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# taz.de -- Sexualpädagogin über junge Geflüchtete: „Sie haben viele Frage…
> Nora Dilling hat geflüchtete Jugendliche in Sexualkunde unterrichtet. Ein
> Gespräch über kulturelle Codes, Selbstbefriedigung und sexuelle
> Identität.
Bild: Versucht, eine Lücke im Bildungssystem zu schließen: Nora Dilling
taz: Frau Dilling, Sie haben in Bremen mit geflüchteten Jugendlichen
sexualpädagogisch gearbeitet und dafür einen Preis gewonnen. Wie kamen Sie
darauf?
Nora Dilling: Ich habe während meines Studiums der angewandten
Sexualwissenschaft in einer Unterkunft für minderjährige männliche
Geflüchtete gearbeitet. Die wussten, was ich studiere und haben mir viele
Fragen gestellt. Dabei wurde mir klar, dass die Geflüchteten in eine Lücke
fallen.
Inwiefern?
Über Sexualität und sexuelle Identität soll in allen Klassenstufen
aufgeklärt werden, das ist ein Bildungsrecht von Kindern und Jugendlichen.
Aber in den Vorklassen, die auf den Unterricht in den Regelklassen
vorbereiten sollen, gilt das nicht. Dabei sind diese Jugendlichen genau so
Menschen mit sexuellen Bedürfnissen und haben viele Fragen.
Welche waren das?
In der Unterkunft ging es viel um Verhütungsmittel: Wo gibt es die, was
kosten die? Aber auch: Wie gehe ich auf Menschen zu, an denen ich ein
sexuelles Interesse habe? Da gibt es zum Teil unterschiedliche kulturelle
Codes, mit denen das signalisiert wird, oder sie werden anders gelesen.
Zum Beispiel?
Dieses Schnalzen oder Pfeifen, das es in vielen Ländern gibt, das ist dort
nicht unbedingt flirty konnotiert, sondern kann auch bedeuten: „Hallo, hier
bin ich.“ Hier wird das aber oft als sexuelle Anmache bewertet.
Welchen Fragen gab es noch?
In der Unterkunft gab es einen jungen Mann aus Somalia, der seine Freundin
auf der Flucht kennengelernt hatte. Sie kam ebenfalls aus Somalia und hatte
wie fast alle Frauen aus dem Land ein beschnittenes Genital. Hier hatte er
Zugang zu Pornos und gemerkt, dass seine Freundin anders aussieht. Das war
ein großes Thema für ihn.
Erstaunlich, dass er so offen mit Ihnen darüber gesprochen hat.
Finde ich nicht. Ich habe eine emanzipatorische Haltung zur Sexualität und
ich glaube, das strahle ich aus. Weil ich nicht bewerte, ist es möglich,
mir solche Fragen zu stellen.
Woher kommt diese Haltung?
Ich bin mit einer feministischen Mutter aufgewachsen. Sexualität war bei
uns zu Hause etwas Selbstverständliches, im Regal standen
Aufklärungsbücher, die ich mir einfach nehmen konnte, wenn es mich
interessierte. Ich habe von meiner Mutter früh gelernt, dass ich selbst und
nicht jemand anderes für meine Lust verantwortlich bin.
Zurück zu Ihrer Arbeit. Wie haben Sie in den Vorklassen unterrichtet?
Ich hatte ein Konzept erarbeitet und eine Finanzierung gesucht. Das lief
dann am Ende über Pro Familia Bremen.
Mit dem Konzept, das Sie erarbeitet hatten?
Nein. Ich wollte das ursprünglich mit einer männlichen Person zusammen
machen, die möglichst keine weiße Kartoffel ist wie ich. Dafür war kein
Geld da. Und ich hatte es auf 15 Stunden über drei Monate angelegt – es
wurden dann zwei Doppelstunden. An fünf Schulen.
Konnten Sie machen, was Sie wollten?
Ich habe mich an den Fragen orientiert, die die Jugendlichen mitgebracht
haben, hatte aber auch Pflichtthemen: Verhütung, Schwangerschaft und
Aufklärung über das Jungfernhäutchen. Es kann nämlich kein_e Ärzt_in der
Welt daran sehen, ob eine Person schon Sex hatte oder nicht. Auch bluten
nur die wenigsten Frauen beim ersten Penetrationssex.
Wie war der Wissensstand zu den Pflicht-Themen?
Sehr unterschiedlich. Ich glaube, dass es viel mit dem Bildungsstand zu tun
hat. Ich hatte syrische Jungs, die waren superfit und konnten die intime
Anatomie zum Teil besser benennen als Jugendliche, die hier aufgewachsen
sind. Das weiß ich, weil ich auch mit Regelklassen gearbeitet habe.
Es gab keine Unterschiede?
Doch. Ich hatte den Eindruck, dass manche Mythen in vielen Ländern noch
sehr präsent sind, die es auch in der westlichen Kultur noch bis vor Kurzem
gab.
Zum Beispiel?
Bei den Jungen war Selbstbefriedigung ein Riesenthema und die Angst, es zu
übertreiben. „Nach 1.000 Schuss ist Schluss“ war so ein Satz, den ich oft
gehört habe und dass das Rückenmark geschädigt wird.
Was haben Sie dazu gesagt?
Ich habe es erst mit wissenschaftlichen Erklärungen versucht und erklärt,
dass Spermien jeden Tag neu gebildet werden. Aber ich habe schnell gemerkt,
dass Wissenschaft zwar im Westen anerkannt ist, um Wahrheiten zu belegen,
in anderen Kulturen aber das wahr ist, was der Imam sagt oder die Familie.
Und dann?
Dann habe ich so argumentiert, wie ich es nie erwartet hätte. Ich habe
gesagt, Allah verzeiht euch alles, solange ihr niemand anderem etwas antut.
Und damit waren Sie erfolgreich?
Manche kamen bei der nächsten Einheit begeistert auf mich zu, „Nora, es
stimmt, ich habe es ausprobiert!“
Was stimmte?
Dass sie sich selbst befriedigen dürfen, so oft sie wollen.
Haben Sie mit den Mädchen auch darüber gesprochen?
Nein, das war ganz anders. In den Jungsklassen waren die Diskussionen sehr
offen und wurden manchmal richtig philosophisch, wir kamen von einem Thema
zum nächsten und ich bekam teils euphorisches Feedback. Ich kam da selbst
oft ganz inspiriert raus. Da hatte ich einen Vertrauensvorschuss, der bei
den Mädchen fehlte.
Woran lag das?
Ich weiß es nicht genau. Vielleicht konnten sich die Jungen eher mit mir
identifizieren. Ich boxe, ich spiele Schach. Bei den Mädchen musste ich mir
das Vertrauen in kurzer Zeit hart erarbeiten. Ich habe viel mehr mit
pädagogischen Methoden gearbeitet, zum Beispiel einen Grabbelsack
mitgebracht. Und Tee und Kekse, die waren super erfolgreich. Das war für
mich eine wichtige Erkenntnis.
Was ist ein Grabbelsack?
Ein Beutel, in dem sich verschiedene Hygieneartikel befinden, auch Windeln
und Kondome, eine Zigarettenschachtel, eine leere Alkoholflasche. Jede
sollte etwas ziehen und sagen, was sie damit verbindet. Einen Vibrator habe
ich nicht hinein getan, weil ich Angst hatte, damit Grenzen zu verletzen.
Bei den Mädchen war ich unsicherer als bei den Jungen.
Was waren deren Themen?
Es ging viel um Liebe, Partnerschaft, Familienplanung, die Periode.
Gar nicht um Sex?
Doch, das erste Mal war ein Riesenthema, die Vorbereitung darauf, was darf
ich einfordern, nein sagen. Ich habe auch über Lust gesprochen, über die
Klitoris als reines Lustorgan. Aber wenn ich jetzt darüber nachdenke, bin
ich sehr vorsichtig vorgegangen. Ich musste davon ausgehen, dass in jeder
Gruppe Mädchen dabei waren, die sexualisierte Gewalt erfahren haben.
Haben Sie auch mit den Jungs über sexualisierte Gewalt gesprochen?
Schließlich werden männliche Geflüchtete von vielen als potenzielle
Vergewaltiger wahrgenommen.
Sie haben gemerkt, dass ihr Verhalten anders bewertet wird als das von
anderen Jungs. Und gleichzeitig war der Wunsch, jemand kennenzulernen,
sehr, sehr groß. Wir haben viel übers Flirten geredet. Wie macht man das,
ohne die Grenzen des Gegenübers zu überschreiten?
Haben Sie das geübt?
Ja, wir haben manchmal Rollenspiele gemacht. Ich habe mich einem
Jugendlichen gegenübergesetzt und bin mit meinem Stuhl näher gekommen oder
weiter weg gerückt, je nachdem, ob mich sein Flirtversuch angesprochen hat.
Haben Sie mit den Jungs über ihre Frauenbilder gesprochen?
Nein, nicht so direkt. Es ging oft um Familienwunsch. Die meisten wollten
viele Kinder, ohne sich klar zu machen, was das heißt und wer sich um die
kümmern soll. Und sie wollten immer wissen, wie sie ihre Partnerin sexuell
befriedigen können, welche Stellungen ihr Spaß machen könnten. Ich merke
gerade, dass ich es schwierig finde, diese Fragen zu beantworten, weil
dahinter oft die Annahme steckt, dass die Geflüchteten alle aus
rückständigen Kulturen kommen, in denen Frauen noch schlechter behandelt
werden als bei uns.
Und Schwule und Lesben diskriminiert werden.
Wenn ich den Jungs gesagt habe, dass ich auch mit Frauen schlafe, haben sie
gesagt, das ändert für sie nichts.
Aber weibliche Homosexualität wird auch nicht so ernst genommen wie
männliche.
Stimmt. Und ja, es gab homophobe Äußerungen. Aber ich weigere mich, diese
rassistischen Klischees zu bedienen nach dem Motto: „Die sind alle homophob
und sexistisch und wir sind die Guten.“ Das stimmt so einfach nicht. Und
ich sehe auch, wie schwer es hier den jungen Männern gemacht wird, den
Umgang mit Frauen zu erproben. Die leben und lernen fast nur unter Jungs
und in die Discos werden sie meistens nicht reingelassen.
Wer gibt diese Kurse jetzt eigentlich in Bremen?
Niemand leider. In anderen Städten meines Wissens auch kaum.
22 Jul 2019
## AUTOREN
Eiken Bruhn
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