| # taz.de -- Tiere in Europa: Schafe haben Meinungen | |
| > Im Vergleich zur Literatur über Katzen, ist die über Schafe nicht | |
| > besonders üppig. Dabei ist es das vermutlich europäischste aller Tiere. | |
| Bild: Schafforscherin Thelma Rowell sagt: „Schafe haben Meinungen“ | |
| Alle [1][reden vom Wolf], wir von Schafen. Dabei ergab sich ein Problem: | |
| Ich kam ihrer Subjektivität nicht nahe. Die Literatur über Schafe steckt | |
| quasi noch im Lämmerstadium, insofern sie meist nur von Vernutzung, | |
| Krankheiten, Herden-Management, Wollpreisen und Schäferinnen handelt. | |
| Des ungeachtet veröffentlichte ich trotzdem ein kleines Buch über Schafe. | |
| Später erfuhr ich in der Biografie der berühmten amerikanischen | |
| Rinderexpertin Templin Grandin, dass sie das selbe Problem hatte: In den | |
| Instituten, die sich mit Nutztieren befassen, wird keine | |
| Verhaltensforschung betrieben. | |
| Rinder und Schafe sind Dinge im Privatbesitz, deren Aufzucht, Versorgung, | |
| Vermehrung und Haltung optimiert werden muss. Daneben gibt es eine | |
| ausufernde Literatur darüber, was das Quälen und Foltern von Schafen alles | |
| an wissenschaftlichem Fortschritt erbracht hat. Aber noch scheußlicher ist, | |
| dass [2][mit der Schafzucht und ihrer Ausbreitung] etwas schwer | |
| Metaphysisches über die Welt gekommen ist – eine Hirtenideologie: der | |
| Monotheismus (Judentum, Christentum und Islam). | |
| Mit der Domestizierung der Schafe entwickelte sich der Hirtenstand. Und | |
| bald wurden auch alle Herrscher als Hirten begriffen, sie behüteten die | |
| Menschen als Herde wie auch als Individuen. Der Wissenshistoriker Michel | |
| Foucault geht in seiner „Geschichte der Gouvernementalität“ davon aus, dass | |
| die Idee einer „pastoralen Macht“ (sei es Häuptling, König oder Gott) in | |
| Ägypten, Assyrien und Babylon entstand. Bei den Hebräern wurde dann das | |
| „Pastorat ein grundlegender Verhältnistypus zwischen Gott und dem | |
| Menschen“, meint Foucault. | |
| Es ging dabei, anders als heute, da man in Israel die Heilige Schrift gerne | |
| als Grundbuch liest, nicht um das Besetzen eines Territoriums: „Die Macht | |
| des Hirten wird per definitionem auf eine Herde ausgeübt.“ Dem griechischen | |
| Denken ist die Idee fremd, dass die Götter die Menschen wie ein Pastor, wie | |
| ein Hirte seine Schafherde führen. Sie haben „territoriale Götter“. | |
| Die orientalische Hirtenmacht wird dagegen laut Foucault auf „eine Herde in | |
| ihrer Fortbewegung, in der Bewegung“ ausgeübt. Das „Heil der Herde ist für | |
| die pastorale Macht das wesentliche Ziel“. | |
| ## Als Hirte von Gott auserwählt | |
| Moses, Abraham, Isaak und Jakob waren Schafhirten. Moses wurde als Hirte | |
| seines Volkes von Gott auserwählt, weil er seine Schafe in Ägypten so | |
| umsichtig gehütet hatte. In der „hebräischen Thematik der Herde“ schuldet | |
| der Hirte laut Foucault seinen Schafen alles, „derart, dass er hinnimmt, | |
| sich selbst für das Heil der Herde zu opfern“. | |
| Dass er seine Herde gegebenenfalls im Stich lässt, um ein Schaf zu retten, | |
| das sich verirrt hat, nennt Foucault „das Paradox des Hirten“, der das Eine | |
| für das Ganze opfert und das Ganze notfalls für das Eine: „Etwas, das im | |
| Mittelpunkt der christlichen Problematik des Pastorats steht.“ Dabei habe | |
| der „abendländische Mensch“ in Jahrtausenden gelernt, „was zweifellos ke… | |
| Grieche je zuzugestehen bereit gewesen wäre, sich als Schaf unter Schafen | |
| zu betrachten“. | |
| Der Dichter Hans Magnus Enzensberger hat dagegen 1957, als das Hirtentum | |
| nach dem verlorenen Krieg hierzulande noch darniederlag, aufbegehrt mit | |
| einer „Verteidigung der Wölfe gegen die Lämmer“. | |
| Die amerikanische Schafforscherin Thelma Rowell und die in der Lüneburger | |
| Heide lebende Tierrechtlerin Hilal Sezgin sind fast die einzigen, die | |
| primär am Verhalten der Schafe in ihren Herden interessiert sind. Erstere | |
| weiß inzwischen zu berichten: „Schafe haben Meinungen.“ | |
| Und letztere erzählte folgende Geschichte: Zuerst bekam sie drei | |
| Zwergziegen. Als sie diese zu ihren Schafen auf die Weide ließ, es war | |
| Winter, schliefen sie die erste Nacht vor dem Stalltor, die zweite auf der | |
| Torschwelle und die dritte im warmen Stall bei der Herde. Dann bekam die | |
| Autorin zwei Heidschnucken: Tristan und Isolde. | |
| Als sie auf die Weide kamen, „nahmen sie die Schafherde gar nicht zur | |
| Kenntnis“, wegen der Distanz zu ihnen musste sie die beiden extra füttern – | |
| draußen. [3][Die Schafe hatten im Stall ihre Raufe]; wenn sie gefüttert | |
| wurden, kam Isolde aber nach einiger Zeit ans Tor und guckte, wann denn sie | |
| und Tristan dran waren. Sie waren noch nicht Teil der Herde und schliefen | |
| draußen unterm Vordach. | |
| Da fing „eine der Zwergziegen an, Interesse an den beiden zu zeigen. Sie | |
| nahm eindeutig eine Zwischenposition ein“. Wenn die Heidschnucken tagsüber | |
| unter dem Vordach lagen, „legte sie sich ebenfalls dorthin, nicht direkt | |
| bei ihnen, aber nahe dran“. Als die Zwergziege sogar anfing, mit ihnen zu | |
| fressen, „eröffnete“ Hilal Sezgin einen „Extrahaufen Futter“ für sie. | |
| Vielleicht bekommen die da draußen was Besseres als wir im Stall, mögen | |
| einige Schafe drinnen gedacht haben. | |
| Das sagt die Autorin aber nicht, sie stellte nur fest: „Auf einmal | |
| schlichen sich immer mehr Schafe von drinnen nach draußen, um mit den | |
| dreien dort zu fressen. Das ist gerade die große Mode – das Beste | |
| überhaupt, wenn man gar nicht mehr drinnen isst. Sondern man isst jetzt | |
| draußen.“ | |
| 26 May 2019 | |
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| ## AUTOREN | |
| Helmut Höge | |
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