| # taz.de -- Europas Sozialpolitik: Medizin gegen Rechts | |
| > Sinn und Zukunft der EU bestehen auch darin, für soziale Sicherheit zu | |
| > sorgen. Aber warum kommt dieses soziale Europa nur so langsam voran? | |
| Bild: Kreativität, Leistungsbereitschaft und Zusammenhalt – eine Pille gegen… | |
| Es ist ein großer Fortschritt, der zu wenig gewürdigt wird: Die Europäische | |
| Union hat es geschafft, sich auf ein epochales Prinzip zu einigen. Es heißt | |
| „[1][gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort]“. Polnische | |
| Bauarbeiter müssen den bundesdeutschen Tariflohn erhalten, wenn sie ein | |
| Gebäude in Hannover errichten. Deutsche Kellnerinnen in österreichischen | |
| Skihütten bekommen den dort gültigen Lohn, wenn er höher ist als der | |
| hiesige. | |
| Das ist der Grundsatz der sogenannten Entsenderichtlinie. Das EU-Parlament | |
| hat die Reform bereits im Jahr 2018 beschlossen. Spätestens ab Sommer 2020 | |
| wird sie für rund 450 Millionen Europäer*innen gelten. | |
| Augenblicklich dürfen rumänische oder bulgarische Firmen ihren Leuten noch | |
| die niedrigen einheimischen Löhne zahlen, wenn sie sie nach Deutschland zum | |
| Arbeiten schicken. Die Billig-Konkurrenz nervt hiesige Firmen und | |
| Beschäftigte. Doch bald ist Schluss mit dieser Art des Lohndumpings. Die | |
| Botschaft lautet: Die als Wirtschaftslobby und Bürokratenkonvent verrufene | |
| EU kann auch Sozialpolitik! Sie vertritt auch die Interessen von | |
| Arbeitnehmer*innen. | |
| Was bringt mir Europa eigentlich?, fragen viele Bürger*innen. Inzwischen | |
| bekommt die EU Druck aus mehreren Richtungen – von konkurrierenden Mächten | |
| wie China, den sich verabschiedenden Briten, autoritären Regierungen in | |
| Warschau oder Budapest. Auch in westlichen Kernländern der Union behaupten | |
| Rechtspopulisten, das gemeinsame Europa biete zu wenige Vorteile und zu | |
| viele Nachteile. | |
| Weit weg ist die Europäische Union heute aus der Sicht vieler | |
| Einwohner*innen. Alte Pro-EU-Argumente – 75 Jahre Frieden – ziehen nicht | |
| mehr richtig, neue sind zwiespältig: Grenzüberschreitende Mobilität für | |
| Arbeitnehmer kann eine schöne Sache sein, allerdings nicht für diejenigen, | |
| die ihre Heimat verlassen müssen, weil sie dort keinen Job mehr finden. | |
| ## Europäische Sozialversicherung könnte funktionieren | |
| Persönliche Kosten-Nutzen-Rechnungen sind ein politischer Faktor. [2][Die | |
| Bewegung der Gelbwesten in Frankreich] entzündete sich unter anderem an der | |
| taxe carbone, der steigenden Ökosteuer, die Benzin auch für diejenigen | |
| verteuerte, die auf dem Land keine Arbeit mehr finden und mit dem Wagen in | |
| die Stadt zur Arbeit pendeln müssen, wo sie allerdings nur magere Einkommen | |
| erzielen. Solche Erwägungen müssen in der europäischen Politik künftig eine | |
| größere Rolle spielen. | |
| Manche EU-Politiker*innen haben das schon gemerkt. Sie denken sich Konzepte | |
| aus, die praktischen, finanziellen Nutzen versprechen. So propagierte | |
| Manfred Weber (CSU), Spitzenkandidat der Europäischen Volkspartei, dass die | |
| EU allen Abiturient*innen ein Interrail-Ticket für die Bahn schenken solle, | |
| um sie zur Erforschung des Kontinents zu animieren. Das großzügige Vorhaben | |
| wurde jedoch heruntergekocht: 2018 erhielten nur rund 30.000 junge Menschen | |
| den kostenlosen Fahrschein. | |
| Bundesfinanzminister Olaf Scholz (SPD) nahm ebenfalls einen Anlauf. Von ihm | |
| stammt der [3][Vorschlag einer europäischen Arbeitslosen-Rückversicherung]. | |
| Dieser entstand unter anderem aus Diskussionen zwischen den französischen | |
| und deutschen Regierungen. Scholz versteht ihn auch als ein Mittel, um den | |
| Rechtspopulisten das Wasser abzugraben. | |
| Grundsätzlich könnte diese neue europäische Sozialversicherung | |
| funktionieren: In guten Zeiten zahlen die Mitgliedsländer Milliarden Euro | |
| in einen gemeinsamen Topf, aus dem sie im Falle von Wirtschaftskrisen | |
| Zuschüsse zu ihren nationalen Arbeitslosenversicherungen erhalten. Dieses | |
| Geld verhindert, dass sie Leistungen an ihre Arbeitslosen kürzen, wenn der | |
| Abschwung länger dauert. Die Unterstützung aus Brüssel wirkt | |
| stabilisierend, sozial und ökonomisch. | |
| Freilich ist auch dieses Projekt nur die Mini-Ausgabe einer größeren | |
| Version. Dabei würden Erwerbslose individuell Überweisungen der EU | |
| erhalten, die das nationale Arbeitslosengeld aufstocken. Die Zuwendung aus | |
| Brüssel würde beweisen: Die EU kümmert sich, sie verbessert das Leben ihrer | |
| Bürger*innen, sie hat einen unmittelbaren Sinn. Eine derart spürbare | |
| Sozialpolitik ist jedoch schwer durchzusetzen. | |
| Das liegt auch an der Entstehungsgeschichte der Staatengemeinschaft, | |
| erklärt Simone Leiber, Politikprofessorin der Uni Duisburg-Essen. Anfangs | |
| hieß das Ganze schließlich noch Europäische Wirtschaftsgemeinschaft. Die EU | |
| begann als wirtschaftliche Integration und Vereinheitlichung von Märkten. | |
| ## Eine gute Medizin gegen Rechts | |
| Diese Logik dominiert noch heute. Die Mitglieder können sich eher darauf | |
| verständigen, Beschränkungen für Firmen zu verringern, als neue soziale | |
| Standards festzusetzen. In den neoliberalen Jahrzehnten zwischen 1980 und | |
| 2010 war diese Tendenz besonders ausgeprägt. Überhaupt besitzt die EU nur | |
| begrenzte Kompetenzen für Sozialpolitik. | |
| Die Sozialversicherungen, Beiträge und Löhne sind zum großen Teil Sache der | |
| Nationalstaaten. CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer betonte das unlängst | |
| noch einmal, als sie auf die Reformvorschläge des französischen Präsidenten | |
| Emmanuel Macron antwortete: „Eine Europäisierung der Sozialsysteme und des | |
| Mindestlohns wären der falsche Weg.“ | |
| Allerdings ist die EU auch heute keine unsoziale Veranstaltung. „Dank der | |
| Struktur- und Kohäsionsfonds konnten regionale Ungleichheiten bekämpft | |
| werden“, sagt Sophie Pornschlegel von der Denkfabrik Das Progressive | |
| Zentrum in Berlin. „Auch die Teilhabe am gemeinsamen Binnenmarkt hat den | |
| Wohlstand der Mitgliedstaaten steigen lassen – jedoch ohne unbedingt | |
| gerecht verteilt zu sein.“ Während der vergangenen zehn Jahre mussten | |
| Mitglieder wie Griechenland und Portugal herbe Rückschläge verkraften. | |
| Manchmal klappt sogar eine gemeinsame Sozialpolitik, die über das Minimum | |
| hinausgeht – wie bei der Entsenderichtlinie. Entscheidend war dabei, dass | |
| viele Regierungen Lohndumping aus dem Ausland als Problem betrachteten. | |
| Frankreich, Deutschland und die Benelux-Länder waren ebenso betroffen wie | |
| Polen, Ungarn und Rumänien. | |
| So ist die Debatte über eine stärkere, gemeinsame soziale Sicherung in | |
| Europa im Gang. Zum Beispiel schlägt die SPD im Wahlkampf vor, dass der | |
| Mindestlohn in jedem Staat 60 Prozent des Durchschnittsverdienstes betragen | |
| solle. Das ist richtig, weil der Sinn Europas auch darin besteht, die | |
| soziale Sicherheit der Einwohner*innen zu erhöhen. | |
| So fördert man Kreativität, Leistungsbereitschaft und Zusammenhalt – eine | |
| gute Medizin gegen Rechts. Um Europa gegen seine Feinde zu schützen, holt | |
| man es am besten näher an die Bürger*innen heran. | |
| 12 May 2019 | |
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| Hannes Koch | |
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