Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Fringe-Festival in Edinburgh: Weltklasseartisten auf der Straße
> Die Festivals in der schottischen Stadt sind ein kultureller Anschlag auf
> die Sinne. Beim alternativen Festival Fringe sind der Kreativität keine
> Grenzen gesetzt.
Bild: Der Straßenkünstler Vaughn auf dem Einrad beim diesjährigen Fringe-Fes…
Poppy, Isabelle und Sophie amüsieren sich köstlich an der Bar des Venue 13
in der Chambre Street. Die Location mit verschiedenen Bühnen ist eines der
Veranstaltungszentren des Festival Fringe in Edinburgh. Die jungen Frauen
trinken Real Ale und Cider und diskutieren heftig über das Theaterstück
„Probably Still Drunk“, das sie gerade gesehen haben. Sie kämen jedes Jahr
für mindestens eine Woche zum Fringe-Festival nach Edinburgh, erzählt
Poppy, die eine rosa Schleife im blonden Haar zur schwarzen Smokingjacke
über getigerter Röhrenhose in pinkfarbenen Regenstiefeln trägt.
Glasgow-Style, denn von dort kommen die drei.
Poppy, Isabelle und Sophie sind einer der zahlreichen Frauentrupps, die das
Straßenbild der Stadt aufpeppen: körperbetont, aufgeplüscht, aufgekratzt.
Die drei Frauen besuchen „mindestens zwei Shows täglich“, erzählen sie. D…
Tickets für das Fringe-Festival kosten meist nur ein paar Pfund, die ersten
Vorstellungen beginnen frühmorgens, die letzten enden spätabends und dauern
selten länger als eine Stunde.
Männer, Frauen, junge und alte Paare, StudentInnen und Familien – Edinburgh
im August, das ist ein internationaler und sozialer Schmelztiegel. Bunt,
vielfältig, populär und garantiert unterhaltsam. Claire und Paul aus
Frankreich haben sich vor 40 Jahren hier kennen gelernt. Zum 70. Geburtstag
des Festivals ist das Ehepaar wieder dabei. „Es ist immer wieder
großartig“, sagt Claire, die Englischlehrerin aus Lille. Auf dem
internationalen Festival haben sie gestern „Blak Whyte Gray“, eine
Tanztheater-Performance aus London, gesehen. „Einfach brillant!“,
kommentiert Paul.
## Die ganze Stadt eine Bühne
Im August kommen Hunderttausende aus der ganzen Welt, aber vor allem aus
den Commonwealth-Ländern nach Edinburgh. Sie besuchen dann die alljährlich
im August stattfindenden Kunst-, Literatur- und Theaterfestivals. Gedrängel
auf der High Street, dem Campus, an der Waverley Station. Der touristische
Hotspot Edinburgh platzt aus allen Nähten. Und die EdinburgherInnen mischen
munter mit: 84 Prozent, sagen die Umfragen, gehen zu den Festivals.
Das Edinburgh International Festival und das Festival Fringe feiern dieses
Jahr ihr 70. Jubiläum. Das Edinburgh International Festival entstand
1947, um Europa nach den traumatischen Kriegserfahrungen wieder zu
verbinden. Doch nicht alle Künstler, die damals teilnehmen wollten, wurden
zum subventionierten internationalen Festival eingeladen. Sie kamen
trotzdem und organisierten einfach ein Festival „drumherum“: Fringe. Dieses
Fringe-Festival gibt es bis heute, und bis heute kann dort jeder auftreten.
Kein Wunder, dass die Zahl der Veranstaltungsorte unendlich scheint.
Doch das Schöne an Edinburgh ist nicht nur das Schloss, das
geschichtsträchtig auf einem Felsen im Zentrum der Stadt steht, auch nicht
die verwinkelten Altstadtgassen oder das Harry-Potter-Feeling, das Schöne
ist, dass alles zu Fuß erreichbar ist. Und so lernt der Festivalbesucher
auf der Suche nach den gut ausgeschilderten Veranstaltungsorten Hinterhöfe,
alte Fabriken, Villen, Theater- und Kongresszentren, alte
Universitätshallen, private Gartenanlagen, verborgene historische Winkel
kennen, die er sonst niemals gesehen hätte. Die Stadt öffnet sich, bietet
neue Facetten an ungewöhnlichen Orten. Die ganze Stadt ist eine Bühne.
Theater, Zirkus, Musik, Comedy, Performance. „3.398 Shows aus 62 Ländern
nehmen dieses Jahr allein an Fringe teil“, sagt die Generalmanagerin von
Fringe, Shona McCarthy, in ihrem geschäftigen Büro in der High Street. „Wir
als Festivalorganisation kümmern uns nur um die Infrastruktur, den Rahmen.
Wir haben hier ein Team, das Teilnehmerservice genannt wird. Es ist das
ganze Jahr über tätig. Unsere Aufgabe ist es, Leute zu unterstützen und
einzuweisen, die am Festival teilnehmen wollen. Wir machen auch PR und
Promotion.“ Die TeilnehmerInnen zahlen einen kleine Registrierungsgebühr.
Fringe ist eine Art etabliertes Straßenfestival.
## 700 kostenlose Shows
„Es ist das einzige Festival, das mich interessiert“, betont Shona. „Für
mich ist es eine demokratische Form der Kultur. Es gefällt mir, dass wir
700 kostenlose Shows haben, dass Weltklasseartisten auf der Straße
auftreten. Leute mit viel oder weniger Geld können an unserem Festival
teilhaben.“ Shona arbeitet seit 30 Jahren im Kulturbereich und sieht
persönlich „keine Notwendigkeit mehr, mich mit der Kommerzialisierung
herumzuschlagen. Und ich bin auch froh, dass wir nicht auf öffentliche
Gelder angewiesen sind. Das gibt uns viel Freiheit.“
Stefano Modica Ragusa ist zuständig für die Pressearbeit des Festivals.
„Das Fringe-Festival passiert einfach. Jeder kann daran teilnehmen“, sagt
er. „Für die Künstler ist es eine gute Plattform, um bekannt, gesehen und
interviewt zu werden.“ Überall in der Innenstadt verteilen die Amateur- und
ProfikünstlerInnen selbst Flyer, um für ihre Auftritte zu werben.
„Wenn ihnen unser Stück gefallen hat, erzählen sie es weiter, damit wir den
Rückflug nach Australien zusammenbekommen“, sagen Jeffrey Jay Fowler und
Chris Isaacs aus dem australischen Perth nach ihrer großartigen
Zweimannshow „Flag/Stag“ im Underbelly am Cowgate. Ihr kurzweiliges
Alltagsstück über die Untiefen einer Männerfreundschaft bekommt langen
Applaus.
„Fringe ist für uns eine großartige Möglichkeit, viele andere Stücke zu
sehen“, sagt Jeffrey. „Es bringt uns auf neue Ideen, und es bietet
Künstlern jenseits der etablierten Bühnen Möglichkeiten.“ Wie die meisten
KünstlerInnen spielen sie ihr Stück 25 Tage lang, immer zur selben Zeit am
selben Ort. „Es ist ungewohnt, jeden Tag aufzutreten ohne einen freien Tag.
An manchen Tagen fällt einem die Show schwer“, gesteht Jeffrey. „Manchmal
sind die Zuschauer ausgelassen und unterstützend, manchmal muss man darum
kämpfen, sie zu gewinnen. Es ist auf jeden Fall eine Herausforderung für
die Darsteller.“
## Liebeserklärung an den menschlichen Körper
Auf dem Campus der Universität von Edinburgh gibt es gleich mehrere
Veranstaltungszelte, Streetfood reiht sich an Streetfood, Cocktailbar an
Cocktailbar. Hier im Zelt auf der großen Wiese wird „Circa: Humans“
aufgeführt. Eine Artistenshow, eine Liebeserklärung an den menschlichen
Körper, ein akrobatisches Spiel. Die zehn AkrobatInnen zeigen
atemberaubende körperliche Leistung. Sie sind die „Rockstars der
Zirkuswelt“, schreibt der Guardian.
Alles begann 1947: Das Edinburgh International Festival als Plattform für
Kunst und Kultur sollte die Zusammengehörigkeit Europas nach der Zerstörung
des Kriegs betonen. Darum gehe es auch heute noch, auch und erst recht nach
dem Brexit-Votum, sagt Fergus Linehan, der Direktor des Internationalen
Festivals. „In einer Zeit, in der unser Land dabei ist, sich aus dem großen
europäischen Projekt zu lösen, ist es schon etwas Besonderes, für eine
Institution zu arbeiten, deren Fundament gewissermaßen die genau
gegensätzliche Idee ist.“
Linehan hofft, dass der bevorstehende Abschied aus der EU es nicht
erschwert, in den kommenden Jahren KünstlerInnen vom Kontinent zu diesem
Festival nach Schottland zu locken und, falls nötig, Visa für sie zu
erhalten.
Probleme gab es schon dieses Jahr: Conchita Wurst, die österreichische
Bühnendiva, hatte ihren Auftritt am diesjährigen Festival abgesagt, weil
drei Syrern ihrer Begleitband das Visum versagt wurde. Dass der Auftritt
ausgerechnet an Visaentscheidungen scheiterte, kritisiert Festivaldirektor
Fergus Lineham: „Die Symbolik dieser Entscheidung ist wirklich furchtbar.
Gerade wegen der Zielsetzung des Projekts ist das besonders frustrierend.“
Das Festival wolle eigentlich zeigen, „wie unterschiedliche Menschen die
kulturelle Geografie eines Orts bereichern können“.
Aber vielleicht bleibt Schottland ja sowieso in der EU, als unabhängige
Nation. Ein Thema, das wie der Brexit und die Dummheit eines Donald Trump
Steilvorlage für die politischen Kabarettisten in Edinburgh ist. Den
zweiten Platz in „Dave’s Funniest Joke of the Fringe“-Contest (den besten
Witz) gewann der schottische Komiker Frankie Boyle: „Trump ist doch kein
Hitler. Er könnte niemals ein Buch schreiben.“
## Die Qual der Wahl
Die Hotels von Edinburgh sind im August ausgebucht. Die vielen Pubs mit und
ohne Livemusik sind nicht nur am Abend voll, in vielen Restaurants muss
reserviert werden. Aber eigentlich haben die FestivalbesucherInnen nur ein
Problem: die Qual der Wahl unter täglich 1.000 Shows und 25.000 Künstlern
aus aller Welt.
Die Festivals sind ökonomisch bedeutsam für die Stadt, sie bringen mehr als
313 Millionen Pfund und schaffen 6.210 Vollzeitstellen. Und fördern die
internationale Reputation von Schottland und Edinburgh. Identitätsstiftend.
Um dieser Tatsache den würdigen Rahmen zu geben, marschiert jeden Abend zur
Festivalzeit im August das Royal Regiment of Scotland durch den riesigen
Schlosshof: Bis zu 8.000 ZuschauerInnen finden sich dann Abend für Abend
auf den großen Tribünen ein, um die Royal Edinburgh Military Tattoo zu
sehen.
Sie kommen zu Fuß oder werden in Bussen herangekarrt. Zu den nicht enden
wollenden Klängen von „Amazing Grace“ gibt es Militärparaden in
Schottenröcken und mit Dudelsack. Historische militärische Großtaten werden
mit Tanzeinlagen demonstriert. Schottische Tradition als
geschäftstüchtiger, kultureller Mainstream im Strudel des großen
internationalen Festivalspektakels mit täglichem Feuerwerk. Es ist
unbedingt ratsam, das Schloss ab 20 Uhr weiträumig zu umgehen.
9 Sep 2017
## AUTOREN
Edith Kresta
## TAGS
taz.gazete
Schottland
Schottland
Conchita Wurst
Unabhängigkeit Schottland
Nicola Sturgeon
## ARTIKEL ZUM THEMA
Schottischer Postpunk und Achtziger-Pop: Mit Vorliebe für's twingy twangy
Ungebrochene HeldInnen: Auf der Compilation „Big Gold Dreams“ strotzen
schottische Stars von einst vor Energie und Charme.
Geschichtstourismus in Schottland: 16 Männer, keine Frau – noch nicht
Vom Wallace Monument hat man einen Blick über Scotland in a Nutshell. In
seinem Inneren herrscht noch ein wenig Gleichstellungsbedarf.
Conchita Wurst beim Edinburgh-Festival: Auftritt aus Protest abgesagt
Eigentlich wollte Conchita Wurst am Freitagabend in Edinburgh singen.
Britische Behörden verweigerten ihrer syrischen Begleitband die Visa. Nun
bleibt sie zu Hause.
Scottish National Party macht Verluste: Tories freuen sich in Schottland
Die Scottish National Party hat bei der Wahl Mandate verloren. Kaum einer
will wohl ein zweites Referendum zur schottischen Unabhängigkeit.
Schottlands Premierministerin Sturgeon: Unruhe in London
Nicola Sturgeon ist laut Umfragen die beliebteste Regierungschefin in der
EU. Sie will ein Referendum für Schottlands Unabhängigkeit.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.