# taz.de -- Die Wahrheit: Tropfen vom verflüssigten Fleisch | |
> Die lustige Tierwelt und ihre ernste Erforschung (75): Speckkäfer feilen | |
> mit geduldigem Zahn die Knochen aus Kadavern. | |
Bild: Speckkäfer wesen so vor sich hin | |
Mit Inkarnation ist die Fleischwerdung gemeint, mit Reinkarnation also die | |
Wiederfleischwerdung. Ein komplizierter metaphysisch-moralischer Vorgang, | |
denkt man. In naturwissenschaftlicher Hinsicht ist die Reinkarnation | |
allerdings ziemlich einfach. Nehmen wir an, ein Mensch ist erschlagen | |
worden – oder noch besser: ein Maulwurf, von einem Schrebergärtner mit dem | |
Spaten. Wie geht es nun weiter mit seiner Reinkarnation, die primär ein | |
Umwandlungsprozess ist? Der Insektenforscher Jean-Henri Fabre hat sich mit | |
den Umwandlern in der Natur beschäftigt, „welche die Überreste des | |
Abgelebten wieder in die Schätze des Lebens überführen.“ | |
Als Erstes entdeckt eine Ameise das tote Tier, „und sie geht als Letzte“. | |
Dann kommen Fliegen unterschiedlichster Arten, unter anderem Gold- und | |
Fleischfliegen. Sie kriechen unter den Kadaver und legen ihre Eier dort ab: | |
mehrere Gelege mit je 150 Eiern von jedem Weibchen. Dazu brauchen sie | |
einige Tage. | |
Etliche Eier werden von den Ameisen geraubt. Nach 24 Stunden schlüpfen die | |
Jungen, sie sondern ein Sekret ab und verflüssigen Teile des Fleisches, das | |
sie aufsaugen. Sie haben Atemlöcher; wenn sie zu viele sind und zu viel | |
verflüssigen, ersticken einige Goldfliegenmaden darin. Anders die | |
Fleischfliegen, die ihre Maden lebend gebären: Diese haben ihre Atemlöcher | |
am Hinterleib, der verdickt ist und damit als „Schwimmer fungiert“. Vom | |
verflüssigten Fleisch tropft viel in die Erde ab; „wenn die Maden dick | |
genug sind, kriechen auch sie in die Erde, um sich zu verpuppen“. | |
Dann kommen die Schmeißfliegen – in „Kolonnen“, jedes Weibchen hat an die | |
20.000 Eier im Leib. Sie „riechen Tote über Hunderte von Metern“, heißt es | |
auf wissenschaft.de. Die Schmeißfliegeneltern leben zwar von Nektar und | |
Pollen, aber ihre Maden brauchen tierisches Eiweiß. Sie fressen eng | |
zusammengedrängt – mit einer „Atemrosette“ am Hinterleib, „die sich au… | |
Flüssigkeit entfaltet“. | |
## Fett gefressene Madenmassen | |
Drum herum warten immer mehr Stutzkäfer darauf, dass die Madenmassen sich | |
fett gefressen haben, dann verzehren sie diese – nur wenige überleben. Wenn | |
die Stutzkäfer fertig sind, fallen die Speckkäfer über das inzwischen | |
„mumifizierte Aas“ her. Sie verzehren den Kadaver bis auf die Knochen. | |
Speckkäfer können daneben große Schäden an Wollstoffen, Fellen, und in | |
Insekten- und Tiersammlungen anrichten. Weil sie in der Nähe des Menschen | |
auch in der kalten Jahreszeit ununterbrochen Generationen hervorbringen, | |
kommt es in den Naturkundemuseen immer wieder zum „Speckkäfer-Alarm“, wie | |
es auf kammerjäger.de heißt. Speckkäfer werden aber laut Wikipedia auch | |
gezielt von Museen eingesetzt, um Tierskelette von Weichteilen zu reinigen. | |
Die Speckkäferweibchen legen ihre Eier unter anderem in Fellreste und in | |
dunkle und warme Bereiche. | |
Am Verzehr der letzten Aasreste beteiligen sich auch noch Aas- und | |
Raubkäfer, ebenso ihre Maden, wobei die der Raubkäfer sich auch gegenseitig | |
töten und verzehren. Speck- und Aaskäfer feilen schließlich „mit ihrem | |
geduldigen Zahn“ Knochenteilchen heraus. | |
Noch ist das Fell übrig, darauf stürzen sich die Motten mit ihren Raupen. | |
Ebenso der Geperlte Erdkäfer. „Kein Atom darf verloren gehen.“ Gilt auch: | |
„Kein Gen darf verloren gehen“? Im Inneren des verwesenden Kadavers ist | |
unterdes längst das Immunsystem des Maulwurfs zusammengebrochen, sodass | |
auch die Bakterien beginnen konnten, ihn zu verdauen. Von außen kommen | |
weitere dazu sowie auch Pilze. | |
Wir verabscheuen die Aasfliegen, es gab jedoch Kulturen, in denen diese | |
Fliegen willkommen waren – wie die Moche, die bis zum achten Jahrhundert an | |
der Küste Perus lebten. Sie boten den Aasfressern ihre Verstorbenen an. | |
Deren Seelen werden von den Fliegen befreit und wieder in der Welt | |
ausgesetzt, glaubten die Moche. Ihnen zufolge ist die Reinkarnation mithin | |
eine Angelegenheit der Seele, die sich dazu der Fliegen bedient. Für die | |
Naturwissenschaft funktioniert die Reinkarnation dagegen fast nur mit den | |
Insekten – aber ohne die Seele, weswegen man unter Gläubigen auch gern von | |
seelenloser Wissenschaft spricht. | |
Die Insekten, im Verein mit Bakterien und Pilzen, vertilgen den | |
erschlagenen Maulwurf jedenfalls restlos. Er hat sich irgendwann | |
vollständig in Nahrung für sie aufgelöst. Gleichzeitig werden diese | |
Aasvertilger jedoch auch zur Nahrung von anderen Tieren und sogar von | |
(fleischfressenden) Pflanzen. Die Insekten werden in Massen von Vögeln | |
verzehrt, aber auch von Maulwürfen, die zur Ordnung der Insektenfresser | |
zählen und von Würmern und Insektenmaden leben. Sie verpaaren sich im | |
Frühjahr, ihre Weibchen bekommen nach etwa 35 Tagen bis zu neun nackte | |
Junge. | |
## Aasvertilger ohne Zugriff | |
Mit gutem Gewissen kann man nun eins oder sogar mehrere von ihnen als | |
Reinkarnation des erschlagenen Maulwurfs bezeichnen – und nicht nur | |
bezeichnen, sondern auch nahezu lückenlos chemisch-physikalisch | |
nachvollziehen. Dies würde ebenso der Fall sein, wenn der Maulwurf ein | |
erschlagener Mensch gewesen wäre, nur hätte man dessen Reinkarnation, seine | |
„Wiedergeburt“, nicht so leicht beobachten können, weil die Entwicklung | |
dahin, da man ihn schnell begraben hätte, vollständig unter der Erde | |
stattfände, wo etliche der erwähnten Aasvertilger nicht hinkommen, dafür | |
jedoch andere. | |
Dies hätte auch bei dem erschlagenen Maulwurf der Fall sein können, wenn | |
nämlich eine weitere Käferart, die Totengräber, rechtzeitig von seinem | |
Ableben erfahren hätte – über den Aasgeruch, den die freigesetzten Stoffe | |
Cadaverin und Putrescin verbreiten. | |
Die Totengräber rücken in kleinen Gruppen an, „ein Weibchen und drei | |
Männchen“ bei Fabre. Sie machen sich unter dem Kadaver zu schaffen und | |
buddeln ihn ein: möglichst so schnell, dass sie den Fliegen zuvorkommen. | |
Nach zwei Tagen unter der Erde ist aus dem Maulwurf eine „grünliche | |
Abscheulichkeit“ geworden, „enthaart und geschrumpft zu einem molligen | |
Balg“. Dieser ist für die Totengräber-Kinder gedacht. Sie verzehren ihn | |
eilig in zwei Wochen, dann verpuppen sie sich, bevor die Mikroorganismen im | |
Boden den Maulwurfrest in Humus verwandeln, wie Fabre meint. Während die | |
farbenprächtigen Totengräber-Eltern von Käfermilben langsam zerfressen | |
werden und sich überdies auch noch gegenseitig verzehren. | |
Ein Team von Wissenschaftlern aus vier deutschen Forschungsinstituten hat | |
die Rolle des Schwarzhörnigen Totengräbers und seiner symbiontischen | |
Mikroorganismen bei der Verdauung und chemischen Konservierung von Aas | |
während der Brutzeit untersucht: Der von den Totengräbern unter der Erde | |
geformte „Fleischball“, die Nahrung für ihren Nachwuchs, ist von dort | |
lebenden Bakterien und Pilzen gefährdet, die auch an diesem Fleisch | |
interessiert sind. Deswegen produzieren die Totengräbereltern | |
„Verdauungsenzyme und antimikrobielle Proteine, die sie als Sekret auf das | |
Fleisch übertragen“, das sie damit für ihre Maden „chemisch reinigen“. | |
Die natürliche oder ökologische Reinkarnation ist nichts anderes als eine | |
„ewige Wiederkehr“, weswegen so viele unserer Gene zum Beispiel mit denen | |
der Aasfliegen identisch geworden sind – bereits über sechzig Prozent. | |
6 May 2019 | |
## AUTOREN | |
Helmut Höge | |
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