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# taz.de -- Kolumne Sternenflimmern: Europa, verdammtes Europa
> Die Europäische Union ist sowohl Sehnsuchtsort als auch Ort des Protests
> – beides zu Recht. Verändern muss sie sich dennoch.
Bild: Für Europa zu stimmen darf nicht nur ein Zeichen gegen rechts sein
Interessant wäre es ja schon, was Frantz Fanon zur anstehenden Europawahl
sagen würde – also zu jener Wahl, die offenbar nicht irgendeine, sondern
eine Schicksalswahl für die EU sein soll. Nicht nur, weil Fanon als einer
der antikolonialen Vordenker gilt, sondern weil er, wenn er noch leben
würde, vielleicht auch mitwählen könnte. Schließlich wurde Fanon 1925 auf
der französischen Kolonie Martinique geboren, also jener Karibikinsel, die
bis heute ein Überseedépartment Frankreichs ist und damit auch Teil der EU.
Fanon ging 1944 freiwillig zu den Forces françaises libres, die für ein
freies Frankreich und gegen Nazi-Deutschland kämpften. Nach dem Zweiten
Weltkrieg kehrte er nach Martinique zurück, studierte dann in Frankreich
Medizin und Philosophie, um später als Arzt in Algerien zu arbeiten. Dort
unterstützte er ab 1956 die Nationale Befreiungsfront FLN, die die
algerische Unabhängigkeit erkämpfte.
Nun könnte man auf einer Metaebene durchaus darüber streiten, ob Fanon mit
seinem Lebenslauf eher für oder gegen Europa gekämpft hat oder vielleicht
beides. Jedenfalls sollte man sich darauf einigen können, dass er doch zum
jeweiligen historischen Zeitpunkt auf der richtigen Seite stand. Gegen die
Nazis und gegen die Kolonialmacht. Das klingt nicht falsch.
Die algerische Unabhängigkeit 1962 erlebte Fanon selbst nicht mehr. Aber
kurz vor seinem Tod 1961 publizierte er „Die Verdammten dieser Erde“ –
[1][was zur Kampfschrift der antikolonialen Linken avancierte]. „Verlassen
wir dieses Europa, das nicht aufhört, vom Menschen zu reden, und ihn dabei
niedermetzelt, wo es ihn trifft, an allen Ecken seiner eigenen Straßen, an
allen Ecken der Welt“, schrieb er darin.
Ein Satz, der auch nach dem Ende des Kolonialismus erstaunlich aktuell
daher kommt. Denn die Tatsache, dass Europa gern die Menschenrechte
hochhält und gleichzeitig Menschen wissentlich im Mittelmeer ertrinken
lässt, ist Teil europäischer Realität.
## Deklarierte Gleichheit neben gelebter Ungleichheit
Fanon plädierte seinerzeit dafür, Europa nicht zu imitieren: „Also, meine
Kampfgefährten, zahlen wir Europa nicht Tribut, indem wir Staaten,
Institutionen und Gesellschaften gründen, die von ihm inspiriert sind.“
Doch nach seinem Tod hat sich einiges verschoben: Europa hat keine Kolonien
mehr und ehemals kolonisierte Länder haben nach ihrer Unabhängigkeit oft
auch zweifelhafte Entwicklungen genommen.
Was würde Fanon heute zu den Massenprotesten in Algerien sagen, die den
Langzeitherrscher Abdelaziz Bouteflika verjagt haben, der auch in der FLN
war? Und wie würde er die Protestbewegung der französischen Gelbwesten
einschätzen?
Die EU ist heute Sehnsuchtsort und Ort des Protests – beides zu Recht.
Deklarierte Gleichheit neben gelebter Ungleichheit. Die EU schottet sich
nicht nur nach außen ab, sondern auch innerhalb der EU profitieren nicht
alle Mitgliedstaaten gleichermaßen.
Trotz allem für Europa zu stimmen darf deshalb nicht nur ein Zeichen gegen
rechts sein. [2][Die EU muss sich verändern]. Verdammt ja, für Europa.
14 May 2019
## LINKS
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[2] /Kolumne-Sternenflimmern/!5589562
## AUTOREN
Jasmin Kalarickal
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