# taz.de -- Buchmesse Leipzig 2019: Was für ein schrecklicher Satz | |
> Viele Veranstaltungen auf der Buchmesse befassen sich mit dem Thema | |
> Ostdeutschland. Das hat auch mit dem 30. Jubiläumsjahr des Mauerfalls zu | |
> tun. | |
Bild: Der Messestand der Stadt Halle (Saale) auf der Leipziger Buchmesse | |
So viel Osten war selten. „Verlieren wir den Osten Deutschlands?“,„Tickt | |
der Osten wirklich anders?“, „Integriert doch erst mal uns! Eine | |
Streitschrift für den Osten“, lauten die Fragen und die Buchtitel, die man | |
in den Messehallen auf den Plakaten und in den Programmen sieht – schon | |
auffällig, wie viele Veranstaltungen sich auf der diesjährigen Leipziger | |
Buchmessemit dem Thema Ostdeutschland befassen. | |
Das 30. Jubiläumsjahr des Mauerfalls dürfte ein Grund für die Konjunktur | |
sein; der gewichtigere aber ist die große Sorge, die viele Menschen ein | |
halbes Jahr nach Chemnitz und ein halbes Jahr vor den drei Landtagswahlen | |
in Sachsen, Thüringen und Brandenburg umtreibt: dass der Osten kippt. Dass | |
ein schauriger ostdeutscher Herbst bevorsteht. | |
Ines Geipel, die mit „Umkämpfte Zone. Mein Bruder, der Osten und der Hass“ | |
(Klett-Cotta, Stuttgart 2019, 377 S., 20 Euro) eines der wichtigsten Bücher | |
der Saison zum Thema geschrieben hat, spricht in diesem von einer klaren | |
Zäsur in ihrem persönlichen Umfeld im Jahr 2015: „Wenn ich es von heute aus | |
betrachte, hat Angela Merkel meinen alten Freundeskreis aus dem Osten im | |
Sommer 2015 mit ihrem Slogan ‚Wir schaffen das!‘ aufgelöst.“ | |
## Ein früherer Freund beim „Schweigemarsch“ in Chemnitz | |
Ein schrecklicher Satz, wie sie im Anschluss feststellt. Aber tatsächlich, | |
so sagt es Geipel bei der Buchvorstellung auf dem Blauen Sofa, hätten sich | |
viele Wege danach getrennt. Sie erzählt in „Umkämpfte Zone“, wie ein | |
früherer Freund beim „Schweigemarsch“ in Chemnitz am 1. September 2018 in | |
der vierten Reihe zu sehen ist. Direkt hinter Björn Höcke, Siegfried | |
Däbritz und Götz Kubitschek. | |
Die fremdenfeindlichen Attacken der jüngeren Vergangenheit sind bei Geipel | |
ein Symptom für etwas, das tiefer liegt. Initial für ihr Buch sind die | |
Krebserkrankung und der Tod ihres Bruders Anfang 2018; die Gespräche, die | |
sie mit ihm führt. Davon ausgehend erzählt sie eine | |
Mehrgenerationengeschichte, mit der sie „den historischen Boden in der DDR | |
und in Osteuropa“ ergründen wolle, auf dem der heutige Rechtspopulismus und | |
-radikalismus gedeihe. | |
Vielleicht muss man den Blick dabei noch mehr auf die Achtziger in der DDR | |
richten. Damals existierten de facto Revolten gegen das SED-Regime von | |
links und von rechts. Nur seien es eben „Tabubereiche der Gesellschaft“ | |
gewesen, wie Geipel sagt. All das wurde beschwiegen. | |
## Übergriffe auf Vertragsarbeiter aus Vietnam und Mosambik | |
Die rassistische Skinheadkultur in der DDR in den Achtzigern, die | |
Übergriffe auf Vertragsarbeiter aus Vietnam und Mosambik, der Angriff auf | |
ein Element-of-Crime-Konzert in Ostberlin 1987 – all dies sind auch Themen | |
des Gesprächs der Historiker_innen Norbert Frei und Franka Maubach mit dem | |
SPD-Politiker und „Storch Heinar“-Mitgründer Julian Barlen. | |
Frei und Laubach haben gemeinsam mit anderen Autor_innen kürzlich den Band | |
in „Zur rechten Zeit. Wider die Rückkehr des Nationalismus“ (Ullstein, | |
Berlin 2019, 256 S., 20 Euro) veröffentlicht, in dem sie Erklärungen für | |
den Rechtsruck und die Sehnsucht nach einem neuen Autoritarismus suchen. | |
Allerdings wollen sie dies als deutsch-deutsche Suche verstanden wissen. | |
Man dürfe die „Konjunkturen des Rechtsradikalismus“ nicht als ostdeutsches | |
Phänomen betrachten, so Laubach. Auch in Westdeutschland sei | |
Rechtsradikalismus in den Achtzigern totgeschwiegen worden; und wer sich | |
etwa an die nie weiter thematisierten braunen Umtriebe in der westdeutschen | |
Fußball-Fanszene jener Zeit erinnert, kann ihr nur beipflichten. | |
## Auch in den Siebzigern gab es einen reaktionären Diskurs | |
Frei verweist noch darauf, dass es auch in den Siebzigern, unter dem viel | |
beschworenen „roten Jahrzehnt“ einen reaktionären Diskurs gegeben habe. Zu | |
beobachten war eine „Nazi-Nostalgie“ in jener Zeit, die „nicht groß | |
reflektiert wurde“ und die sich in den zahlreichen | |
Hitler-Veröffentlichungen abgebildet habe. | |
Kurz darauf muss man im Gespräch schon wieder ins Jetzt springen. Man | |
dürfe, so die drei unisono, nicht außer acht lassen, dass es oft | |
Westdeutsche seien, die für die rechten Thinktanks im Osten verantwortlich | |
zeichnen. „Ostlandreiter“ nennen die Autor_innen Götz Kubitschek & Co. im | |
Buch ironisch. | |
Die Gutsherrenmenschen à la Kubitschek spricht auch Christian Fuchs bei | |
seiner Buchvorstellung an. Fuchs hat gerade mit „Das Netzwerk der Neuen | |
Rechten“ (Rowohlt Polaris, Hamburg 2019, 288 S., 16,99 Euro) ein Buch zu | |
den Strukturen der rechten Szene veröffentlicht; am MDR-Stand in der | |
Glashalle erklärt er, dass sich um Kubitscheks ‚Bildungsstätte‘ in | |
Schnellroda weitere Player wie das Hetzportal „journalistenwatch.de“ | |
angesiedelt hätten, um auch geografisch rechte Ballungszentren zu bilden. | |
So bekam man auf der Messe einen guten, kurzen Einblick in diese im | |
Ost-Superwahljahr so eminent wichtigen Veröffentlichungen, die, hofft man, | |
noch zur rechten Zeit kommen. | |
Update 25.03., 17 Uhr: In einer ersten Version des Artikels schrieben wir, | |
Autorin Christina Morina habe an der Diskussion mit Julian Barlen | |
teilgenommen. Dies ist falsch, ihre Kollegin Franka Maubach nahm an dem | |
Gespräch teil. Wir bitten den Fehler zu entschuldigen. | |
22 Mar 2019 | |
## AUTOREN | |
Jens Uthoff | |
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