# taz.de -- Verhandlungen um EU-Spitzenämter: Schachern ist nichts für Dumme | |
> In der EU wird um die besten Posten verhandelt – manche sagen: | |
> „geschachert“. Aber was heißt das eigentlich? Und ist das so schlimm? | |
Bild: Schachert mit: die Kanzlerin | |
Wahrscheinlich kursiert in rechten (und manchen linken) Foren aktuell das | |
Wort [1][„schachern“] heftig. Es ist eine Vokabel mittelalterlicher | |
Herkunft, eine aus dem Rotwelschen, der Gauner*innensprache, dem Idiom der | |
Gosse. Jiddisch wurde es benutzt: Schachern ist die Fähigkeit des Händlers | |
oder der Händlerin, um ein Gut einen Preis zu erzielen. Alle Beteiligten am | |
Schachern haben sich, haben sie das Gegenüber der Verhandlungen im Blick, | |
am zivilisierten Miteinander geeinigt. Die höchsten Stufe des fairen | |
Umgangs ist erreicht, wenn alle etwas aus dem Topf abbekommen. Handel statt | |
Händel, Austausch statt Streit. | |
Ein solches Postengeschacher ist nichts schlimmes, deshalb ist das, [2][was | |
in Brüssel im Herzen des EU-Gebäudeensembles stattfindet], das, gemessen an | |
den europäischen Bürger*innenkriegen des 20. und 19. Jahrhunderts, | |
verglichen auch mit dem Dreißigjährigen von 1618 bis 1648, das | |
demokratischste Procedere, das aktuell denkbar ist. Die EU ist ein | |
politisch seltsames Gebilde, sie ist eine Union, ein Zusammenschluss, aber | |
in ihr existieren die Nationalstaaten weiter – und nach allem, was man | |
politisch wissen kann, werden gerade die osteuropäischen und | |
postsowjetischen Länder ihre nationalstaatliche Autonomie auch nicht | |
aufgeben wollen. | |
Verhandlungen um Posten, ob nun auf niederer oder höchster Ebene, sind | |
sowieso nicht die Ausnahme, sondern die Regel, in jedem Alltag, in der | |
Politik aber besonders. Ehe ein Regierungssprecher auch nur ein Muckserchen | |
über das neue Kabinett verkündet, sind diesem Sprechakt in Hinterzimmern | |
mannigfaltige Verhandlungen vorausgegangen. Dort wurden Regional- und | |
Geschlechtsproporze, Altersaspekte und Professionalitätserwägungen | |
erörtert, dort sind mithin Fragen der Diversität zur Debatte gestellt | |
worden: Rücksichtnahme ist die wichtigste Tugend eines jeden Geschachers. | |
In der EU, siehe: Autonomie ihrer Staaten in der Union, wird tüchtig | |
gepokert, finassiert, an- und getäuscht – aber immer mit dem Ziel von allen | |
28 Mitgliedsländern und ihren Delegierten, dass möglichst fast alle sich | |
mitgenommen fühlen. Außerdem, gemessen an innerparteilichen Verhandlungen | |
um Minister*innenämter ist das, was die EU aktuell in ihrer Personalpolitik | |
aufführt, wahnsinnig transparent. | |
## Demokratie bis in die letzte Pore | |
Demokratie ist, so darf man lernen, ein Verfahren, bei dem die beteiligten | |
Bürger*innen einen möglichst stimmigen Eindruck von seinem Funktionieren | |
haben müssen – einen stimmigen, wie gesagt, keinen perfekten. Vollendung, | |
Demokratie bis in die letzte Pore gibt es nicht. Die ersten der höchsten | |
Posten in der EU und ihrer Vorläuferinstitutionen (in der EWG | |
beispielsweise, der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft) wurden noch | |
gänzlich ohne das EU-Parlament vergeben. | |
Jetzt ist es anders. [3][Man muss Spitzenkandidat einer der Parteienblöcke | |
gewesen sein], um ins Rennen um die Jean-Claude Juncker-Nachfolge zu gehen. | |
Formell ist das nicht zwingend: Am Ende entscheiden die Regierungschefs der | |
EU-Mitglieder – aber, so lernte jetzt Emmanuel Macron, das | |
Spitzenkandidat*innenprinzip für nichtig zu erklären, hülfe für den | |
aktuellen politischen Moment, nicht jedoch für die nächsten Jahre. | |
Denn das ist ja ebenfalls ein Teil des unheimlichen Geheimnisses des | |
Schacherns um Posten: Man erzielt ein Ergebnis – und wenn eine | |
mitschachernde Person über den Tisch gezogen wurde, merkt sich diese das | |
und wird Vergeltung üben wollen. Das wiederum desintegrativ, deshalb | |
funktioniert ein gelingendes Geschacher immer als Kompromiss, der beim | |
Verhandeln als Tugend, nicht als notwendiges Übel gilt. Merke: Man ssieht | |
ich immer zwei Mal – in der EU sogar öfter, sehr viel öfter. | |
Die EU verkörpert das aktuelle Optimum demokratischer Partizipation. Ein | |
Optimum markiert immer das, was geht, nicht das, was traumschlösserisch mal | |
gehen könnte. Zur Stunde fühlen sich Länder wie Polen, die Slowakei, | |
Tschechien und Ungarn nicht repräsentiert. Einer wie Donald Tusk wird | |
herausfiltern müssen, was nun noch gehen kann. Den Viererblock spalten, | |
etwa mit Subventionsverheißungen? Vieles (nicht: alles) ist möglich – | |
sogar, dass Frans Timmermanns Junckers Nachfolger wird. | |
Auf dem Schachbrett demokratischer Verhandlungen ist die Lage noch | |
unübersichtlich, bis Dienstag, oder Mittwoch oder ein paar Tage danach. | |
Schachern ist nichts für schwache Nerven, nichts für Dumme. | |
2 Jul 2019 | |
## LINKS | |
[1] https://www.spiegel.de/politik/ausland/europawahl-bitte-jetzt-kein-endloses… | |
[2] /EU-Gipfel-in-Bruessel/!5604812 | |
[3] /Nachfolge-des-EU-Kommissionschefs/!5595515 | |
## AUTOREN | |
Jan Feddersen | |
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