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# taz.de -- Politrock in der Ukraine: Stimme um Stimme
> Schon lange ist er ein Star in der ukrainischen Musikszene, jetzt will
> Swjatoslaw Wakartschuk Politik machen. Er hat eine Partei gegründet.
Bild: Politik und Rock: Beim Konzert von Okean Elzy gibt es beides
So einfach ist das also. „Ich gebe euch heute Abend meine Stimme und ihr
gebt mir am 21. Juli eure Stimme“, ruft Swjatoslaw Wakartschuk an diesem
schwülwarmen Juliabend seinen Fans im Stadtpark der ukrainischen
Provinzstadt Poltawa zu. Der 44-Jährige gibt sich locker: Jeans,
Turnschuhe, T-Shirt. Gerne tritt er ungekämmt vor das Publikum – heute
auch.
Seit über zwanzig Jahren ist der Frontman der Gruppe Okean Elzy die Nummer
eins in der ukrainischen Rockmusik. Wo er auftritt, erwarten ihn Tausende
und Zehntausende, die seinen besinnlichen Liedern lauschen oder im Rhythmus
mit den Beinen auf dem Boden stampfen, wenn die Bässe seiner Rockband die
Körper der Zuschauer vibrieren lassen.
Viele Ukrainer sind mit Okean Elzy groß geworden. 1996 trat die Gruppe in
Kiew mit Deep Purple auf. Und 2018 am Unabhängigkeitstag, dem 24. August,
kamen 100.000 zum Konzert von Okean Elzy ins Kiewer Olympiastadion.
Seit einigen Monaten ist der Musiker Wakartschuk auch Politiker. Er ist
Vorsitzender der Partei Golos (die Stimme), die er erst vor wenigen Wochen
gegründet hat. Derzeit sieht es ganz so aus, als ob er mit Golos nach den
Wahlen am Sonntag kommender Woche in das ukrainische Parlament einziehen
wird. Ukrainische Meinungsforschungsinstitute sehen die Partei derzeit bei
knapp sieben Prozent. Das reicht, um die Fünf-Prozent-Sperrklausel zu
überwinden. Besonders hohe Zustimmungsraten hat der Sänger in
patriotisch-konservativen Schichten und bei jugendlichen Rock-Fans.
## Ein Konzert als Wahlkampfveranstaltung
Dass an diesem Juliabend gefühlt die halbe Provinzstadt beim Konzert ist,
liegt nicht nur an der Beliebtheit des Rockmusikers. „So schnell werde ich
nicht wieder Gelegenheit haben, Wakartschuk zu hören. Noch dazu kostenlos
und praktisch vor der Haustüre“, sagt der Bauingenieur Vitalij, der mit 50
Jahren unter den vorwiegend jugendlichen Konzertbesuchern an diesem Abend
eindeutig in der Minderheit ist.
Doch Vitalij muss sich noch gedulden. Denn vor der Musik kommt ein
Werbeblock. Die Ortsgruppe Poltawa der Partei Golos gibt sich vierzig
Minuten die Ehre, stellt in epischer Breite ihre Mannschaft und die
Direktkandidaten für die Parlamentswahlen vor.
„Ich bin Arzt und habe schon mehrere hundert Frauen entbunden, 500 Liter
Blut an die Front geschickt. Und ich dachte mir, dass ich nicht nur in
meinem Beruf Menschen helfen kann, sondern auch in der Politik“, protzt
Kandidat Rostislaw Sauralskij von der Konzertbühne. Als er gehört habe,
dass noch ehrliche Leute für die Mannschaft Golos als Direktkandidaten
gesucht würden, sei ihm klar gewesen, dass das etwas für ihn sei. Doch ein
Manko habe er, gibt er unumwunden zu. Er könne nur Russisch sprechen, da er
seine Jugend in Russland verbracht habe.
Endlich kommt Swjatoslaw Wakartschuk mit Okean Elzy auf die Bühne. Nun
klatschen die Besucher nicht mehr nur aus Höflichkeit. Wakartschuk hat ein
Gespür dafür, was die Menschen bewegt. „Wer von euch hat jemanden in der
Familie, der im Ausland arbeitet, weil er hier in der Ukraine von seinem
Gehalt nicht leben kann?“, ruft er ins Publikum. Die Hälfte der Zuschauer
hebt die Hand.
## Die „Tour der Veränderung“
Er und Golos würden etwas dagegen tun, dass viele Ukrainer ihr Heil im
Ausland suchen müssten, antwortet er. Er könne sich noch gut an Zeiten
erinnern, als die Polen in die Ukraine gekommen seien, weil sie zu Hause
leere Geschäfte gehabt hätten. Doch inzwischen verdiene man in Polen vier-
bis fünfmal mal so viel wie in der Ukraine. Dieses Gefälle zu ändern, daran
wolle er arbeiten. „Wollt ihr ein besseres Leben?“, fragt er die Menge
erneut. Und wieder sieht man ein Meer von erhobenen Händen.
Wakartschuk macht seinen eigenen Wahlkampf. Er weiß um seine Stärken, aber
auch um seine Schwächen. Und er versucht weitgehend, den traditionellen
Formen von Wahlkampf aus dem Weg zu gehen. Einmal hatte ihn seine
Gegenspielerin, die Ex-Regierungschefin Julia Timoschenko, in einer
Talkshow vorgeführt, weil er ihre Frage, wie viel die Bürger
durchschnittlich für Gas zum Heizen bezahlen müssten, nicht beantworten
konnte.
So geht er auf Tournee. „Tour der Veränderungen“ heißt das Projekt. 21
kostenlose Konzerte will er mit seinem Okean Elzy bis zum 19. Juli
absolvieren. Und jedes Mal kommen zwischen 10.000 und 50.000 Zuschauer. Es
sind immer zwei Veranstaltungen: den Auftakt macht er mit einer politischen
Wahlveranstaltung, der ein kostenloses Konzert mit vorgeschaltetem
Werbeblock folgt. So wie an diesem Abend in Poltawa sieht es auch in
anderen Städten aus: den politischen Part besuchen einige Hundert, zum
Konzert kommen Zehntausende.
Doch nicht alle sind von den kostenlosen Konzerten im Wahlkampf begeistert.
„Auch wenn Konzerte im Wahlkampf erlaubt sind, halten wir das für keine
gute Idee“, erklärt Denis Ribatschok vom „Komitee der Wähler der Ukraine�…
„Politiker sollen mit Programmen und Ideen miteinander konkurrieren.
Wahlkampf darf kein Wettbewerb werden, bei dem es darum geht, wer die
besseren Künstler aufbieten kann.“
## Gegen das Oligarchenwesen und die Korruption
Zwanzig Stars aus dem Showgeschäft seien dieses Mal im Wahlkampf aktiv, so
Ribatschok. Besonders stutzig mache ihn, wenn derartige Konzerte nicht aus
den Wahlkampfbudgets der Parteien finanziert würden und nicht klar sei,
woher das Geld dafür stamme.
Inhaltlich steht Golos für einen national-konservativen Kurs, der in vielem
der Partei „Europäische Solidarität“ des ehemaligen Präsidenten Petro
Poroschenko ähnelt. Golos ist prowestlich, strebt in die EU und Nato, will
den Patriotismus fördern und sieht Russland als Feind. Ein zentrales Ziel
von Golos ist die Stärkung der Armee und ihres Ansehens in der
Gesellschaft. „Ich will nicht, dass Eltern einem Einberufungsbescheid ihres
Sohnes mit Angst entgegensehen“, ruft Wakartschuk ins Publikum. „Wirkliche
Patrioten stellen staatliche über private Interessen.“
Gleichwohl weist Wakartschuk, für den der Kampf gegen das Oligarchenwesen
und die Korruption wichtige Punkte sind, jegliche Nähe zu Poroschenko weit
von sich. Als er von dem Internetportal lb.ua unlängst gebeten wurde, die
Bemühungen von Poroschenko um eine Deoligarchisierung der Ukraine zu
kommentieren, sagte er: „Nur Baron Münchhausen hat es geschafft, sich an
den Haaren aus dem Sumpf zu ziehen.“
Doch trotz aller patriotischen Rhetorik strebt Wakartschuk ein Ende des
Krieges ohne Gewalt an und tritt für Gespräche mit Russland ein. Clausewitz
habe mal gesagt, Krieg sei die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln.
„Ich sage es umgekehrt. Wir müssen den militärischen Konflikt mit anderen
Mitteln fortsetzen.“
## Golos könnte Juniorpartner in Koalition werden
Lässigkeit im Auftreten ist das eine, der Kampf um Macht das andere. Wer
auf die Wahlliste von Golos komme, habe ein siebenköpfiges Gremium, das
Nominierungskomitee, erarbeitet. Dessen Vorschläge seien beim Parteitag so
durchgegangen, erzählt Inna Sowkun, eine Parteisprecherin.
Die 35-jährige ehemalige Vizebildungsministerin ist selbst Mitglied des
Nominierungskomitees. Dieses Komitee ist auch berechtigt, nach dem
Parteitag Personen wieder aus der Liste zu streichen. Das sei dann der
Fall, wenn sich herausstellen sollte, dass jemand gelogen oder dunkle
Flecken in seiner Biografie habe, die vorher nicht bekannt gewesen seien,
erläutert die Pressesprecherin Inna Sowkun.
Ein ähnliches Vorgehen gibt es auch bei der Partei „Diener des Volkes“ des
Präsidenten Wolodimir Selenski. Dort heißt das Prozedere „Post-Primaries“.
Ein kleiner Kreis um den Parteivorstand kann Kandidaten wieder von der
Liste streichen, die der Parteitag schon abgestimmt hat.
Neueste Umfragen sehen „Diener des Volkes“ bei 47 Prozent der Stimmen.
Reichen wird dies aber für eine „Monokoalition“, wie man eine
Ein-Parteien-Regierung im Umfeld von Selenski nennt, nicht. Deswegen
braucht es einen Juniorpartner. Genau da könnte die Partei Golos ins Spiel
kommen. Dann säßen die beiden Großen des ukrainischen Showgeschäfts,
Wolodimir Selenski und Swatoslaw Wakartschuk, zwar nicht auf einer Bühne,
aber in einem Boot.
Nach gut drei Stunden spielt die Band Okean Elzy immer noch, als gäbe es
kein Morgen. Wakartschuk scheint nicht zu stoppen zu sein. Die Menschen
jubeln. Langsam verlassen die Ersten, sichtlich erschöpft, dann doch den
Stadtpark. Einige Kilometer entfernt, auf dem Weg zum Bahnhof in Poltawa,
ist nicht nur der wummernde Bass, sondern auch Swjatoslaw Wakartschuk immer
noch zu hören. Was für eine Stimme!
15 Jul 2019
## AUTOREN
Bernhard Clasen
## TAGS
Lesestück Recherche und Reportage
Wahlkampf
Ukraine
Rockmusik
Rock
Konzert
Ukraine
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
Ostukraine
Ukraine
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