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# taz.de -- Aufklärung eines Mordes: Tod im Dschungelheim
> Eine Frau verschwindet in Brandenburg. Ihr Skelett wird zwei Monate
> später gefunden. Haben die Behörden so lange gebraucht, weil sie keine
> Weiße war?
Bild: Erst zwei Monate nach ihrem Verschwinden wird die junge Frau tot im Wald …
Berlin und Hohenleipisch taz | Es ist still in der Asylunterkunft
Hohenleipisch. Nur wenige Menschen sind auf dem weitläufigen Gelände
zwischen den ehemaligen Militärkasernen unterwegs. Kienäpfel knacken unter
den Füßen, es riecht nach Harz und warmem Waldboden. Zwei Männer sitzen auf
einer Bank, ohne sich zu unterhalten. Obwohl es noch nicht Mittag ist, hat
sich die Hitze schon ausgebreitet, die Hitze und die Stille. Und die Angst.
„Wir fürchten uns alle“, sagt eine junge Frau, die ihr kleines Kind auf dem
Arm hält. Ihr Name solle nicht in der Zeitung stehen, sagt sie, so wie
viele weitere Menschen, die in diesem Text vorkommen werden. „Wir wissen
nicht, was passiert ist und ob es wieder passieren wird. Es war hier vorher
schon schlimm, aber es ist alles noch viel schlimmer geworden, seit Rita
weg ist.“
Rita Awour Ojungé verschwand am 7. April aus der Asylunterkunft
Hohenleipisch. Die Unterkunft liegt mitten im Wald an einer wenig
befahrenen Landstraße. Weil die 32-Jährige weder ihre beiden kleinen Kinder
noch eine Tasche, persönliche Gegenstände, Kleidung oder ihre Bankkarte
mitgenommen hatte, befürchteten ihre Freunde und Angehörigen sofort ein
Verbrechen. Als die Polizei zum ersten Mal den Wald um die Unterkunft herum
durchsucht, findet sie Überreste eines menschlichen Skeletts. Es ist das
von Ojungé. Ihr Verschwinden ist zu diesem Zeitpunkt bereits mehr als zwei
Monate her.
Es dauert zwei Wochen, bis die gefundenen Skelettreste identifiziert sind.
Ein Schädel, Knochen, Brandspuren. „Warum hat man sie erst so spät
gefunden?“, fragt die junge Frau mit dem Kind auf dem Arm.
## „Rita würde niemals ohne ihre Sachen wegfahren“
Knapp drei Kilometer sind es von der Unterkunft bis zum Bahnhof
Hohenleipisch, wo alle zwei Stunden ein Zug die 150 Kilometer nach Berlin
fährt. Wir sind im südlichsten Teil von Brandenburg.
Ein Mann joggt hier in der Morgensonne die steile Bahnhofstreppe hoch und
runter, der Schweiß läuft ihm über das Gesicht. Hoch, durchatmen, runter,
durchatmen, hoch. Auch dieser Mann will nicht, dass sein Name öffentlich
wird, nennen wir ihn Jules Ngeko. Ngeko, ein großer, sportlicher Mann, war
Ojungés Lebensgefährte seit 2012. Kennengelernt haben sie sich in der
Erstaufnahmestelle Eisenhüttenstadt. Sie kam aus Kenia, er aus Kamerun,
beide wollten in Deutschland bleiben. Sie wurden ein Paar, bekamen zwei
Kinder, führten eine Fernbeziehung: Ojungé, deren Asylantrag abgelehnt
wurde, blieb mit den Kindern in Hohenleipisch. Ngeko, der Aufenthalt bekam
und arbeiten gehen durfte, zog nach Berlin.
Ngeko sagt, er habe Rita am 7. April angerufen, ein Sonntag, doch sie sei
kurz angebunden gewesen, habe gestresst geklungen. Er solle in zehn Minuten
wieder anrufen. Als er das versucht, wird der Anruf weggedrückt. Beim
nächsten Versuch ist das Handy aus.
Ngeko versucht immer wieder, sie zu erreichen, am Sonntag, den ganzen
Montag. Am Montag ruft jemand aus der Unterkunft an: Rita sei verschwunden,
die Kinder habe sie zurückgelassen. Dienstagmorgen nimmt Ngeko den ersten
Zug nach Hohenleipisch. Dort habe er seine beiden Kinder in der Obhut eines
Mannes getroffen, den er kennt: der Zimmernachbar von Ojungé, ein Mann aus
Nigeria. Rita sei nach Berlin gefahren, habe der ihm gesagt. Sie habe ihn
gebeten, auf die Kinder aufzupassen. Ngeko habe ihm kein Wort geglaubt.
„Ich wusste, dass Rita niemals ohne ihre Kinder und ihre Sachen wegfahren
würde.“ Sein vierjähriger Sohn habe ihm erzählt, dass der Zimmernachbar
Rita bedroht, geschlagen und weggeschleppt habe.
## Ein Zimmernachbar mit „zwei Gesichtern“
Es ist nicht geklärt, wie Rita Ojungé verschwunden ist und wie sie getötet
wurde. Die Ermittlungen dauern an. Auch dieser Artikel kann nur Puzzleteile
zusammensetzen und muss dabei auf Schilderungen von Menschen zurückgreifen,
bei denen nicht immer klar ist, wie verwickelt sie sind.
Eins dieser Puzzleteile: Was war Ojungé für ein Mensch? Eine Dame sei sie
gewesen, sagt ihre ältere Schwester, die seit Jahren in Berlin wohnt. Sie
habe auf ihr Äußeres geachtet. Nie wäre sie ohne Handtasche rausgegangen.
Ihre Kinder seien ihr das Wichtigste gewesen. „Rita war immer sehr gut
organisiert“, sagt die Schwester. Dieselbe Formulierung verwendet die junge
Mutter aus dem Heim, die Ojungé als beste Freundin bezeichnet. Alle, die
Ojungé kannten und mit denen die taz spricht, sind sich einig: Rita Ojungé
wäre niemals einfach so verschwunden.
Am 9. April gibt Jules Ngeko eine Vermisstenanzeige bei der Polizei auf. Er
sagt den Beamten, dass er glaubt, dass die Geschichte, Rita sei nach Berlin
gefahren, nicht stimmen kann. Er sagt ihnen auch, dass er glaubt, Ritas
Zimmernachbar, dem sie angeblich die Kinder übergeben hatte, könne etwas
mit ihrem Verschwinden zu tun haben.
Ojungé und der Zimmernachbar haben eine Vorgeschichte, auch das erzählen
ihre Freunde und Angehörigen übereinstimmend. „Er hatte zwei Gesichter“,
sagt die Freundin aus dem Heim, nennen wir sie Angelina Wakaba. „Er war oft
aggressiv, hat getobt, und dann hat er wieder geweint, um Entschuldigung
gebettelt.“ Er sei Ojungé gegenüber immer wieder ausfallend geworden.
Einmal, im letzten Herbst, sei er völlig ausgerastet, habe ihre Sachen
durch die Gegend geworfen. Rita habe daraufhin der Heimleitung gesagt, sie
könne nicht mehr mit ihren Kindern neben diesem Mann leben, er bedrohe sie
immer wieder, müsse verlegt werden. „Die Heimleitung hat nichts gemacht,
gar nichts“, sagt Wakaba. Auf eine taz-Anfrage antwortet der Betreiber des
Heims, „aus datenschutzrechtlichen Gründen und auch im Hinblick auf die
Ermittlungsarbeit der Polizei“ werde man keine „Aussagen zu Personen und
eventuellen Beziehungen treffen“.
## Unter einem Dach mit dem Verdächtigen
Jules Ngeko kann die beiden Kinder nicht einfach mit nach Berlin nehmen. Zu
diesem Zeitpunkt hat er nur für eines von beiden das Sorgerecht. Wochenlang
muss er mit den Kindern in der Unterkunft wohnen, mitten im Wald, da, wo
der Mann lebt, den er und die Kinder verdächtigen, Rita Ojungé verschleppt,
vielleicht sogar ermordet zu haben.
Eine Woche nachdem Ngeko die Vermisstenanzeige aufgegeben hat, durchsucht
die Polizei das Gelände der Unterkunft, befragt einige Bewohner. Auch Ngeko
wird erneut vernommen. Danach hört er nichts mehr von der Polizei.
Polizisten tauchen bei Ojungés Schwester in Berlin auf, wollen wissen, ob
Ojungé dort ist. Die Tage vergehen, Rita Ojungé bleibt verschwunden.
Ende April wendet sich Ngeko an die Opferperspektive, einen Brandenburger
Verein in Potsdam, der Opfer rechter und rassistischer Gewalt berät. Die
Geschichte, die er erzählt, passt eigentlich nicht zum Aufgabenprofil des
Vereins. Doch der Fall klingt so dramatisch, dass der Verein ihn trotzdem
annimmt.
Am nächsten Tag telefoniert der Vereinsmitarbeiter Hannes Püschel mit der
zuständigen Polizeiinspektion und gibt weiter, was Ngeko ihm erzählt hat,
darunter auch eine neue Information: Der Vierjährige habe mittlerweile auch
erzählt, dass der Mann, der seine Mutter geschlagen habe, ihr das Handy
weggenommen habe. Der Berater bittet darum, dass der Junge erneut vernommen
wird, von einem psychologisch geschulten Beamten. Der Polizist sagt, er
werde das selbst machen, er habe auch Kinder und wisse, wie man mit denen
reden müsse.
## Überlastung oder Rassismus?
Bei einem erneuten Anruf wird Püschel an die übergeordnete Polizeidirektion
in Cottbus verwiesen, wo niemand zuständig sein will. Am 8. Mai, Ojungé ist
über einen Monat verschwunden, bittet die Opferperspektive die
Brandenburger Polizeiführung, die Ermittlungen zu intensivieren. Am Tag
darauf bekommt Püschel ein Fax der Polizeiinspektion Elbe-Elster. „Im Fall
des Verschwindens der Rita Ojungé ergaben sich bisher keine Hinweise auf
das Vorliegen einer Straftat, demzufolge wird derzeit nicht wegen des
Verdachtes einer Straftat ermittelt“, steht darin. Das Verfahren werde als
Vermisstenvorgang geführt.
Am 10. Mai stellt die Opferperspektive Strafanzeige bei der
Staatsanwaltschaft Cottbus. Am 17. Mai wird bestätigt, dass der Fall nun
ein Aktenzeichen habe. Weitere Nachfragen von Püschel bleiben
unbeantwortet.
Dass die Ermittlungsbehörden im südlichen Brandenburg überlastet sind, ist
ein offenes Geheimnis. 2015 thematisiert eine kleine Anfrage der
CDU-Fraktion im Landtag die Überforderung der Staatsanwaltschaft Cottbus
sowie der Polizeidirektion Süd. Mitte Mai wurden bei einem Doppelmord in
der östlich von Cottbus gelegenen Stadt Forst zwei Menschen erschossen, bei
denen es sich um Mitglieder einer montenegrischen Mafia gehandelt haben
soll, es gibt auch Spekulationen, dass einer der Männer Informant des
Bundeskriminalamts war. Es ist vorstellbar, dass so ein Fall viele
Ressourcen der Ermittlungsbehörden bindet.
Es ist aber auch vorstellbar, dass die Ermittlungen anders gelaufen wären,
wenn Ojungé eine weiße Deutsche gewesen wäre. Wenn sie nicht in der
Asylunterkunft mitten im Wald gelebt hätte, sondern ein paar Kilometer
weiter im kleinen Ort Hohenleipisch, wo es mehrere Gaststätten gibt,
gepflegte Vorgärten, einen Bäcker und einen Fleischer.
## „Keine Anhaltspunkte für eine Straftat“
Wenn aus diesem Ort eine junge, deutsche, weiße Mutter verschwunden wäre
und ihre beiden kleinen Kinder zurückgeblieben wären, wenn sich alle
anderen einig gewesen wären, dass dieses Verschwinden nicht zu ihrer
Nachbarin passt, dann hätte es vielleicht mehr gegeben als eine knappe
Vermisstenmeldung der Polizei drei Wochen nach ihrem Verschwinden in der
Lokalzeitung. Vielleicht wäre das Bild der hübschen jungen Frau auf
Titelseiten von Boulevardmedien gelandet, vielleicht wäre es tausendfach
bei Facebook geteilt worden, vielleicht hätten freiwillige Helfer den Wald
durchkämmt, vielleicht hätte die Polizei Hubschrauber eingesetzt.
Vielleicht wäre der Fall nicht erst bekannt geworden, als die
Identifikation der Leiche abgeschlossen war, drei Monate nach dem
Verschwinden, und auch dann nur deswegen, weil die Flüchtlingsorganisation
Women in Exile dafür sorgte.
Jeden Tag werden in Deutschland Tausende Menschen als vermisst gemeldet,
allein in der Brandenburger Polizeidirektion Süd, die für den Landkreis
Elbe-Elster zuständig ist, waren es letztes Jahr mehr als 1.500. In den
meisten Fällen taucht die vermisste Person schon nach wenigen Tagen oder
Stunden wieder auf. In anderen handelt es sich um Menschen, die schon oft
abgehauen sind, die verwirrt sind oder psychisch krank, die gerade eine
schlimme Lebenskrise haben. Nichts von alldem traf auf Rita Ojungé zu,
sagen ihre Angehörigen und Freunde.
„Alle üblichen Ermittlungsschritte sind in der üblichen Reihenfolge
erfolgt“, sagt der zuständige Staatsanwalt der Staatsanwaltschaft Cottbus.
„Es gab keine Anhaltspunkte für eine Straftat oder ein Unglück“, sagt die
Sprecherin der Polizeidirektion Süd. Die Aussagen des vierjährigen Kindes
seien nicht so eindeutig gewesen wie behauptet. Bei der Durchsuchung des
Zimmers seien keine Blutspuren oder Ähnliches gefunden worden.
„Wir haben ihnen gesagt, dass Rita etwas Schlimmes passiert sein muss, und
sie haben nichts gemacht“, sagt die Schwester.
## Der Verdächtige drückt Anrufe weg
Außerhalb der weißen deutschen Öffentlichkeit schlägt der Fall hohe Wellen.
Eine kenianisch-deutsche Organisation veröffentlicht eine
Vermisstenmeldung, kenianische Medien zeigen Fotos von Ojungé, genauso wie
Websites von Organisationen der kenianischen Diaspora. Auf einem trägt sie
eine verspiegelte Sonnebrille und große Ohrringe, auf einem anderen reichen
ihre gelockten, glänzenden Haare bis über die Schultern, im Arm hält sie
eine Handtasche.
Ojungés Verwandte melden den Fall beim Auswärtigen Amt in Nairobi und
alarmieren die kenianische Botschaft in Deutschland. Sie beauftragen einen
in Nairobi lebenden Nigerianer, den Zimmernachbarn von Ojungé anzurufen,
den sie verdächtigen, etwas mit ihrem Verschwinden zu tun zu haben. Als die
Anrufe weggedrückt werden, versucht es Ojungés Mutter, die ebenfalls in
Nairobi lebt, selbst. „Mach dir keine Sorgen, Mama“, habe der Mann immer
wieder erzählt, berichtet die Familie. Rita werde zurückkommen. Er habe ihr
nichts getan. Hätte er auch gar nicht können, in dem Heim seien doch
überall Überwachungskameras. Letzteres stimmt nicht.
Zu den Puzzleteilen dieser Geschichte gehört, dass Nigerianer in vielen
Ländern keinen guten Ruf haben. Auch in Kenia nicht. Sie gelten als
aggressiv und kriminell. Diese Vorurteile schwingen mit, wenn Ojungés
Familie über den Verdächtigen spricht.
Der sei Anfang Mai, nachdem die Polizei noch mal da war, auf ein anderes
Zimmer verlegt worden, sagt Ngeko. Bis Ende Juni habe er in der Unterkunft
gelebt und sei dann in anderes Heim verlegt worden, erklärt der Landkreis.
## „Keine Gefährdung der Kinder in der Einrichtung“
Es gebe in dem Fall „vage Indizien für mehrere Verdächtige“, sagt die
Staatsanwaltschaft Cottbus. Selbst wenn die Ermittlungsbehörden, anders als
Ojungés Angehörige und Freunde, nicht davon überzeugt sind, dass der
Zimmernachbar für den Tod verantwortlich ist: Wie kann es sein, dass er und
Ojungés Lebensgefährte samt Kind monatelang am gleichen Ort leben müssen?
„Bestehende Ängste um die Kinder in der Asylunterkunft bezüglich eines
dortigen Mitbewohners wurden durch [Name des Vaters] gegenüber der Polizei
geäußert“, steht in dem Fax der örtlichen Polizeibehörde vom 9. Mai. Den
Kindern gegenüber sei dieser jedoch in der Vergangenheit nicht aggressiv
aufgetreten, auch seitens des Jugendamts seien keine Bedenken geäußert
worden. Außerdem seien die Kinder „bereits im Vorfeld auch durch den
Betreffenden betreut“ worden. „Insofern ergeben sich keine tatsächlichen
Hinweise auf eine Gefährdung der Kinder in der Einrichtung.“
Es stimme, sagt Angelina Wakaba, die Freundin von Ojungé, dass der Mann
manchmal auf die Kinder aufgepasst habe. „Er hatte zwei Gesichter“, sagt
sie noch einmal. Sie habe gehört, dass die Polizei denken würde, die beiden
hätten eine Affäre gehabt. Das stimme nicht: Der Mann hätte gern eine
Beziehung mit Ojungé gehabt, doch die habe das nicht gewollt, ihn
abgewiesen. Genau darum sei es bei den Auseinandersetzungen oft gegangen.
„Dschungelheim“ werden Asylunterkünfte, die isoliert mitten im Wald liegen,
unter Flüchtlingen genannt. Das Heim in Hohenleipisch nennen viele der
Bewohner einfach nur „Dschungel“. Keiner will im Dschungel leben. Wer kann,
ist so viel wie möglich in Berlin. Manche können nicht, weil sie kleine
Kinder haben oder keinen Platz in Berlin, an dem sie unterkommen können.
Einmal die Stunde fährt der Bus vorbei, mit dem man zum Bahnhof fahren
kann, von dem alle zwei Stunden ein Zug nach Berlin fährt: montags bis
freitags bis 18 Uhr. Am Wochenende fährt kein Bus. Mitte Mai hat jemand
„Schlachtabfälle eines Schweins“ vor dem Eingang der Unterkunft abgeladen,
heißt es in einer entsprechenden Polizeimeldung.
## Demonstrationen gegen das Dschungelheim
In Hohenleipisch leben fast nur Menschen „ohne Bleibeperspektive“. Die
meisten von ihnen wohnen jahrelang in diesem Heim. „Wenn du in Deutschland
bleiben willst, brauchst du einen Plan, du brauchst hier für alles
Papiere“, habe sie Ojungé nach ihrer Ankunft gesagt, erzählt die ältere
Schwester. Zuerst sah es gut aus: Ojungé arbeitete ein Jahr als Au-pair in
Hannover, danach half ihr die Schwester, sich auf ein Freiwilliges Soziales
Jahr in einem Altersheim zu bewerben. Dann passierte etwas in Ojungés
Leben, von dem die Schwester nicht weiß, was es ist, oder nicht darüber
sprechen möchte. Jedenfalls bricht Ojungé das FSJ ab, ihr Asylantrag wird
abgelehnt, sie landet in Hohenleipisch. Im Dschungelheim.
2011 gibt es eine Demonstration in Herzberg, wo die Ausländerbehörde
Elbe-Elster sitzt. „We demand immediate closure of the Heim“, steht auf
einem Pappschild, dass einer der protestierenden Flüchtlinge hoch hält. Es
geht um die Unterkunft Hohenleipisch, schon damals wird für ihre
Schließung demonstriert.
Mehrere Brandenburger Flüchtlingsorganisationen fordern die Schließung des
Heims in Hohenleipisch. Das könne „nicht nachvollzogen werden“, sagt der
Landkreissprecher Torsten Hoffgaard. Das Gelände sei „für die Unterbringung
von Asylbewerbern grundsätzlich geeignet“. Auch andere Menschen im
Landkreis Elbe-Elster seien in der Situation, dass der Bus an ihrem Wohnort
nicht am Wochenende fahre.
Andere Menschen in Elbe-Elster dürfen zumindest in ihren eigenen vier
Wänden wohnen, arbeiten, Geld verdienen und in ihrer Nachbarschaft Menschen
kennenlernen, die ihre Sprache sprechen.
## Unwürdige Bedingungen und drei Arbeitsplätze
122 Menschen leben in der Unterkunft. Die Bewohner haben am 17. Juli einen
offenen Brief veröffentlicht. Sie schildern, wie schlecht das Heim
angebunden ist, dass die Kinder keine Möglichkeit haben, an Sport oder
anderen Aktivitäten teilzunehmen oder Freunde zu besuchen. Zum Fall Ojungé
schreiben sie: „Wir alle haben sehr viel Angst, hier zu leben, da es auch
möglich ist, dass ihr Mörder unter uns im Heim lebt.“
Die drei in der Unterkunft tätigen Sozialarbeiter würden denken, die
Probleme seien gelöst, weil jetzt ein Zaun um das Heim gebaut wurde. „Sie
unternehmen alles, damit wir uns wegen unserer Probleme nicht beschweren,
damit das Heim nicht geschlossen wird und sie ihre Arbeit nicht verlieren“,
heißt es in dem offenen Brief, und weiter: „Wir wollen, dass uns geholfen
wird, von diesem schrecklichen Ort wegzuziehen. Keiner von uns braucht
riesige Wohnungen im Zentrum der Stadt. Wir wollen einfach nur weg von
hier.“
Der Betrieb des Heims ist neu ausgeschrieben. Der Landkreis will am
jetzigen Träger festhalten, der niedersächsischen Firma Human Care GmbH,
die mehr als 100 Flüchtlingsunterkünfte in mehreren Bundesländern betreibt
und sich erneut beworben hat.
Nachdem der offene Brief von mehreren Medien aufgegriffen wird, gibt es
wenige Tage später einen Pressetermin für ausgewählte Journalisten. Sauber
geputzte Küchen und Bäder werden gezeigt. Dann gibt es einen
unangekündigten Besuch im Zimmer eines Bewohners, wo laut späterer Berichte
ein Teller mit Essensresten auf dem Tisch gestanden habe. Tenor der extra
angereisten Geschäftsführerin der Human Care GmbH: Wenn die Bewohner nicht
Ordnung halten können, sind sie selbst schuld. Auch den Vorwurf, es gebe
nicht genügend Freizeitaktivitäten, weist sie zurück, diese würden kaum
wahrgenommen werden. „Man muss sie wirklich zu ihrem Glück zwingen“, wird
sie im rbb zitiert und erklärt: Von Angst spüre sie bei den Bewohnern
nichts.
## Mensch zweiter Klasse – auch wenn man tot ist
Wer das Heim nicht im Rahmen eines Pressetermins besucht, bekommt einen
anderen Eindruck. Jeder hier sagt, dass er Angst habe, dass er wegwill.
Handyvideos, die der taz vorliegen, zeigen Kakerlakenbefall in Duschräumen
und Zimmern, Schimmel an der Wand und Ungeziefer in Fluren.
Angelina Wakaba erzählt, dass die Bewohner nicht aufgeklärt wurden, nachdem
die Leiche identifiziert worden sei. Jules Ngeko habe es nur erfahren, weil
er nachgefragt habe. Später seien die Bewohner informiert worden, dass sie
Beratung in Anspruch nehmen könnten. „Eine Beratung, für die einmal jemand
kommt, der dann nie wieder da ist, das hilft uns nicht“, sagt Wakaba.
Jeden Tag würden die Verwandten aus Kenia anrufen und fragen, ob der Mann
endlich festgenommen sei, sagt Ojungés Schwester. Sie versuche ihnen zu
erklären, dass das deutsche System anders funktioniere, dass hier nicht am
Anfang, sondern erst am Ende von Ermittlungen Menschen festgenommen werden.
„Aber eigentlich kann ich es nicht erklären, weil ich es selbst nicht
verstehe“, sagt sie. Wenn sie schildert, wie sie versucht, die deutschen
Ermittlungsbehörden zu verteidigen, muss sie lachen. Aber gleich darauf
wird sie wieder ernst, leise: „Es ist alles zu spät“, sagt sie. „Rita ist
nicht mehr da, und alles ist kaputt.“
Wäre diese Geschichte anders verlaufen, wenn Ojungé eine weiße Deutsche aus
dem Dorf gewesen wäre? Es gibt keine direkte Vergleichsmöglichkeit, anders
als damals, 2015, als zwei kleine Jungen verschwanden. Der kleine Elias und
der kleine Mohamed, von denen man später wissen wird, dass sie von
demselben Mann umgebracht wurden. „Nach dem deutschen Elias sucht die
Polizei mit 1.800 Leuten, beim Flüchtlingsjungen Mohamed wird vorrangig die
Familie verdächtigt“, fasste Der Spiegel die Ereignisse zusammen.
Der offene Brief der Bewohner der Unterkunft Hohenleipisch endet mit vielen
Fragen. „Wie können Menschen sich integrieren, wenn sie 24 Stunden am Tag
im Wald sind?“, ist eine davon. Und: „Warum wirst du als Mensch zweiter
Klasse behandelt, wenn du aus einem anderen Land kommst?“ Für Rita Ojungé,
sagt Angelina Wakaba, habe das auch nach ihrem Tod noch gegolten.
7 Aug 2019
## AUTOREN
Malene Gürgen
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Lesestück Recherche und Reportage
Schwerpunkt Rassismus
Mord
Kenia
Brandenburg
Unterbringung von Geflüchteten
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Eritreer
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