# taz.de -- „Wo ist Afrika?“ im Linden-Museum: Viele einzelne Geschichten | |
> Die neue Dauerausstellung im Stuttgarter Linden-Museum beleuchtet die | |
> Ambivalenz seiner Sammlung – und kommt ohne spektakuläre Inszenierungen | |
> aus. | |
Bild: Ein kamerunisches Unikat: Moderne und Tradition ineinander verwoben | |
Berlin taz | Das Linden-Museum ist nicht das erste ethnologische Museum, in | |
dem ein Motorrad ausgestellt ist. Neu ist jedoch seine Geschichte. Denn wer | |
sich in Kamerun ein solches Fahrzeug chinesischer Herkunft zulegt, sucht | |
einen Spezialisten auf, der sich auf dessen optische Optimierung versteht. | |
Fähnchen, Muster in den Landesfarben und individuelle Aufschriften | |
verwandeln die Massenware in einen persönlichen Gegenstand. Gekauft hat es | |
in Yaoundé für das Museum Stone Karim Mohamad, zusammen mit der | |
Afrika-Referentin Sandra Ferracuti. | |
Stone Karim Mohamad gehört zum Advisory Board for the Representation of | |
Africa Collections (ABRAC). Sandra Ferracuti hat den ehrenamtlichen Kreis | |
von Stuttgartern mit afrikanischen Wurzeln vor drei Jahren ins Leben | |
gerufen. Bei der Entwicklung des neuen Ausstellungskonzepts seien sie ihre | |
Augen und Ohren in der Stadt gewesen, sagt sie. | |
Jedes Mitglied des Boards habe etwas Konkretes zu der neuen Schausammlung | |
beigetragen, aber auch zu ihrer besonderen „Sensibilität“. Die | |
Wissenschaftlerin setzt auf eine dialogische Forschung, auf das Gespräch, | |
Ideenaustausch. An Objektivität glaubt sie nicht. | |
Sie konsultierte Spezialisten, etwa den aus Benin-City stammenden, in New | |
York lebenden Künstler Enotie Ogbebor. Er steuerte Informationen zu dem | |
seltenen Hüftanhänger aus Elfenbein in Form einer Maske bei, der in den | |
1960er Jahren vom Linden-Museum aus dem Handel erworben wurde. | |
Der Anhänger erinnert an die Königinmutter Idia aus dem 15. Jahrhundert. | |
Das fein geschnitzte, mit roten Perlen besetzte Objekt gehörte zu den | |
Insignien der Obas, der Könige von Benin, und wurde 1897 von britischen | |
Truppen aus den Schlafgemächern des Oba Ovonramwen entwendet. | |
## Spuren des Kolonialismus | |
Namen und Orte ausfindig zu machen, gehört zu den [1][Leitlinien des | |
Hauses]. Das ist aber bei etwa 40.000 Objekten der Sammlung ein utopisches | |
Unterfangen, selbst bei den rund 500 Objekten, die aktuell gezeigt werden, | |
bleiben noch viele Skulpturen stumm. [2][Die Stuttgarter Afrika-Sammlung] | |
verfügt hauptsächlich über Werke aus Kamerun, Mosambik, Nigeria und | |
Tansania, [3][den ehemaligen deutschen Kolonien]. | |
Den Auftakt bildet deshalb das Gedenken an die Kolonialzeit und ihren | |
Sammelwahn. Eng gedrängt liegen Pfeile, Gefäße und Werkzeuge in wandhohen | |
Vitrinen. Darunter ist ein „Köcher für Trinkrohre des Sultans“ aus Ruanda, | |
den Hauptmann Betke in die Sammlung eingebracht hat. Das steht | |
handschriftlich auf einem vergilbten Schild. Aber wer war Hauptmann Betke? | |
Und unter welchen Umständen kam er in den Besitz des Köchers? | |
Viele Geschichten müssen erst noch erzählt, manche Objekte neu entdeckt | |
werden. Die „Kalender“, glatt geschliffene, handliche Holzstücke mit | |
Löchern, eines für jeden Tag der Woche, wurden zwischen 1902 und 1923 | |
erworben und stammen von Afrikanern, die für europäische Firmen gearbeitet | |
haben. Es sind Belege einer äußerst subtilen Form der Kolonisierung, der | |
Kolonisierung der Zeit. Dass jede Stunde zählt, ist in Europa eine | |
Erscheinung der Industrialisierung und Optimierung von Arbeit gewesen. | |
## Poesie und Tiefe – und Schrecken | |
In einem Kabinett liegt eine lange Halskette aus fein geschliffenen | |
Straußeneierschalen-Segmenten unter Glas. Schön anzusehen, doch ihre | |
Geschichte lässt den Atem stocken. Laut Inventarliste wurde sie „einer | |
Hererofrau, welche während des Gefechts von Otjihinamaparero am 25. Februar | |
1904 durch eine Granate getötet wurde, abgenommen“. Sie symbolisiert in der | |
Ausstellung [4][den Völkermord an den Herero]. Aber nicht nur. | |
Die Kulturwissenschaftlerin Anette Hoffmann machte Sandra Ferracuti auf | |
historische „Praise Songs“ aufmerksam. Einer erzählt von einer getöteten | |
jungen Frau, der ebenfalls ihre Halskette abgenommen wurde. Geht es beides | |
Mal um dieselbe Frau? Wer sich die Stimmen anhört und den übersetzten Text | |
liest, meint, für einen Moment einzutreten in das kulturelle Erbe Afrikas, | |
seine Poesie und Tiefe. | |
Wo ist Afrika?, fragt der Titel der Ausstellung. Auf diese Frage finden die | |
Museumsbesucher keine einfachen Antworten vor. Es sei völlig unmöglich, die | |
vielschichtigen Beziehungen zwischen Europa und Afrika anhand von ein paar | |
Objekten darzustellen, sagt Sandra Ferracuti. Was sie zeigt, hat | |
exemplarischen Charakter, meist sind es Sammlungsstücke, zu denen es neue | |
Informationen gibt. | |
## Viele Stimmen zulassen | |
Seit den 1970er Jahren unterhält das Linden-Museum enge Verbindungen mit | |
dem Königreich Obu in Nordwest-Kamerun. Dort ansässige Künstler haben | |
damals Teile des Königspalasts für das Stuttgarter Museum nachgebaut. Um | |
den Kontakt zu vertiefen, reiste Sandra Ferracuti 2017 in die Hauptstadt | |
Elak, um Tanzmasken des Schnitzers Fai Mankoh zu erwerben. | |
Und um zu zeigen, dass die Bedeutung solcher Objekte eng mit ihrer | |
Verwendung verknüpft ist, präsentiert sie die geschnitzten Skulpturen, | |
abstrahierte Tierköpfe oder schematisierte menschliche Gesichter, auf | |
lebensgroßen, abstrahierten Figuren. Daneben läuft ein Video, das die auf | |
dem Kopf getragenen Masken in Aktion zeigt. | |
Die Kuratorin lässt viele Stimmen zu, ein paar Grundsätze sind ihr wichtig. | |
Sie unterscheidet nicht kategorisch zwischen Kunstwerk und | |
Alltagsgegenstand. Sie geht von einem lebendigen Traditionsbegriff aus, der | |
ständig erneuert werden muss. Und sie betont, dass in der Ausstellung nicht | |
die Illusion aufkommen darf, man könne mit einer paar Exponaten die Kultur | |
eines ganzen Kontinents darstellen. | |
Ausstellungen wie diese bleiben dennoch ein Balanceakt zwischen der | |
ungeheuren Präsenz des kolonialen Erbes und dem Versuch, eine zeitgemäße | |
Beziehung zu den Objekten herzustellen. Museen seien ein Instrument der | |
Einverleibung anderer Kulturen, schreiben Felwine Saar und Bénédicte Savoy | |
in ihrem Restitutionsbericht, der vom französischen Präsidenten in Auftrag | |
gegebenen wurde. | |
Die Autoren zitieren aber auch den Philosophen und Historiker Krzysztof | |
Pomian. Der definierte Museumsobjekte als „Semiophoren“, als Dinge, die die | |
Potenzialität neuer Kontakte in sich tragen. Es geht darum, dass die | |
Europäer ihre Deutungshoheit abgeben müssen und sich um einen neuen Dialog | |
bemühen. | |
Das Linden-Museum verweigert spektakuläre Inszenierungen, setzt dagegen auf | |
viele einzelne Erzählungen. Kultur sei kein geschlossenes System, sondern | |
etwas, dass sich permanent ändere, bemerkt Sandra Ferracuti. Dazu braucht | |
es eine neue Qualität gegenseitigen Verständnisses. Das beginnt vielleicht | |
mit einem Moment der Irritation. Meeresrauschen im letzten Raum, ein Video, | |
das einen Blick auf das Mittelmeer erlaubt. Auf welcher Seite der | |
Betrachter steht, der europäischen oder afrikanischen, bleibt offen. | |
22 Jul 2019 | |
## LINKS | |
[1] https://www.lindenmuseum.de/ueber-uns/leitbild/ | |
[2] /Rueckgabe-von-geraubter-Kunst/!5591215 | |
[3] /Kommentar-Deutsches-Kolonialerbe/!5567596 | |
[4] /Deutscher-Voelkermord-in-Namibia/!5573196 | |
## AUTOREN | |
Carmela Thiele | |
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