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# taz.de -- Die Wahrheit: Finger an Finger, Gesicht an Gesicht
> Die lustige Tierwelt und ihre ernste Erforschung (74): Die sensiblen
> Gorillas freunden sich besonders gern mit Autisten und Außenseitern an.
Bild: Im privaten Kreis gelten die wilden Primaten als äußerst geduldige Zuh�…
„Noch nie ist ein Mitglied des Tierreiches mit größerer Sehnsucht erwartet
worden als dieser Gorilla, und noch nie ist das Schicksal eines Tieres
Gegenstand so erregter Kontroversen gewesen“, schrieb die Vossische Zeitung
1876. Es ging um den jungen Gorilla Pongo, den man im Aquarium Unter den
Linden ausstellte, wo er die Besuchermassen mit seinem freundlichen Wesen
begeisterte. Gorillas galten bis dahin als scheußliche Ungeheuer. Tote
Gorillas wurden in den Museen als zähnefletschende Bestien ausgestopft.
1877 lieh man Pongo an das Aquarium in London aus, wo er ebenfalls
„Triumphe feierte“. Wieder zurück in Berlin starb er.
Der folgende Gorilla hieß Bobby. Er kam 1928 als Zweijähriger in den
Berliner Zoo, wo er der Liebling der Besucher wurde. Er starb 1935. Im
Naturkundemuseum wurde er mit einer neuen Konservierungstechnik präpariert:
dickbäuchig und gemütlich, fast erheitert das Publikum betrachtend.
## Tierliebe und Menschenhass
Der nächste Gorilla, Digit, wurde im Regenwald von Ruanda berühmt, weil er
sich 1967 mit der Gorillaforscherin Dian Fossey anfreundete. Einmal nahm er
ihr Notizbuch und studierte es, danach drehte er sich um, legte sich hin
und schlief ein – ein großer Vertrauensbeweis. Die Szene wurde zum
Hauptteil einer Fernsehsendung der National Geographic.
Als Digit 1974 bei der Verteidigung seiner Familie von Wilderern getötet
wurde, entwickelte sich Fossey zu einer Menschenhasserin, die nicht vor
Gewalt gegen Einheimische zurückschreckte, um ihre Gorillas zu schützen.
1984 wurde sie ermordet, man begrub sie neben Digit. Auf ihrem Grabstein
steht: „Niemand hat Gorillas mehr geliebt“. Die Wissenschaftsjournalistin
Sy Montgomery nennt sie sowie die Orang-Utan-Forscherin Birute Galdikas und
die Schimpansenforscherin Jane Goodall „die drei größten
Wissenschaftlerinnen des 20. Jahrhunderts“.
## Zärtliche Umarmung
Andere Gorillaforscher führten Fosseys Arbeit im Camp Karisoke fort. Ruanda
verdient viel Geld am Gorillatourismus. Eine Drehgenehmigung kostet 2.000
Dollar pro Tag. Es gibt sieben an Menschen gewöhnte Gruppen: Die größte,
mit 30 Gorillas, lebt in den Virunga-Bergen, eine kleinere nahe der
Nationalparkgrenze. Sie wird von älteren Touristen besucht, die 600 Dollar
zahlen, ihre Begleiter führen Tragen für sie mit.
Im Jahr 2017 kam die Nachricht, dass drei männliche Gorillas in den Bergen
mehrere Fallen zerstört hätten: „Die Fallen waren für sie als Erwachsene
zwar nicht gefährlich, jedoch war kurz zuvor ein kleiner Gorilla in solch
einem ‚Schnappseil‘ zu Tode gekommen, nachdem er sich beim Versuch, daraus
zu entkommen, die Schulter gebrochen hatte.“ 2018 hieß es, dass der Konzern
„Total“ im Nationalpark Öl fördern werde.
Der Tierfilmer Andreas Kieling berichtete über seine dortige Begegnung mit
einem weiblichen Gorilla: „Sie packte mich am Handgelenk. Ich drehte meinen
Kopf weg, weil ich doch noch Angst hatte, sie könne mich ins Gesicht
beißen. Da legte sie ihren langen Arm um meine Schulter und drückte sich
fast zärtlich an mich. Nach wenigen Sekunden löste sie sich von mir und
ging zu ihrer Gruppe – und ließ mich fassungslos und tief bewegt zurück.“
## Reise ins Selbst
Im Sommer 2018 starb in San Francisco die Gorilla-Dame Koko – mit 46
Jahren. Sie mochte gern Katzen, konnte sich mit 1.000 Zeichen in der
Gebärdensprache verständigen und verstand noch mehr englische Wörter. Auf
die Frage: „Wohin gehen die Tiere, wenn sie sterben?“, antwortete sie – m…
drei Zeichen: „Gemütlich – Höhle – Auf Wiedersehen“.
Die 1964 geborene Autistin Dawn Prince-Hughes bekam in den neunziger Jahren
eine Anstellung als Tierpflegerin im Zoo von Seattle, wo sie bei den
Gorillas „aus der dunklen Seite des Asperger-Syndroms in seine Schönheit
hinaustrat“, schreibt sie in ihrer Biografie: „Heute singe ich mein Leben“
(2005).
Sie erzählt darin, wie sie „als Kind ein unzivilisiertes Wesen ohne
Orientierung“ war, aber dann „zu einem wilden Wesen im Umfeld einer Familie
von Gorillas“ wurde. Unter „unzivilisiert“ versteht sie zum Beispiel, dass
sie während einer Unterhaltung „im Kopf Zahlenreihen aufsagte“. Während
ihrer Tierpflegerarbeit fand sie „zum urtümlichsten und ältesten Teil ihres
‚Selbst‘ zurück – in die stillen Nischen des Bewusstseins, wo die Evolut…
eine Pause eingelegt und ihr Volk mitgebracht hat“. Dies gelang ihr
„zusammen mit den ersten und besten Freunden, die ich je hatte: eine
Familie in Gefangenschaft lebender Gorillas, Vertreter eines uralten
Geschlechts“. Weil diese Menschenaffen sanfte Wesen sind, konnte
Prince-Hughes sie auf eine Weise ansehen und beobachten, „wie ich das bei
Menschen nie fertiggebracht hatte. Genau wie Autisten werden Gorillas
missverstanden.“
## Pforten der Wahrnehmung
Den Weg zu ihrem Verständnis fand sie zuerst als Zoobesucherin durch das
Glas ihres Geheges. Als Tierpflegerin im Versorgungstrakt dann war sie nur
noch durch ein Gitter von ihnen getrennt. Als sie dem alten Männchen Congo
Erdbeeren füttern sollte und er eine nach der anderen gereicht bekommen
wollte, passierte es: „Wir legten unsere Finger gleichzeitig auf den Sims.
Wir schauten einander an. Unsere Gesichter berührten sich fast. Ich ließ
mich in seine Berührung und seine Nähe sinken.“ So ist es also, dachte sie,
„nicht allein zu sein in einem Raum, durch den wir zwischen Kälte und Tod
dahinrasen. So ist es, wenn man lebt, dachte ich.“
Inzwischen engagiert sie sich beim Aufbau einer neuen Kultur der Autisten
ähnlich wie die Gemeinschaft der Gehörlosen. Die Gorillas gaben ihrem
Leben „ein Werden“ und „eine neue Weltsicht“, mit der sie „ein
zusammenhängendes Umfeld“ für sich aufbauen konnte.
Auch die bekannteste amerikanische Züchtungsforscherin, Temple Grandin, ist
eine Autistin, der Tiere Pforten der Wahrnehmung öffneten. „Ich sehe die
Welt wie ein frohes Tier“ heißt ihr letztes Buch.
## Tröstender Gorilla
In Seattle hatte Dawn Prince-Hughes zunächst die „Stammeswurzeln der
urbanen Gesellschaft erforscht“, unter anderem indem sie nach einer Zeit
der Obdachlosigkeit in einem von Frauen geführten Striptease-Club tanzte –
in Tierfelle gehüllt und, obwohl platonisch-lesbisch, bei den mit
Extremsex liebäugelnden „Modern Primitives“ mitmachte.
Einmal gewann sie den Titel „Miss Seattle Leather Woman“ – was jedoch „…
Grunde ein Debakel war“. Aber dann machte die Highschool-Abbrecherin bei
einem „Zootierforschungsprogramm“ eines Colleges mit und spezialisierte
sich auf Verhaltensforschung. Als Tierpflegerin trug man ihr dann an, die
Gorillas zu beobachten und sich Notizen zu machen. Damit promovierte sie in
der Schweiz als Anthropologin, ihre Professoren prüften sie in Las Vegas.
Wenn sie beim Studium nicht weiter wusste, tröstete Congo sie. Als er 1996
mit 37 Jahren starb, verließ sie den Zoo. Heute ist sie
Assistenzprofessorin an der Western-Washington-Universität.
23 Apr 2019
## AUTOREN
Helmut Höge
## TAGS
Tierwelt
Primaten
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Biologie
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