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# taz.de -- Die Wahrheit: Odinshühnchen und Thorshühnchen
> Die lustige Tierwelt und ihre ernste Erforschung (73): Was haben
> skandinavische Frauen und arktische Schnepfenvögel gemeinsam?
Bild: Wird im Internet meist nach arktischen Touristenreisen erwähnt – ein O…
In Stockholm, wohin ich 1968 vom Militärdienst desertiert war, ging ich
einmal in eine Diskothek. An den Tischen saßen viele Frauen, an der Theke
einige wenige Männer. Ich setzte mich ebenfalls an die Theke. Es wurde
getanzt. Irgendwann stand ich auf und forderte eine Frau zum Tanzen auf,
sie lehnte ab. Dies wiederholte sich nach einer Weile. Enttäuscht bestellte
ich an der Theke erneut etwas zu trinken. Da stand hinter mir eine Frau und
forderte mich zum Tanzen auf. So wurde das dort also geregelt. In
Skandinavien sind die Frauen emanzipierter als anderswo, so mein Eindruck
damals.
Bestätigt hat ihn jetzt der dänische Schriftsteller Kim Leine, der als
Krankenpfleger in einer Siedlung auf Grönland arbeitete, mit seinem Buch
„Die Untreue der Grönländer“ (2012). Im Original heißt es „Tunu“, was
Ostgrönland bezeichnet. Eine sehr dünn besiedelte Region, die 1931 von
Norwegen besetzt wurde, mit der Begründung, dass Dänemark diesen Teil
seiner Kolonie vernachlässigt habe. 1935 gaben die Norweger klein bei,
seitdem halten sie sich an Spitzbergen. Große Reichtümer kann man auf
beiden Inseln nicht erwerben, zumal aufgrund eines internationalen
Artenschutzabkommens mit dem Erlegen von Robben, Eisbären und Walen kein
Geschäft mehr zu machen ist.
Im selben Jahr, da die Norweger Tunu besetzten, ließ sich der holländische
Verhaltensforscher Nikolaas Tinbergen mit seiner Frau im Südosten Grönlands
nieder, wo sie bei einem Schamanen wohnten. 1934 veröffentlichte er das
Buch „Eskimoland“, in dem er seine Forschungen dort zusammenfasste. Unter
anderem ging es darin um das Odinshühnchen, das ebenso wie das
Thorshühnchen zur Familie der arktischen Schnepfenvögel und zur Gattung der
Wassertreter zählt. Bei diesen zwei Vogelarten sind die Weibchen zur
Balzzeit bunter als die Männchen. Und sie umwerben auch die Männchen, die
dann die Jungvögel aufziehen. Nach der Mauser sind beide Geschlechter bei
den zwei Arten im „Schlichtkleid“ grauweiß.
Von den Thorshühnchen brüten etwa 50 Paare auf Island, 800 auf Spitzbergen
und 300 auf Grönland. Die Odinshühnchen brüteten einst auch in Finnland und
Norwegen, inzwischen hat sich ihr Verbreitungsgebiet jedoch, wahrscheinlich
klimabedingt, nach Spitzbergen und Nowaja Semlja verschoben. Sie bevorzugen
das Landesinnere, während die Thorshühnchen die Küstennähe vorziehen. Deren
Winterquartiere befinden sich an den Küsten Südamerikas und Westafrikas,
die der Odinshühnchen in Patagonien und im südlichen Japan.
## Langzieher und Wassertreter
Beide sind sogenannte Langzieher. Und Wassertreter heißen sie, weil sie
sich im flachen Wasser im Kreis drehen und dabei mit dem Bodenschlick
kleine Wassertiere hochwirbeln, die sie „dann zügig aus dem Wasser picken“,
wie es auf polarkreuzfahrten.de heißt. Sie selbst sind Beutetiere von
Raubmöwen, Schneeeulen und Polarfüchsen. Zum Schutz suchen – wenigstens die
Thorshühnchen – die Gesellschaft von Küstenseeschwalben.
Diese reagieren sowohl einzeln als auch in ihren Kolonien sehr aggressiv,
wenn jemand ihren Gelegen zu nahe kommt, heißt es. An der Eidermündung sah
ich jedoch 2007, dass sie Touristen bis auf zwei Meter an sich herankommen
lassen. Sie greifen nur Mitarbeiter des schleswig-holsteinischen
Nationalparks Wattenmeer an, denn die haben ihre Jungen im Jahr zuvor
beringt und das haben sie als feindlichen Angriff in Erinnerung behalten.
Auf der [1][Webseite] „Reisebericht Island 2007“ findet sich ein Film über
zwei Thorshühnchen-Weibchen an einem Westfjord, die um ein Revier kämpfen.
Die Autoren sprechen von einem „Highlight der diesjährigen Islandfahrt“.
Zwar ist der Ort „der einzig bekannte auf Island, wo man mit Thorshühnchen
rechnen kann“, wie [2][birdingtours.de] berichtet, „doch das ist alles
andere als sicher“.
## Im Frühjahrsdurchzug
Noch mehr gilt das für Schleswig-Holstein, wo die ornithologische
Arbeitsgemeinschaft aktuell nur drei gesichtete Thorshühnchen als
zweifelsfrei anerkannte. Über die Odinshühnchen heißt es dagegen auf
[3][vogelwelt-sachsen-anhalt.de]: „Dem Frühjahrsdurchzug sind 28 Meldungen
zuzuordnen; auf den Wegzug zwischen Mitte Juli und Ende Oktober entfallen
155 Nachweise. Zur Nahrungsaufnahme nutzen die etwa strandläufergroßen
Vögel dort Vernässungsflächen des Braunkohleabbaus. Die Beobachter konnten
sich ihnen auf zwei bis drei Meter nähern. Nicht zuletzt deswegen findet
man im Internet so viele gelungene Fotos von Odinshühnchen.“
Man sichtet sie eigentlich überall auf der Welt. So fand man sie auch unter
den 32 Schnepfenvögeln Guatemalas, wie cayuga-birding.de meldet.
Prinzipiell gilt jedoch, dass der Bestand der Schnepfenvögel, wie der
Watvögel überhaupt und vor allem der Bestand der in der Arktis brütenden
Vögel, seit 1973 um etwa 70 Prozent geschrumpft ist. Es ist jedoch
schwierig, etwas dagegen zu tun, „denn diese Vögel fliegen rund um die Welt
und deshalb kommt alles Mögliche als Ursache in Frage“, meint der Ökologe
Paul Smith, der an ihrer Zählung per Hubschrauber über der vereisten Hudson
Bay beteiligt war.
Die Odins- wie die Thorshühnchen werden im Internet meist nach arktischen
Touristenreisen erwähnt, ansonsten erfährt man wenig über sie, eigentlich
nur flüchtiges Artwissen. Das gilt auch für den Nobelpreisträger Niko
Tinbergen und seine Vogelforschung auf Grönland, die sich durch den engen
Kontakt zu den Inuit veränderte, wie sein Schüler, der Hyänenforscher Hans
Kruuk, in einer Biografie über ihn bemerkt: Die Inuit geheimnissen nichts
in die Tiere hinein, sie betrachten sie als (Jagd-)Objekte. Tinbergen wurde
dadurch weniger sentimental, eher mechanistisch in seiner
Verhaltensforschung. Sein Lehrbuch hieß dann auf Englisch „Study of
Instinct“. Und Instinkte sind bei allen Tieren einer Population gleich,
oder es sind keine Instinkte. Dies führt bei ihrer Beobachtung zum
Ignorieren aller individuellen Besonderheiten.
Tinbergen hat zudem allzu schnell verallgemeinert. Die Bonner
Verhaltensforscherin Hanna Maria Zippelius widerlegte ab 1980 die
Instinkttheorie von ihm und Konrad Lorenz empirisch – vor allem anhand von
Beobachtungen an Silbermöwen und Stichlingen, mit denen sich Tinbergen am
intensivsten beschäftigt hatte. Über die Stichlinge schrieb er ein
Kinderbuch, seine Möwenforschung wurde in die holländischen Schulbücher
aufgenommen. Das Verhalten der von Zippelius untersuchten Tierarten wird
wesentlich auch von der Umwelt beeinflusst und gelernt. Inzwischen reden
eigentlich nur noch uninformierte Laien von Instinkten. Und wenn man den
männlichen Neodarwinisten glauben darf, dann sind speziell die Odins- und
die Thorshühnchen sowieso von allen guten Instinkten verlassen.
8 Apr 2019
## LINKS
[1] https://www.ringdrossel.de/Reisebericht-Island-2007/island-2007.html
[2] http://www.birdingtours.de
[3] http://vogelwelt-sachsen-anhalt.de/
## AUTOREN
Helmut Höge
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