt | |
wurde, blieb mit den Kindern in Hohenleipisch. Ngeko, der Aufenthalt bekam | |
und arbeiten gehen durfte, zog nach Berlin. | |
Ngeko sagt, er habe Rita am 7. April angerufen, ein Sonntag, doch sie sei | |
kurz angebunden gewesen, habe gestresst geklungen. Er solle in zehn Minuten | |
wieder anrufen. Als er das versucht, wird der Anruf weggedrückt. Beim | |
nächsten Versuch ist das Handy aus. | |
Ngeko versucht immer wieder, sie zu erreichen, am Sonntag, den ganzen | |
Montag. Am Montag ruft jemand aus der Unterkunft an: Rita sei verschwunden, | |
die Kinder habe sie zurückgelassen. Dienstagmorgen nimmt Ngeko den ersten | |
Zug nach Hohenleipisch. Dort habe er seine beiden Kinder in der Obhut eines | |
Mannes getroffen, den er kennt: der Zimmernachbar von Ojungé, ein Mann aus | |
Nigeria. Rita sei nach Berlin gefahren, habe der ihm gesagt. Sie habe ihn | |
gebeten, auf die Kinder aufzupassen. Ngeko habe ihm kein Wort geglaubt. | |
„Ich wusste, dass Rita niemals ohne ihre Kinder und ihre Sachen wegfahren | |
würde.“ Sein vierjähriger Sohn habe ihm erzählt, dass der Zimmernachbar | |
Rita bedroht, geschlagen und weggeschleppt habe. | |
## Ein Zimmernachbar mit „zwei Gesichtern“ | |
Es ist nicht geklärt, wie Rita Ojungé verschwunden ist und wie sie getötet | |
wurde. Die Ermittlungen dauern an. Auch dieser Artikel kann nur Puzzleteile | |
zusammensetzen und muss dabei auf Schilderungen von Menschen zurückgreifen, | |
bei denen nicht immer klar ist, wie verwickelt sie sind. | |
Eins dieser Puzzleteile: Was war Ojungé für ein Mensch? Eine Dame sei sie | |
gewesen, sagt ihre ältere Schwester, die seit Jahren in Berlin wohnt. Sie | |
habe auf ihr Äußeres geachtet. Nie wäre sie ohne Handtasche rausgegangen. | |
Ihre Kinder seien ihr das Wichtigste gewesen. „Rita war immer sehr gut | |
organisiert“, sagt die Schwester. Dieselbe Formulierung verwendet die junge | |
Mutter aus dem Heim, die Ojungé als beste Freundin bezeichnet. Alle, die | |
Ojungé kannten und mit denen die taz spricht, sind sich einig: Rita Ojungé | |
wäre niemals einfach so verschwunden. | |
Am 9. April gibt Jules Ngeko eine Vermisstenanzeige bei der Polizei auf. Er | |
sagt den Beamten, dass er glaubt, dass die Geschichte, Rita sei nach Berlin | |
gefahren, nicht stimmen kann. Er sagt ihnen auch, dass er glaubt, Ritas | |
Zimmernachbar, dem sie angeblich die Kinder übergeben hatte, könne etwas | |
mit ihrem Verschwinden zu tun haben. | |
Ojungé und der Zimmernachbar haben eine Vorgeschichte, auch das erzählen | |
ihre Freunde und Angehörigen übereinstimmend. „Er hatte zwei Gesichter“, | |
sagt die Freundin aus dem Heim, nennen wir sie Angelina Wakaba. „Er war oft | |
aggressiv, hat getobt, und dann hat er wieder geweint, um Entschuldigung | |
gebettelt.“ Er sei Ojungé gegenüber immer wieder ausfallend geworden. | |
Einmal, im letzten Herbst, sei er völlig ausgerastet, habe ihre Sachen | |
durch die Gegend geworfen. Rita habe daraufhin der Heimleitung gesagt, sie | |
könne nicht mehr mit ihren Kindern neben diesem Mann leben, er bedrohe sie | |
immer wieder, müsse verlegt werden. „Die Heimleitung hat nichts gemacht, | |
gar nichts“, sagt Wakaba. Auf eine taz-Anfrage antwortet der Betreiber des | |
Heims, „aus datenschutzrechtlichen Gründen und auch im Hinblick auf die | |
Ermittlungsarbeit der Polizei“ werde man keine „Aussagen zu Personen und | |
eventuellen Beziehungen treffen“. | |
## Unter einem Dach mit dem Verdächtigen | |
Jules Ngeko kann die beiden Kinder nicht einfach mit nach Berlin nehmen. Zu | |
diesem Zeitpunkt hat er nur für eines von beiden das Sorgerecht. Wochenlang | |
muss er mit den Kindern in der Unterkunft wohnen, mitten im Wald, da, wo | |
der Mann lebt, den er und die Kinder verdächtigen, Rita Ojungé verschleppt, | |
vielleicht sogar ermordet zu haben. | |
Eine Woche nachdem Ngeko die Vermisstenanzeige aufgegeben hat, durchsucht | |
die Polizei das Gelände der Unterkunft, befragt einige Bewohner. Auch Ngeko | |
wird erneut vernommen. Danach hört er nichts mehr von der Polizei. | |
Polizisten tauchen bei Ojungés Schwester in Berlin auf, wollen wissen, ob | |
Ojungé dort ist. Die Tage vergehen, Rita Ojungé bleibt verschwunden. | |
Ende April wendet sich Ngeko an die Opferperspektive, einen Brandenburger | |
Verein in Potsdam, der Opfer rechter und rassistischer Gewalt berät. Die | |
Geschichte, die er erzählt, passt eigentlich nicht zum Aufgabenprofil des | |
Vereins. Doch der Fall klingt so dramatisch, dass der Verein ihn trotzdem | |
annimmt. | |
Am nächsten Tag telefoniert der Vereinsmitarbeiter Hannes Püschel mit der | |
zuständigen Polizeiinspektion und gibt weiter, was Ngeko ihm erzählt hat, | |
darunter auch eine neue Information: Der Vierjährige habe mittlerweile auch | |
erzählt, dass der Mann, der seine Mutter geschlagen habe, ihr das Handy | |
weggenommen habe. Der Berater bittet darum, dass der Junge erneut vernommen | |
wird, von einem psychologisch geschulten Beamten. Der Polizist sagt, er | |
werde das selbst machen, er habe auch Kinder und wisse, wie man mit denen | |
reden müsse. | |
## Überlastung oder Rassismus? | |
Bei einem erneuten Anruf wird Püschel an die übergeordnete Polizeidirektion | |
in Cottbus verwiesen, wo niemand zuständig sein will. Am 8. Mai, Ojungé ist | |
über einen Monat verschwunden, bittet die Opferperspektive die | |
Brandenburger Polizeiführung, die Ermittlungen zu intensivieren. Am Tag | |
darauf bekommt Püschel ein Fax der Polizeiinspektion Elbe-Elster. „Im Fall | |
des Verschwindens der Rita Ojungé ergaben sich bisher keine Hinweise auf | |
das Vorliegen einer Straftat, demzufolge wird derzeit nicht wegen des | |
Verdachtes einer Straftat ermittelt“, steht darin. Das Verfahren werde als | |
Vermisstenvorgang geführt. | |
Am 10. Mai stellt die Opferperspektive Strafanzeige bei der | |
Staatsanwaltschaft Cottbus. Am 17. Mai wird bestätigt, dass der Fall nun | |
ein Aktenzeichen habe. Weitere Nachfragen von Püschel bleiben | |
unbeantwortet. | |
Dass die Ermittlungsbehörden im südlichen Brandenburg überlastet sind, ist | |
ein offenes Geheimnis. 2015 thematisiert eine kleine Anfrage der | |
CDU-Fraktion im Landtag die Überforderung der Staatsanwaltschaft Cottbus | |
sowie der Polizeidirektion Süd. Mitte Mai wurden bei einem Doppelmord in | |
der östlich von Cottbus gelegenen Stadt Forst zwei Menschen erschossen, bei | |
denen es sich um Mitglieder einer montenegrischen Mafia gehandelt haben | |
soll, es gibt auch Spekulationen, dass einer der Männer Informant des | |
Bundeskriminalamts war. Es ist vorstellbar, dass so ein Fall viele | |
Ressourcen der Ermittlungsbehörden bindet. | |
Es ist aber auch vorstellbar, dass die Ermittlungen anders gelaufen wären, | |
wenn Ojungé eine weiße Deutsche gewesen wäre. Wenn sie nicht in der | |
Asylunterkunft mitten im Wald gelebt hätte, sondern ein paar Kilometer | |
weiter im kleinen Ort Hohenleipisch, wo es mehrere Gaststätten gibt, | |
gepflegte Vorgärten, einen Bäcker und einen Fleischer. | |
## „Keine Anhaltspunkte für eine Straftat“ | |
Wenn aus diesem Ort eine junge, deutsche, weiße Mutter verschwunden wäre | |
und ihre beiden kleinen Kinder zurückgeblieben wären, wenn sich alle | |
anderen einig gewesen wären, dass dieses Verschwinden nicht zu ihrer | |
Nachbarin passt, dann hätte es vielleicht mehr gegeben als eine knappe | |
Vermisstenmeldung der Polizei drei Wochen nach ihrem Verschwinden in der | |
Lokalzeitung. Vielleicht wäre das Bild der hübschen jungen Frau auf | |
Titelseiten von Boulevardmedien gelandet, vielleicht wäre es tausendfach | |
bei Facebook geteilt worden, vielleicht hätten freiwillige Helfer den Wald | |
durchkämmt, vielleicht hätte die Polizei Hubschrauber eingesetzt. | |
Vielleicht wäre der Fall nicht erst bekannt geworden, als die | |
Identifikation der Leiche abgeschlossen war, drei Monate nach dem | |
Verschwinden, und auch dann nur deswegen, weil die Flüchtlingsorganisation | |
Women in Exile dafür sorgte. | |
Jeden Tag werden in Deutschland Tausende Menschen als vermisst gemeldet, | |
allein in der Brandenburger Polizeidirektion Süd, die für den Landkreis | |
Elbe-Elster zuständig ist, waren es letztes Jahr mehr als 1.500. In den | |
meisten Fällen taucht die vermisste Person schon nach wenigen Tagen oder | |
Stunden wieder auf. In anderen handelt es sich um Menschen, die schon oft | |
abgehauen sind, die verwirrt sind oder psychisch krank, die gerade eine | |
schlimme Lebenskrise haben. Nichts von alldem traf auf Rita Ojungé zu, | |
sagen ihre Angehörigen und Freunde. | |
„Alle üblichen Ermittlungsschritte sind in der üblichen Reihenfolge | |
erfolgt“, sagt der zuständige Staatsanwalt der Staatsanwaltschaft Cottbus. | |
„Es gab keine Anhaltspunkte für eine Straftat oder ein Unglück“, sagt die | |
Sprecherin der Polizeidirektion Süd. Die Aussagen des vierjährigen Kindes | |
seien nicht so eindeutig gewesen wie behauptet. Bei der Durchsuchung des | |
Zimmers seien keine Blutspuren oder Ähnliches gefunden worden. | |
„Wir haben ihnen gesagt, dass Rita etwas Schlimmes passiert sein muss, und | |
sie haben nichts gemacht“, sagt die Schwester. | |
## Der Verdächtige drückt Anrufe weg | |
Außerhalb der weißen deutschen Öffentlichkeit schlägt der Fall hohe Wellen. | |
Eine kenianisch-deutsche Organisation veröffentlicht eine | |
Vermisstenmeldung, kenianische Medien zeigen Fotos von Ojungé, genauso wie | |
Websites von Organisationen der kenianischen Diaspora. Auf einem trägt sie | |
eine verspiegelte Sonnebrille und große Ohrringe, auf einem anderen reichen | |
ihre gelockten, glänzenden Haare bis über die Schultern, im Arm hält sie | |
eine Handtasche. | |
Ojungés Verwandte melden den Fall beim Auswärtigen Amt in Nairobi und | |
alarmieren die kenianische Botschaft in Deutschland. Sie beauftragen einen | |
in Nairobi lebenden Nigerianer, den Zimmernachbarn von Ojungé anzurufen, | |
den sie verdächtigen, etwas mit ihrem Verschwinden zu tun zu haben. Als die | |
Anrufe weggedrückt werden, versucht es Ojungés Mutter, die ebenfalls in | |
Nairobi lebt, selbst. „Mach dir keine Sorgen, Mama“, habe der Mann immer | |
wieder erzählt, berichtet die Familie. Rita werde zurückkommen. Er habe ihr | |
nichts getan. Hätte er auch gar nicht können, in dem Heim seien doch | |
überall Überwachungskameras. Letzteres stimmt nicht. | |
Zu den Puzzleteilen dieser Geschichte gehört, dass Nigerianer in vielen | |
Ländern keinen guten Ruf haben. Auch in Kenia nicht. Sie gelten als | |
aggressiv und kriminell. Diese Vorurteile schwingen mit, wenn Ojungés | |
Familie über den Verdächtigen spricht. | |
Der sei Anfang Mai, nachdem die Polizei noch mal da war, auf ein anderes | |
Zimmer verlegt worden, sagt Ngeko. Bis Ende Juni habe er in der Unterkunft | |
gelebt und sei dann in anderes Heim verlegt worden, erklärt der Landkreis. | |
## „Keine Gefährdung der Kinder in der Einrichtung“ | |
Es gebe in dem Fall „vage Indizien für mehrere Verdächtige“, sagt die | |
Staatsanwaltschaft Cottbus. Selbst wenn die Ermittlungsbehörden, anders als | |
Ojungés Angehörige und Freunde, nicht davon überzeugt sind, dass der | |
Zimmernachbar für den Tod verantwortlich ist: Wie kann es sein, dass er und | |
Ojungés Lebensgefährte samt Kind monatelang am gleichen Ort leben müssen? | |
„Bestehende Ängste um die Kinder in der Asylunterkunft bezüglich eines | |
dortigen Mitbewohners wurden durch [Name des Vaters] gegenüber der Polizei | |
geäußert“, steht in dem Fax der örtlichen Polizeibehörde vom 9. Mai. Den | |
Kindern gegenüber sei dieser jedoch in der Vergangenheit nicht aggressiv | |
aufgetreten, auch seitens des Jugendamts seien keine Bedenken geäußert | |
worden. Außerdem seien die Kinder „bereits im Vorfeld auch durch den | |
Betreffenden betreut“ worden. „Insofern ergeben sich keine tatsächlichen | |
Hinweise auf eine Gefährdung der Kinder in der Einrichtung.“ | |
Es stimme, sagt Angelina Wakaba, die Freundin von Ojungé, dass der Mann | |
manchmal auf die Kinder aufgepasst habe. „Er hatte zwei Gesichter“, sagt | |
sie noch einmal. Sie habe gehört, dass die Polizei denken würde, die beiden | |
hätten eine Affäre gehabt. Das stimme nicht: Der Mann hätte gern eine | |
Beziehung mit Ojungé gehabt, doch die habe das nicht gewollt, ihn | |
abgewiesen. Genau darum sei es bei den Auseinandersetzungen oft gegangen. | |
„Dschungelheim“ werden Asylunterkünfte, die isoliert mitten im Wald liegen, | |
unter Flüchtlingen genannt. Das Heim in Hohenleipisch nennen viele der | |
Bewohner einfach nur „Dschungel“. Keiner will im Dschungel leben. Wer kann, | |
ist so viel wie möglich in Berlin. Manche können nicht, weil sie kleine | |
Kinder haben oder keinen Platz in Berlin, an dem sie unterkommen können. | |
Einmal die Stunde fährt der Bus vorbei, mit dem man zum Bahnhof fahren | |
kann, von dem alle zwei Stunden ein Zug nach Berlin fährt: montags bis | |
freitags bis 18 Uhr. Am Wochenende fährt kein Bus. Mitte Mai hat jemand | |
„Schlachtabfälle eines Schweins“ vor dem Eingang der Unterkunft abgeladen, | |
heißt es in einer entsprechenden Polizeimeldung. | |
## Demonstrationen gegen das Dschungelheim | |
In Hohenleipisch leben fast nur Menschen „ohne Bleibeperspektive“. Die | |
meisten von ihnen wohnen jahrelang in diesem Heim. „Wenn du in Deutschland | |
bleiben willst, brauchst du einen Plan, du brauchst hier für alles | |
Papiere“, habe sie Ojungé nach ihrer Ankunft gesagt, erzählt die ältere | |
Schwester. Zuerst sah es gut aus: Ojungé arbeitete ein Jahr als Au-pair in | |
Hannover, danach half ihr die Schwester, sich auf ein Freiwilliges Soziales | |
Jahr in einem Altersheim zu bewerben. Dann passierte etwas in Ojungés | |
Leben, von dem die Schwester nicht weiß, was es ist, oder nicht darüber | |
sprechen möchte. Jedenfalls bricht Ojungé das FSJ ab, ihr Asylantrag wird | |
abgelehnt, sie landet in Hohenleipisch. Im Dschungelheim. | |
2011 gibt es eine Demonstration in Herzberg, wo die Ausländerbehörde | |
Elbe-Elster sitzt. „We demand immediate closure of the Heim“, steht auf | |
einem Pappschild, dass einer der protestierenden Flüchtlinge hoch hält. Es | |
geht um die Unterkunft Hohenleipisch, schon damals wird für ihre | |
Schließung demonstriert. | |
Mehrere Brandenburger Flüchtlingsorganisationen fordern die Schließung des | |
Heims in Hohenleipisch. Das könne „nicht nachvollzogen werden“, sagt der | |
Landkreissprecher Torsten Hoffgaard. Das Gelände sei „für die Unterbringung | |
von Asylbewerbern grundsätzlich geeignet“. Auch andere Menschen im | |
Landkreis Elbe-Elster seien in der Situation, dass der Bus an ihrem Wohnort | |
nicht am Wochenende fahre. | |
Andere Menschen in Elbe-Elster dürfen zumindest in ihren eigenen vier | |
Wänden wohnen, arbeiten, Geld verdienen und in ihrer Nachbarschaft Menschen | |
kennenlernen, die ihre Sprache sprechen. | |
## Unwürdige Bedingungen und drei Arbeitsplätze | |
122 Menschen leben in der Unterkunft. Die Bewohner haben am 17. Juli einen | |
offenen Brief veröffentlicht. Sie schildern, wie schlecht das Heim | |
angebunden ist, dass die Kinder keine Möglichkeit haben, an Sport oder | |
anderen Aktivitäten teilzunehmen oder Freunde zu besuchen. Zum Fall Ojungé | |
schreiben sie: „Wir alle haben sehr viel Angst, hier zu leben, da es auch | |
möglich ist, dass ihr Mörder unter uns im Heim lebt.“ | |
Die drei in der Unterkunft tätigen Sozialarbeiter würden denken, die | |
Probleme seien gelöst, weil jetzt ein Zaun um das Heim gebaut wurde. „Sie | |
unternehmen alles, damit wir uns wegen unserer Probleme nicht beschweren, | |
damit das Heim nicht geschlossen wird und sie ihre Arbeit nicht verlieren“, | |
heißt es in dem offenen Brief, und weiter: „Wir wollen, dass uns geholfen | |
wird, von diesem schrecklichen Ort wegzuziehen. Keiner von uns braucht | |
riesige Wohnungen im Zentrum der Stadt. Wir wollen einfach nur weg von | |
hier.“ | |
Der Betrieb des Heims ist neu ausgeschrieben. Der Landkreis will am | |
jetzigen Träger festhalten, der niedersächsischen Firma Human Care GmbH, | |
die mehr als 100 Flüchtlingsunterkünfte in mehreren Bundesländern betreibt | |
und sich erneut beworben hat. | |
Nachdem der offene Brief von mehreren Medien aufgegriffen wird, gibt es | |
wenige Tage später einen Pressetermin für ausgewählte Journalisten. Sauber | |
geputzte Küchen und Bäder werden gezeigt. Dann gibt es einen | |
unangekündigten Besuch im Zimmer eines Bewohners, wo laut späterer Berichte | |
ein Teller mit Essensresten auf dem Tisch gestanden habe. Tenor der extra | |
angereisten Geschäftsführerin der Human Care GmbH: Wenn die Bewohner nicht | |
Ordnung halten können, sind sie selbst schuld. Auch den Vorwurf, es gebe | |
nicht genügend Freizeitaktivitäten, weist sie zurück, diese würden kaum | |
wahrgenommen werden. „Man muss sie wirklich zu ihrem Glück zwingen“, wird | |
sie im rbb zitiert und erklärt: Von Angst spüre sie bei den Bewohnern | |
nichts. | |
## Mensch zweiter Klasse – auch wenn man tot ist | |
Wer das Heim nicht im Rahmen eines Pressetermins besucht, bekommt einen | |
anderen Eindruck. Jeder hier sagt, dass er Angst habe, dass er wegwill. | |
Handyvideos, die der taz vorliegen, zeigen Kakerlakenbefall in Duschräumen | |
und Zimmern, Schimmel an der Wand und Ungeziefer in Fluren. | |
Angelina Wakaba erzählt, dass die Bewohner nicht aufgeklärt wurden, nachdem | |
die Leiche identifiziert worden sei. Jules Ngeko habe es nur erfahren, weil | |
er nachgefragt habe. Später seien die Bewohner informiert worden, dass sie | |
Beratung in Anspruch nehmen könnten. „Eine Beratung, für die einmal jemand | |
kommt, der dann nie wieder da ist, das hilft uns nicht“, sagt Wakaba. | |
Jeden Tag würden die Verwandten aus Kenia anrufen und fragen, ob der Mann | |
endlich festgenommen sei, sagt Ojungés Schwester. Sie versuche ihnen zu | |
erklären, dass das deutsche System anders funktioniere, dass hier nicht am | |
Anfang, sondern erst am Ende von Ermittlungen Menschen festgenommen werden. | |
„Aber eigentlich kann ich es nicht erklären, weil ich es selbst nicht | |
verstehe“, sagt sie. Wenn sie schildert, wie sie versucht, die deutschen | |
Ermittlungsbehörden zu verteidigen, muss sie lachen. Aber gleich darauf | |
wird sie wieder ernst, leise: „Es ist alles zu spät“, sagt sie. „Rita ist | |
nicht mehr da, und alles ist kaputt.“ | |
Wäre diese Geschichte anders verlaufen, wenn Ojungé eine weiße Deutsche aus | |
dem Dorf gewesen wäre? Es gibt keine direkte Vergleichsmöglichkeit, anders | |
als damals, 2015, als zwei kleine Jungen verschwanden. Der kleine Elias und | |
der kleine Mohamed, von denen man später wissen wird, dass sie von | |
demselben Mann umgebracht wurden. „Nach dem deutschen Elias sucht die | |
Polizei mit 1.800 Leuten, beim Flüchtlingsjungen Mohamed wird vorrangig die | |
Familie verdächtigt“, fasste Der Spiegel die Ereignisse zusammen. | |
Der offene Brief der Bewohner der Unterkunft Hohenleipisch endet mit vielen | |
Fragen. „Wie können Menschen sich integrieren, wenn sie 24 Stunden am Tag | |
im Wald sind?“, ist eine davon. Und: „Warum wirst du als Mensch zweiter | |
Klasse behandelt, wenn du aus einem anderen Land kommst?“ Für Rita Ojungé, | |
sagt Angelina Wakaba, habe das auch nach ihrem Tod noch gegolten. | |
7 Aug 2019 | |
## AUTOREN | |
Malene Gürgen | |
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