# taz.de -- Schottischer Postpunk und Achtziger-Pop: Mit Vorliebe für's twingy… | |
> Ungebrochene HeldInnen: Auf der Compilation „Big Gold Dreams“ strotzen | |
> schottische Stars von einst vor Energie und Charme. | |
Bild: Roddy Frame, ehemaliger Sänger der Aztec Camera, ist noch heute auf Solo… | |
Das Londoner Label Cherry Red hat eine glorreiche Vergangenheit als | |
unabhängige Plattenfirma. Inzwischen fungiert es meist als | |
„Trüffelschwein“, das Raritäten und vergessene Perlen wieder aufspürt und | |
zugänglich macht. Verantwortlich für die Musikauswahl ist John Reed, der | |
auch die jüngst erschienene Werkschau des schottischen Postpunk und | |
Achtziger-Pop verantwortet hat. Eine opulent gestaltete Box mit fünf Alben | |
und 70-seitigem Booklet. | |
Ist es sinnvoll, Popmusik nach regionalen Gesichtspunkten zu ordnen? | |
Tatsächlich kommt niemand, der eine gewisse Vorliebe für twingy twangy | |
Gitarrenmusik hegt, an diesem Monument vorbei, denn diese gab es im | |
Schottland der späten Siebziger und frühen Achtziger reichlich. Ihr | |
Spektrum reicht bei „Big Gold Dreams“ von punkig über hyperaktiv bis | |
melancholisch-poppig. | |
Alle glauben die pompösen Stadionrocker Simple Minds zu kennen, hier jedoch | |
sind sie mit dem pulsierenden Frühwerk „Chelsea Girls“ vertreten, für das | |
sie sich nicht schämen müssen. Sänger Jim Kerr darf außerdem noch in seiner | |
Punk-Inkarnation als Johnny & the Self Abusers ran und schlägt sich wacker. | |
Schottland, Hochland der Gitarrenklänge. Was sich zunächst sperrig anhört, | |
entpuppt sich als Rohdiamant, dessen Harmonien ohrwurmverdächtig eingesetzt | |
werden: Ein Song der vergessenen Band The Happy Family, die ihre Gitarren | |
und Akkordwechsel bis zum erlösenden Dur am Ende kaum bändigen kann. | |
Bekannter sind the Jesus & Mary Chain, deren exzessiv verzerrter | |
Noise-Pop-Klassiker „Upside down“ enthalten ist. | |
## Ein belächelter Dialekt | |
Manche kennen vielleicht noch Big Country, deren Sänger Stuart Adamson | |
zuvor als Angry Young Man Mitglied von The Skids war. Nicht nur Musik und | |
Geografie erscheinen anders als in England, auch die politische Lage im | |
Land beeinflusste die Szene; von jeher waren die schottischen Bands | |
irgendwie unabhängiger: Was man auch Nyah Fearties anhört. | |
Die schottischen Musiker mussten sich noch ein Stück weit mehr beweisen, | |
weil man ihren Dialekt weiter südlich und in London kaum verstand und auch | |
ein wenig belächelte. Daraus entstand wiederum eine stärkere Affinität zu | |
den USA. Anleihen an traditionelle Country- und Folkklänge kann man daher | |
an vielen Stellen der Compilation entdecken, was man deutlich bei den Damen | |
the Twinsets heraushört, die mit ihrem Sound einen Squaredance in der | |
Scheune begleiten könnten. | |
Einige Musiker wurden zu lokalen Berühmtheiten, manche mussten sich mit dem | |
Status von Eintagsfliegen begnügen. In den frühen Achtzigern war Roddy | |
Frame ein Popstar, der ehemalige Sänger der Glasgower Band Aztec Camera, | |
ein Gitarrenvirtuose, der noch heute auf Solopfaden unterwegs ist. Im | |
Nachhinein berühmter als in der Zeit ihres Bestehens von 1980 bis 1982 sind | |
Josef K., auch sie wie Aztec Camera einstmals vom Label Postcard entdeckt. | |
Inzwischen zitieren junge Bands den zackigen Pop-Punk-Sound des Quartetts | |
um Sänger Paul Haig. Nach dem großartigen Debütalbum „The Only Fun in Town… | |
entschied sich Haig, nach Belgien zu ziehen und ohne seine Bandkollegen | |
solo weiterzumachen. Mit „Sorry For Laughing“ haben Josef K eine Hymne | |
hinterlassen, sparsam instrumentiert mit unruhigem Bass, mehreren | |
Gitarrenschichten, dazu lakonischem Gesang, düster und humorvoll zugleich: | |
„Sorry for laughing / there’s too much happening“. | |
## Viele längst vergessene Künstler | |
Viel passiert ist auch im Leben des heute an den Folgen eines Schlaganfalls | |
laborierenden Sänger Edwyn Collins, dessen Popband Orange Juice ebenfalls | |
auf dem Postcard Label beheimatet war. „Don’t Shilly Shally“ sang Edwyn, | |
damals unbeschwert. Ein wunderbarer Popsong. | |
Nur die wenigsten schottischen Bands schafften es bis an die Spitze der | |
Charts. Dass darunter auch Billy MacKenzie mit the Associates war, | |
erstaunt etwas. Sicherlich sind the Associates eine der ungewöhnlichsten | |
schottischen Bands der 1980er Jahre mit einem hyperschrillen Popsound, | |
durften sie doch gar in der Charts-Show „Top of the Pops“ auftreten. „Tell | |
me Easter’s on Friday, and I’ll splint my hips“. Ein atmosphärischer Sou… | |
bei dem elektronisches Grillengezirpe und simple Drums die viele Oktaven | |
umfassende Stimme von Billy MacKenzie einhegen. | |
Viele Bands auf „Big Gold Dream“ sind indes längst vergessen, Künstler wie | |
„Jih“ alias Grant McNally oder Craig Lorentson von Lowlife sowie Stuart | |
Adamson und Billy MacKenzie sind bereits tot. Es ist das Verdienst der | |
Compilation, dass sie die Erinnerung an die Musiker wieder auffrischt. Dass | |
von den 115 Tracks nur 15 von Sängerinnen bestritten werden, ist ein Manko. | |
Dafür feierte die ehemalige Backgroundsängerin und Keyboarderin Shirley | |
Manson von Goodbye Mr. Mackenzie mit ihrer Band Garbage internationale | |
Erfolge, während der ehemalige Frontmann Martin Metcalfe in Vergessenheit | |
geriet. Ironie des Schicksals. | |
Die mangelnde weibliche Präsenz sollte jedoch nicht den Gesamteindruck | |
schmälern. Ganz und gar nicht, denn die schottischen Helden von einst | |
strotzen heute wieder vor Charme. | |
8 Apr 2019 | |
## AUTOREN | |
Bettina Müller | |
## TAGS | |
Schottland | |
Postpunk | |
Achtziger Jahre | |
Popmusik | |
Werkschau | |
Nachruf | |
Punk | |
Pop | |
Postpunk | |
Wachsfigurenkabinett | |
Artschoolpop | |
Kammerspiele München | |
Popmusik | |
taz.gazete | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Nachruf auf Popstar Alan Rankine: Bilderstürmer und Wegbereiter | |
Der schottische Musiker, Produzent und Lehrer Alan Rankine ist gestorben. | |
Mit der Band the Associates erlangte er in den frühen 1980ern Weltruhm. | |
Punksängerin Poly Styrene: Irgendwas mit Plastik | |
Am 3. Juli hätte die britische Punksängerin Poly Styrene ihren 65. | |
Geburtstag gefeiert. Erinnerung an eine unterbewertete Künstlerin. | |
Wiederentdeckung von „The Associates“: Hingabe ist den Dandys fremd | |
„Sulk“, ein Album des flamboyanten schottischen Popduos The Associates, war | |
eines der Werke des Jahres 1982. Was sagt uns diese Musik heute? | |
Postpunk-Klassiker von The Pop Group: Die Macht der Arroganz | |
Vor 40 Jahren veröffentlichte die Bristoler Pop Group ihr Album „Y“. Wie | |
gut ist es gealtert? Eine Bestandsaufnahme zur Wiederveröffentlichung. | |
Im Wachsfigurenkabinett: Wie eine Freak-Show | |
Im Jahre 1869 eröffnete mit dem legendären „Castans Panoptikum“ das erste | |
Wachsfigurenkabinett in deutschen Landen – natürlich in Berlin. | |
Artschoolpop von Ela Orleans: Oh bliebe Zeit für unsere Liebe | |
„Movies for Ears“: In ihrem neuen Album lässt sich die versponnene | |
Artschoolpopwelt der polnischen Künstlerin Ela Orleans neu entdecken. | |
Alien-Disko-Festival in München: Keine Sub- ohne Hochkultur | |
Musik zur Zeit wie etwa Machismo-freier Dada-Pop. Mitglieder von The | |
Notwist kuratieren das Alien-Disko-Festival in den Kammerspielen München. | |
Schottisches Poptrio Young Fathers: In jeder Hinsicht aufregend | |
Sie sind schwer gehypt und werden kontrovers diskutiert: die Young Fathers | |
haben mit „Cocoa Sugar“ ein neues Album veröffentlicht | |
Fringe-Festival in Edinburgh: Weltklasseartisten auf der Straße | |
Die Festivals in der schottischen Stadt sind ein kultureller Anschlag auf | |
die Sinne. Beim alternativen Festival Fringe sind der Kreativität keine | |
Grenzen gesetzt. |