| # taz.de -- BDS-Tweet des Jüdischen Museums Berlin: Streit, Macht, Kontrolle | |
| > Das Museum steht in der Kritik, weil es einen Tweet zum BDS-Beschluss des | |
| > Bundestags gepostet hat. Leiter Peter Schäfer trat am Freitag zurück. | |
| Bild: Der Streit wirkt kleinteilig – doch es geht um die ganz großen Fragen | |
| Aktualisierung: Peter Schäfer, der Chef des Jüdischen Museums Berlin, ist | |
| am Freitagnachmittag nach Redaktionsschluss der taz zurück getreteten. Er | |
| bot Kulturstaatsministerin Monika Grütters seinen Rücktritt an – „um | |
| weiteren Schaden vom Jüdischen Museum abzuwenden“. | |
| Grütters erklärte: „Alle Verantwortlichen müssen dazu beitragen, dass sich | |
| das Jüdische Museum Berlin wieder auf seine inhaltlich wichtige Arbeit | |
| konzentrieren kann.“ Die Leitung übernimmt fürs Erste der Geschäftsführen… | |
| Direktor Martin Michaelis. | |
| Die Treppe hinauf, dann schräg nach unten. Hin und her. Peter Schäfer ist | |
| stolz auf die Irrwege seines Hauses, des berühmten, im Zickzack gebauten | |
| Libeskind-Baus in Berlin, eines architektonischen Spektakels. „Bleiben Sie | |
| bei mir, sonst gehen Sie verloren“, mahnt der Direktor des Jüdischen | |
| Museums und steigt in einen engen Fahrstuhl, der ihn aus den | |
| Ausstellungsräumen zu seinem Büro bringt. „Ich verlaufe mich manchmal | |
| selbst noch“, sagt er. | |
| Noch ein paar Ecken, dann hat Schäfer sein Büro erreicht. Er blickt aus dem | |
| Fenster auf das brutale Grau einer Betonwand: „Das ist der Holocaust-Turm“, | |
| erklärt er. Der 75-Jährige Experte für die Geschichte des Judentums leitet | |
| das Museum seit 2014. Kürzlich wurde sein Vertrag bis 2020 verlängert. Die | |
| Dauerausstellung, Visitenkarte des Museums, wird überarbeitet. Sie soll der | |
| Abschluss von Schäfers Karriere werden. 2.000 BesucherInnen kommen täglich | |
| ins Museum. Es läuft gut. Doch nun steht Schäfer unter Beschuss. Schon | |
| wieder. | |
| Diesmal entzündet sich der Zorn an einer unbedachten Formulierung. [1][Auf | |
| Twitter] empfahl das Jüdische Museum [2][einen taz-Artikel] als | |
| „lesenswert“. Darin geht es um 240 israelische und jüdische | |
| WissenschaftlerInnen, die mit recht drastischen Worten einen Beschluss des | |
| Bundestags kritisieren. Das Parlament hatte die BDS-Bewegung („Boykott, | |
| Abzug von Investitionen, Sanktionen“) im Mai für antisemitisch erklärt. | |
| Das, so die WissenschaftlerInnen, tue der BDS Unrecht und helfe im Kampf | |
| gegen Antisemitismus nicht weiter. | |
| „Der Beschluss der Parlamentarier hilft im Kampf gegen Antisemitismus nicht | |
| weiter“, twitterten Schäfers Presseleute – ohne Konjunktiv. Mit den | |
| Reaktionen hatten sie nicht gerechnet. Beschämend, empörte sich Israels | |
| Botschafter. „Antijüdisch“, titelten israelische Medien. Der US-Botschafter | |
| schaltete sich ein, und der [3][Zentralrat der Juden in Deutschland | |
| verkündete]: „Das Maß ist voll. Das Jüdische Museum scheint gänzlich auß… | |
| Kontrolle geraten zu sein.“ Und zweifelte, ob sich das Museum, eine | |
| staatlich finanzierte Kultureinrichtung des Bundes, noch „jüdisch“ nennen | |
| dürfe. | |
| ## „Ich war naiv“ | |
| Hat sich Schäfers Museum die Kritik der 240 WissenschaftlerInnen zu eigen | |
| gemacht? Unterstützt es die BDS-Bewegung womöglich sogar? | |
| Krisensitzungen im Libeskind-Bau. In der Presseabteilung, heißt es, werde | |
| aufgeräumt. Gerüchte, Schäfer werfe das Handtuch, machen die Runde. Es | |
| gehört ja nicht viel Fantasie dazu, die scharfe Erklärung des Zentralrats | |
| als Rücktrittsforderung zu verstehen. | |
| Josef Schuster, 65, ist seit fünf Jahren Präsident des Zentralrates der | |
| Juden in Deutschland. Am Telefon sagt er: „Wenn ich einen Rücktritt | |
| fordere, dann sage ich das direkt.“ Aber: „Ich habe kein Verständnis dafü… | |
| dass eine Institution, die sich jüdisch nennt, Kritik an dem | |
| Bundestagsbeschluss retweetet.“ Er hoffe, dass die Leitung künftig dafür | |
| sorge, „dass sich solche Dinge nicht mehr ereignen“. Es klingt wie: Schäfer | |
| ist Direktor auf Bewährung. | |
| Nun ja, ein Tweet. Der Streit wirkt kleinteilig. Doch es geht um die ganz | |
| großen Fragen. Wer hat die Diskurshoheit über das Jüdische, über das Thema | |
| Antisemitismus und, ja, auch über Israel. Was ist das „Jüdische Museum“? | |
| Die Sündenliste, die der Zentralrat dem Museum unter die Nase reibt, ist | |
| lang. Da war Schäfers Treffen mit dem Kulturattaché der iranischen | |
| Botschaft, das die Iraner für ihre PR benutzten. Direktor Schäfer hält das | |
| im Nachhinein für einen Fehler: „Ich war naiv.“ Dann sollte in der Akademie | |
| des Museums ein Referent auftreten, dem von einigen Nähe zu BDS attestiert | |
| wurde – seit dem Bundestagsbeschluss mithin ein amtlicher Antisemit. „All | |
| das gibt sehr zu denken“, sagt Schuster. | |
| Und dann gibt es noch die Akademie des Museums. Die rückt den Diskurs über | |
| das Jüdische nahe an den über Minderheiten in Deutschland, debattiert über | |
| Diversität, Migration und Rassismus und lädt auch mal zur Podiumsdiskussion | |
| über Islamophobie. Das stößt manchen in den jüdischen Gemeinden sauer auf. | |
| ## Brillant, aber kein politischer Stratege | |
| Doch so richtig in Rage brachte die Pro-Israel-Fraktion eine Ausstellung | |
| des Museums: „Welcome to Jerusalem“, eine faszinierende, facettenreiche | |
| Darstellung der Bedeutung Jerusalems für Juden, Christen und Muslime. Viel | |
| gelobt, viel besprochen, gut besucht – davon träumt jede Kuratorin und | |
| jeder Direktor. Doch den Kritikern ging es um alles. „Die jüdische | |
| Perspektive auf Jerusalem“ sei eindeutig „zu kurz gekommen“, sagt Schuste… | |
| Das gehe nicht an, „wenn man sich Jüdisches Museum nennt“. Den Höhepunkt | |
| erreichte die Debatte, als sich Israels Regierungschef Benjamin Netanjahu | |
| 2018 bei der Bundesregierung schriftlich über die Jerusalem-Ausstellung und | |
| „antiisraelischen Aktivitäten“ des Museums beschwerte. Muss das Jüdische | |
| Museum in Berlin der Regierung in Israel gefallen? Noch so eine | |
| Grundsatzfrage. | |
| Damals saß Direktor Schäfer in seinem Büro und versuchte akademische | |
| Brandmauern gegen die politische Einflussnahme hochzuziehen. Die Kritiker, | |
| sagte er, würden immer auf dem Politischen rumhacken. Dabei gehe es in der | |
| Ausstellung gar nicht um Jerusalem als Hauptstadt Israels oder der | |
| Palästinenser, sondern um die Bedeutung der Stadt für die monotheistischen | |
| Religionen. Schäfer ist Wissenschaftler, brillant, sagen viele, aber kein | |
| politischer Stratege. Nicht die aufgeheizte Debatte interessiert ihn, | |
| sondern die zurückgelehnte Auseinandersetzung mit dem Judentum. Durch die | |
| heißen Gewässer des Nahostkonflikts, Debatten über Besetzung und | |
| Antisemitismus bewegt er sich erstaunlich gelassen – aber auch mit einem | |
| Mangel an Feinfühligkeit, der an Naivität grenzt. | |
| Nach dem Angriff des Zentralrats rudert Schäfer nun zurück, redet von | |
| Bedauern und dass das Museum ein neutrales Forum sei, das Debatten | |
| ermögliche, selbst aber nicht Position beziehe. Sanft kritisiert er | |
| „Interventionen von außen“, gibt aber nicht wirklich Kontra gegen die | |
| Angriffe, die die vertwitterte Leseempfehlung als aktive BDS-Unterstützung | |
| darstellen. Kein souveränes Bekenntnis zu einer offenen Debatte, an der | |
| auch all jene teilnehmen, die viele gern ausgeschlossen sähen – die klar | |
| die israelische Besatzungspolitik und die Ächtung von BDS kritisieren. | |
| Einer von ihnen ist Amos Goldberg, Professor für die Geschichte des | |
| Holocausts an der Hebräischen Universität in Jerusalem. Goldberg hat den | |
| Protestbrief der 240 israelischen und jüdischen WissenschaftlerInnen gegen | |
| den Bundestagsbeschluss initiiert. „Ich unterstütze BDS nicht“, betont er | |
| gegenüber der taz am Telefon. Goldberg empört, was Schuster nicht sieht: | |
| wie der Museums-Tweet mit „rhetorischen und demagogischen Sprüngen“ | |
| skandalisiert werde. Die Argumentionskette: Wer den Bundestagsbeschluss | |
| kritisiere, sei automatisch für BDS. Wer BDS unterstütze, sei Antisemit. | |
| „Sie missbrauchen und instrumentalisieren die deutsche Sensibilität beim | |
| Thema Antisemitismus“, sagt Goldberg. „Das – nicht BDS – ist eine große | |
| Gefahr für eine offene Gesellschaft.“ | |
| ## Wie geht es im Jüdischen Museum weiter? | |
| Zentralrat-Chef Schuster hält das für abwegig. „Die Meinungsfreiheit wird | |
| durch den BDS-Beschluss in keiner Weise eingeschränkt.“ Kritik an der | |
| israelische Regierung sei „doch weiterhin möglich“. | |
| Holocaust-Forscher Goldberg ist überzeugt, dass es bei dem deutschen Streit | |
| über BDS und den Tweet gar nicht um Antisemitismus, sondern um den | |
| Nahostkonflikt geht. Netanjahu wolle die Debatte darüber unterdrücken. | |
| Der Versuch, das Museum auf Linie zu bringen, erinnere „an die Praxis der | |
| Netanjahu-Regierung, Kritiker in Israel mundtot zu machen. Das darf nicht | |
| nach Deutschland schwappen.“ Das sagt Ofer Waldman, 40. Der Hörspielautor | |
| und Musiker lebt in Berlin und pendelt aus familiären Gründen zwischen | |
| Deutschland und Israel. Er ist Vorsitzender des New Israel Fund (NIF) in | |
| Deutschland, einer linksliberalen Organisation, die in Israel | |
| zivilgesellschaftliche Projekte unterstützt – ultraorthodoxe und | |
| palästinensische, LGBQ und besatzungskritische. | |
| Der NIF wird deshalb von rechten Medien und der Regierung seit Jahren als | |
| Verräter diffamiert. „In einem Land, das im permanenten Kriegszustand lebt, | |
| ist es gefährlich, als Verräter zu gelten“, sagt Waldman. Er ist in | |
| Jersualem aufgewachsen – und hatte in der Jerusalem-Ausstellung des Museums | |
| ein echtes Bildungserlebnis. „Ich habe erst im Berliner Museum erfahren, | |
| wie meine Heimatstadt aus der Sicht der arabischen Bewohner aussieht“ sagt | |
| er. | |
| Wie geht es im Jüdischen Museum weiter? Wer kommt, wenn der deutsche | |
| Katholik Schäfer 2020 geht? Die Findungskommission trifft sich in der | |
| nächsten Woche. Schuster, Chef des Zentralrats, hält eine jüdische Spitze | |
| in dem Haus für „zwar nicht zwingend“ nötig, aber: „Es wäre nicht schl… | |
| wenn es künftig eine jüdische Leitung“ gäbe. Vor allem soll die neue | |
| Leitung, so Schuster, „Defizite ausgleichen“. Das klingt nach strafferer | |
| Führung. Schäfers Nachfolge wird mehr als eine Personalie. Es ist das | |
| Spielfeld für den Kampf um das große Ganze. | |
| 14 Jun 2019 | |
| ## LINKS | |
| [1] http://twitter.com/jmberlin/status/1136633875411755010 | |
| [2] /Bundestagsbeschluss-zu-Israel-Boykott-/!5601030 | |
| [3] https://twitter.com/ZentralratJuden/status/1138364310294540288 | |
| ## AUTOREN | |
| Stefan Reinecke | |
| Jannis Hagmann | |
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