| # taz.de -- Urteil zu inklusivem Wahlrecht: Stimmabgabe möglich | |
| > Das Bundesverfassungsgericht hat entschieden, dass Vollbetreute auf | |
| > Antrag bei der Europawahl teilnehmen dürfen. Details sollen folgen. | |
| Bild: Bei der Urteilsverkündung blieben einige Fragen offen | |
| Karlsruhe taz | Geistig Behinderte, die bisher nicht wählen durften, können | |
| auf Antrag an der kommenden Europawahl teilnehmen. Das | |
| Bundesverfassungsgericht (BVerfG) erließ an Montagabend eine entsprechende | |
| Eil-Anordnung. Erfolg hatte damit [1][ein gemeinsamer Antrag] von 216 | |
| Bundestagsabgeordneten der Grünen, der Linken und der FDP. | |
| Bis Anfang des Jahres waren Menschen, für die in allen Angelegenheiten ein | |
| rechtlicher Betreuer bestellt ist, bei fast allen Wahlen ausgeschlossen. | |
| Für Bundestagswahlen erklärte das Bundesverfassungsgericht dies jedoch | |
| [2][Anfang des Jahres für verfassungswidrig]. Die rund 81.000 Betroffenen | |
| würden „ohne hinreichenden sachlichen Grund“ von der Wahl ausgeschlossen. | |
| Denn die Art der Betreuung sei kein sinnvolles Kriterium für einen | |
| Wahlrechtsausschluss. Manche der Vollbetreuten könnten mit Assistenz | |
| durchaus selbstbestimmt wählen, während für die ganz große Mehrheit der | |
| rund 700.000 Demenzkranken bisher gar kein Wahlrechtsausschluss gelte. | |
| In der Folge musste der Bundestag entscheiden, ob er bessere Kriterien | |
| findet, um Personen mit stark beschränkten geistigen Fähigkeiten von der | |
| Wahl auszuschließen oder ob er auf Wahl-Ausschlüsse künftig verzichtet. | |
| Mitte März votierte der Bundestag mit großer Mehrheit dafür ,ein | |
| „inklusives Wahlrecht“ für alle zu schaffen. Behinderten-Organisationen wie | |
| die Lebenshilfe hatten sich schon lange dafür stark gemacht. | |
| Für die kommende Europawahl am 26. Mai sollte das inklusive Wahlrecht | |
| allerdings noch nicht gelten. CDU/CSU und SPD wollten das neue Wahlrecht | |
| erst einmal gründlich diskutieren. Einen Antrag von Grünen, Linken und FDP, | |
| die Wahlrechtsausschlüsse im Europawahlgesetz einfach zu streichen, lehnte | |
| die Mehrheit ab. So müsse zum Beispiel erst diskutiert werden, welche Art | |
| von Assistenz geistig behinderte Wähler brauchen. Außerdem müsse mit | |
| Strafvorschriften die Manipulation der assistenzbedürftigen Wähler | |
| verhindert werden. | |
| ## „Es fehlt schlicht die Zeit“ | |
| Doch die Abgeordneten der drei Oppositionsfraktionen gaben nicht auf und | |
| stellten einen Eilantrag an das Bundesverfassungsgericht, über den am | |
| Montagnachmittag verhandelt wurde. „Es besteht kein Grund, ein | |
| offensichtlich verfassungswidriges Recht aufrechtzuhalten“, sagte Britta | |
| Haßelmann, die parlamentarische Geschäftsführerin der Grünen. Es gebe | |
| schließlich keinen Zweifel, dass die Wahlrechtsausschlüsse nicht nur im | |
| Bundestagswahlgesetz, sondern auch im Europawahlgesetz verfassungswidrig | |
| seien. | |
| Innenstaatssekretär Stephan Mayer (CSU) warnte das Gericht: Der Antrag der | |
| Abgeordneten überfordere die Kommunen. „Es fehlt schlicht die Zeit“, so | |
| Mayer. Die Wählerverzeichnisse seien bereits erstellt. Bundeswahlleiter | |
| Georg Thiel sah die Lage nicht ganz so dramatisch: Die Wahlteilnahme der | |
| bisher ausgeschlossenen 81.000 Vollbetreuten sei zwar „sehr schwierig, aber | |
| nicht objektiv unmöglich“. Wegen der knappen Zeit könne es allerdings zu | |
| einzelnen Fehlern in den Wählerverzeichnissen kommen. Der bayerische | |
| Landeswahlleiter Thomas Gössl schätzte den Verwaltungsaufwand auf zehn | |
| Minuten pro zusätzlichem Wahlberechntigten. | |
| BVerfG-Präsident Andreas Voßkuhle schlug in der Verhandlung vor, dass nur | |
| diejenigen Vollbetreuten wählen dürfen, „die sich von sich aus melden“. | |
| Sein Richter-Kollege Peter Huber ergänzte: „Wenn nur ein Teil ins | |
| Wählerverzeichnis eingetragen werden will, dann hat die Verwaltung doch | |
| deutlich weniger Arbeit“. | |
| ## Details erst in ein paar Tagen | |
| Bundeswahlleiter Thiel reagierte jedoch sehr skeptisch auf den Vorschlag. | |
| Bei einem Antragsverfahren sei der Aufwand eventuell noch viel höher, weil | |
| die Betroffenen Beratung bräuchten. Der FDP-Abgeordnete Jens Beeck warnte, | |
| die Betroffenen könnten es als neue Diskriminierung empfinden, wenn sie ihr | |
| Wahlrecht erst beantragen müssen. | |
| Doch die Verfassungsrichter ließen sich vom Verlauf der Diskussion nicht | |
| beeindrucken. Am Ende der Sitzung verkündeten sie – wie offensichtlich | |
| geplant – das Antragsmodell. | |
| Dass die Verfassungsrichter noch am Tag der Verhandlung ein Urteil | |
| verkünden, ist eine große Ausnahme und nur dem extremen Zeitdruck | |
| geschuldet. Die Richter beschränkten sich allerdings auf das nackte | |
| Ergebnis, den sogenannten Tenor. Viele Fragen blieben deshalb zunächst | |
| offen. Wie etwa: Kann der Behinderte selbst das Wahlrecht beantragen oder | |
| muss dies sein Betreuer für ihn tun? Wo endet die Assistenz bei der Wahl | |
| und wo beginnt die Manipulation des behinderten Wählers? Antworten lassen | |
| sich wohl erst in der schriftlichen Begründung finden, die das Gericht in | |
| einigen Tagen veröffentlichen will. | |
| Neben den 81.000 vollbetreuten Behinderten gilt die Entscheidung auch für | |
| rund 3.000 Straftäter, die bei Begehung der Tat als schuldunfähig erachtet | |
| wurden und deshalb in einer Psychiatrie untergebracht sind. Sie spielten in | |
| der Diskussion fast keine Rolle. | |
| 16 Apr 2019 | |
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| ## AUTOREN | |
| Christian Rath | |
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| Burkhard Lischka | |
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