# taz.de -- Kolumne Sternenflimmern: Zwei Wahlen, eine Vergangenheit | |
> Großbritannien und Indien teilen ein Schicksal. Für beide entscheidet | |
> sich Ende Mai viel, denn es geht um das Erstarken des Nationalismus. | |
Bild: In Indien gibt es rund 900 Millionen Wahlberechtigte | |
Als die Briten 2016 für einen EU-Austritt stimmten, da wurden andernorts | |
Witze gemacht, dass der eigentliche Brexit 1947 stattgefunden habe: Als | |
Indien nach über einem Jahrhundert britischer Kolonialherrschaft seine | |
Unabhängigkeit feierte. Und nun, im Mai 2019, stehen beide Länder vor | |
Wahlen (etwa 900 Millionen Wahlberechtigte gibt es in Indien, 400 Millionen | |
in der EU). | |
Großbritannien darf am 23. Mai trotz Brexitplänen an der EU-Wahl | |
teilnehmen, Indien wählt über einen Zeitraum von sechs Wochen ein neues | |
Parlament, am 23. Mai wird ausgezählt. | |
Zwei Wahlen, zwei Länder, zwei Schicksale – verbunden mit einer gemeinsamen | |
Vergangenheit, auf die niemand stolz sein sollte und die bis in die | |
Gegenwart reicht. In der [1][New York Times beschrieb der Autor Pankaj | |
Mishra jüngst] das Verhalten der Brexiteers als ähnlich inkompetent wie | |
einst das der britischen Elite, als es um die Teilung von Indien und | |
Pakistan ging. | |
Es soll hier aber nicht um Kolonialzeitbashing gehen. Bei beiden Wahlen | |
geht es um das Erstarken von Nationalismus. Während man sich in | |
aufgeklärten europäischen Kreisen von diesem Wort distanziert, ist es in | |
Indien komplizierter. Der Stolz, Nation zu sein, ist verbunden mit dem | |
Unabhängigkeitskampf. Die Gründung der Nation besiegelte das Ende der | |
Fremdherrschaft. | |
## Europa sollte seine Kolonialzeit aufarbeiten | |
Diese Zeiten [2][wünschen sich nun offenbar die Brexiteers zurück] und | |
schwelgen in sentimentaler Kolonialromantik: das gute alte Empire, | |
Wohlstand auf Blut gebaut, Tee getrunken, Spaß gehabt. Bei ehemaligen | |
Kolonien kommt es nicht gut an, wenn Großbritannien auf gute | |
Handelsbeziehungen setzt und einen auf Empire 2.0 macht. | |
Wirtschaftlich hat Indien aufgeholt – auch wenn dort nur wenige davon | |
profitieren. Indiens Premier [3][Narendra Modi ist 2014 mit dem Versprechen | |
angetreten], die Wirtschaft zu modernisieren, Korruption und Armut zu | |
bekämpfen. Niemand konnte das so gut verkörpern wie er, der sich vom | |
Teeverkäufer bis an die Spitze eines 1,3-Milliardenlandes hochgearbeitet | |
hatte. Das ist die eine Geschichte, die erzählt wird. | |
Die andere lautet: Modis Leben ist eng verknüpft mit dem Hass auf Muslime. | |
Auch in Indien wird eine Islamisierung heraufbeschworen. Hass gegen | |
Minderheiten ist ein globales Phänomen. Bei der anstehenden Wahl geht es | |
nicht nur um Modis zweite Amtszeit, sondern um Folgen von | |
Hindunationalismus, das Selbstverständnis Indiens als Vielreligionenstaat, | |
Frieden in der Region. | |
Die Hindunationalisten und die Brexiteers haben gemein, dass sie gern für | |
ihre Zwecke an die Vergangenheit erinnern. Nur berufen sie sich auf die | |
Präkolonialzeit, was tückisch ist, schließlich existierte Indien damals | |
nicht in heutiger Form. | |
Man kann aus beiden Wahlen also zwei Schlüsse ziehen: Europa sollte seine | |
Kolonialzeit aufarbeiten. Und: Geschichtsfärberei, Hass und Nationalismus | |
sind eine schlechte Zukunftsvision, egal wo, egal von wem, egal wie. | |
17 May 2019 | |
## LINKS | |
[1] https://www.nytimes.com/2019/01/17/opinion/sunday/brexit-ireland-empire.htm… | |
[2] /Essay-Britische-Kolonialnostalgie/!5550466 | |
[3] /Hindu-Nationalist-Narendra-Modi/!5042611 | |
## AUTOREN | |
Jasmin Kalarickal | |
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