| # taz.de -- Initiative für Wohnungs-Enteignungen: Was im Grundgesetz steht | |
| > Ein Volksbegehren in Berlin verlangt, Wohnungskonzerne zu | |
| > vergesellschaften. Ist das erlaubt? Sprechen wir dabei über Enteignung? | |
| Bild: Frieden den Hütten, Krieg den Palästen: Häuser in Ost-Berlin | |
| Warum [1][diskutiert Deutschland] derzeit über die Sozialisierung von | |
| Wohnungen? | |
| Im Stadtstaat Berlin haben linke Gruppen [2][in diesen Tagen ein | |
| Volksbegehren gestartet], um Wohnungsunternehmen mit mehr als 3.000 | |
| Wohnungen zu vergesellschaften. So sollen günstige Mieten für rund 200.000 | |
| Berliner Wohnungen garantiert werden. Das Vorhaben hat in Umfragen hohe | |
| Sympathiewerte, weil die Mieten in Berlin in den vergangenen Jahren massiv | |
| gestiegen sind. | |
| Was sagt das Grundgesetz? | |
| Das Grundgesetz erlaubt in Artikel 15 solche Sozialisierungen: „Grund und | |
| Boden, Naturschätze und Produktionsmittel können zum Zwecke der | |
| Vergesellschaftung durch ein Gesetz, das Art und Ausmaß der Entschädigung | |
| regelt, in Gemeineigentum oder in andere Formen der Gemeinwirtschaft | |
| überführt werden.“ | |
| Seit wann gibt es diesen Artikel? | |
| Er war schon bei der Entstehung des Grundgesetzes 1949 darin enthalten. | |
| Allerdings war dies kein Novum. Schon in der Weimarer Reichsverfassung von | |
| 1919 gab es einen ähnlichen Artikel. | |
| Warum wurde diese Vorschrift ins Grundgesetz aufgenommen? | |
| Die Vergesellschaftung von Schlüsselindustrien war kurz nach dem Ende des | |
| Zweiten Weltkriegs ein auf breiter Ebene diskutiertes Thema. Sogar die CDU | |
| Nordrhein-Westfalen forderte in ihrem Ahlener Programm, das | |
| „kapitalistische Gewinn- und Machtstreben“ durch eine | |
| „gemeinwirtschaftliche Ordnung“ zu ersetzen. Auch die westlichen alliierten | |
| Siegermächte USA, Großbritannien und Frankreich standen der deutschen | |
| Industrie wegen ihrer Verbundenheit mit dem NS-Regime skeptisch | |
| gegenüber. | |
| Was ist der Unterschied zwischen Sozialisierung (Artikel 15) und Enteignung | |
| (Artikel 14 III)? | |
| Artikel 15 ermöglicht nicht nur die Enteignung einzelner Grundstücke und | |
| Gegenstände, sondern ganzer Wirtschaftsbranchen. | |
| Wie oft wurde von dieser Vorschrift Gebrauch gemacht? | |
| Bisher kein einziges Mal. In den 1950er Jahren drehte sich die Stimmung | |
| schnell, als im kapitalistischen Westdeutschland das „Wirtschaftswunder“ | |
| gelang, während im Staatssozialismus der DDR schlechtere Lebensbedingungen | |
| herrschten. Um wirtschaftspolitische Ziele zu erreichen, ist es im | |
| Allgemeinen effizienter, den Unternehmen per Gesetz Regeln vorzugeben als | |
| sie mit viel Geld zu verstaatlichen. Artikel 15 enthält keinen Auftrag zur | |
| Sozialisierung, sondern nur eine Ermächtigung. | |
| Ist bei der Sozialisierung das Verhältnismäßigkeitsprinzip zu beachten? | |
| Ja. Das Prinzip der Verhältnismäßigkeit der Mittel ist immer zu beachten, | |
| wenn der Gesetzgeber oder die Behörden in Grundrechte eingreifen. Es | |
| besagt, dass ein Eingriff geeignet und erforderlich sein muss. Der Nachteil | |
| darf im Vergleich zum angestrebten Nutzen nicht unproportional sein. | |
| Zumindest bei Eignung und Erforderlichkeit hat der Staat aber einen weiten | |
| Einschätzungs- und Gestaltungsspielraum. | |
| Muss der Staat bei einer Sozialisierung die bisherigen Eigentümer | |
| entschädigen? | |
| Ja. Wie bei einer Enteignung ist auch eine Sozialisierung nur gegen | |
| Entschädigung möglich. Da es hier schnell um Milliardensummen gehen kann, | |
| wirkt auch die Entschädigungspflicht als Sozialisierungsbremse. | |
| Muss zum Verkehrswert entschädigt werden? | |
| Nein. Die Höhe der Entschädigung ist laut Grundgesetz „unter gerechter | |
| Abwägung der Interessen der Allgemeinheit und der Beteiligten“ zu | |
| bestimmen. Dies muss nicht immer der Verkehrswert sein. Es kann zum | |
| Beispiel berücksichtigt werden, dass dem Eigentum alternativ auch | |
| einschränkende gesetzliche Regeln hätten auferlegt werden können. | |
| Jedenfalls sind die Hoffnungen auf zukünftigen Wertzuwachs und zukünftige | |
| Gewinne nicht zu entschädigen. | |
| Ist das Eigentum das wichtigste Grundrecht, das es im Kapitalismus gibt? | |
| Verfassungsrechtlich ist das deutsche Grundrecht auf Eigentum eines der | |
| schwächsten Grundrechte. Denn der Inhalt des Eigentums wird durch den | |
| Gesetzgeber definiert. Wenn der Gesetzgeber Regeln zum Gebrauch des | |
| Eigentums aufstellt, hat der Eigentümer dies grundsätzlich zu akzeptieren. | |
| Ein Beispiel ist der Kündigungsschutz im Mietrecht oder im Arbeitsrecht. | |
| 8 Apr 2019 | |
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| Christian Rath | |
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