# taz.de -- Abschluss der Leipziger Buchmesse: Im diskursiven Dauerrauschen | |
> Einst eine Veranstaltung für Platzhirsche, ist die Leipziger Buchmesse | |
> heute eine vielstimmige Debattenmaschine. Ein persönlicher Rückblick. | |
Bild: Immer wieder gerne in Leipzig | |
Das war jetzt ungefähr meine 25. Leipziger Buchmesse. Ungefähr deshalb, | |
weil ich nicht mehr genau weiß, ob ich 1994 oder 1995 zum ersten Mal in | |
Leipzig gewesen bin. Auf jeden Fall war das noch in den alten, engen | |
Messehallen direkt am Leipziger Marktplatz. | |
Ich erinnere mich an schmale Gänge und an Menschen mit Nikotinflecken an | |
den Fingern, die aus ihren vollgestopften Kabinen halb neugierig, halb | |
skeptisch den Besuchern entgegenblickten. Die ganze Szenerie hatte etwas | |
Aufregendes, aus Wessi-Perspektive immer noch etwas Exotisches, aber auch | |
etwas ganz leicht kafkaesk Albtraumhaftes (aber das ging vielleicht nur mir | |
so). Die Decken waren echt niedrig, und dass man überwacht werden könnte, | |
stimmte natürlich nicht mehr, aber man dachte halt noch daran. Wirklich | |
eine längst untergegangene Welt – und was sollen erst die sagen, die noch | |
zu DDR-Zeiten dabei gewesen sind. | |
Seitdem ist viel passiert. Durch die alljährlichen Besuche zur Messe | |
verfolgte ich wie so viele Westbesucher die bauliche Entwicklung der Stadt | |
Leipzig wie im Zeitraffer oder in etwa so wie bei einem Daumenkino. Wieder | |
eine Baulücke am Markt geschlossen, wieder eine Fassade restauriert, der | |
Citytunnel wieder ein Stück weiter gebaut; Halunkereien und handfeste | |
Investmentverbrechen inklusive. Irgendwann leuchtete dann am Markt gefühlt | |
jedes Häuserdach golden, und die große Messehalle, draußen auf die Wiese | |
gesetzt, war aus Glas. | |
Die Messe selbst war allerdings 25 Mal das schiere Gegenteil von | |
Zeitraffer. Die Messetage, das war stets brutale, in den Frühling | |
hineingepfropfte Gegenwart, immer wieder aufs Neue ein überforderndes | |
soziales und thematisches Rauschen, das einen die Außenwelt schnell auf | |
irgendwie magische Weise vergessen ließ. Das ist bis heute so geblieben, | |
trotz aller Routinen; nicht ganz so heftig wie die Frankfurter Buchmesse im | |
Herbst, aber nah dran. | |
## Viel Wind | |
Auf den Buchmessen – das hat mich erst befremdet, und dann habe ich es | |
gelernt – geht es eigentlich nur indirekt um Bücher. Es geht darum, | |
möglichst viel Wind zu machen rund um das Lesen und damit möglichst viel | |
Aufmerksamkeit zu erzeugen. Und es ist vielleicht einfach mal an der Zeit, | |
sich zu überlegen, wie man die Entwicklungen, die in den vergangenen 25 | |
Jahren, einer Generation, stattgefunden haben, beschreiben kann. | |
Ich glaube dabei eigentlich gar nicht, dass die interessantesten | |
Entwicklungen diejenigen sind, die man der Messe direkt ansieht. Klar, | |
inzwischen wurden moderne Werbemaßnahmen und mediale Rundumbeschallung | |
implantiert. Vieles auf der Messe blinkt längst in Full HD. Außerdem hat es | |
natürlich diese Digitalisierung gegeben, inklusive mittlerweile diverser | |
Wellen von Erlösungshoffnungen sowie Vernichtungsängsten rund um E-Books, | |
Netflix, neuerdings Podcasts. Aber ich glaube doch, dass die entscheidende | |
Entwicklung der letzten zweieinhalb Jahrzehnte die einer inhaltlichen | |
Öffnung gewesen ist, jedenfalls kann ich es mir so ganz gut erzählen. | |
Die ersten Leipziger Buchmessen, auf denen ich gewesen bin, waren im Kern | |
noch geschlossene und dabei auch hierarchische Veranstaltungen mit klaren | |
Hackordnungen, was die Aufmerksamkeiten und die Sprecherpositionen | |
betrifft. Durch Zufall war ich in demselben Hotel wie Lew Kopelew | |
untergebracht; er hielt, so habe ich es empfunden, Hof wie ein Gegenfürst. | |
Die Figur des Dissidenten war noch bis in die neunziger Jahre hinein mit | |
mächtigen Kraftlinien aufgeladen. | |
In der Literatur herrschten die Platzhirsche: Grass, Walser, Enzensberger, | |
Handke, in der Literaturkritik auch: klar, Reich-Ranicki. | |
Selbstverständlich gab es auch Gegenhelden und Nischenfürsten, aber die | |
symbolischen Kämpfe wurden doch um die Granden ausgetragen. Ganze | |
Buchmessen fanden im Schatten der Debatten um Grass’ „Weites Feld“ oder | |
Handkes Einsatz im Jugoslawienkrieg für Gerechtigkeit für Serbien statt. | |
## Mißlungene Experimente | |
Für Literaturkritiker bedeutete das, dass sie Gatekeeper- und | |
Platzanweise-Fantasien noch gut ausleben konnten. Den Konsens, was gute | |
Literatur ist, [1][dessen Fehlen Moritz Baßler konstatiert] hat, hat es | |
damals zwar auch schon nicht gegeben, aber das Ringen um ihn fand doch auf | |
einem viel begrenzteren Feld statt. Auf den Logenplätzen von | |
Literaturkritik, Rundfunkanstalten und Verlagswesen bestimmten vielleicht | |
vier Dutzend Männer und eine Handvoll Frauen, wer sich ernsthaft | |
Schriftsteller nennen konnte. Der Büchnerpreis winkte als Fetisch und | |
Endpreis, er wurde noch verstanden als eine Erhebung in den Adelsstand. | |
Als das alles wegzubrechen begann, haben sie in Leipzig mal versucht, das | |
Bildungsbürgerliche und durchaus Elitäre daran durch eine deutsche | |
Fernsehsehshow zu ersetzen, was in einem furchtbaren Desaster endete. 2002 | |
war das. Zwischen den Auftritten des MDR-Fernsehballetts stand Christa | |
Wolf, die mit dem als „Literatur-Oscar“ apostrophierten Literaturpreis „D… | |
Butt“ geehrt wurde, ziemlich fremd in der Landschaft der Abendunterhaltung | |
herum. Es gab Tanzeinlagen wie bei einer Samstagabendshow, und ich weiß | |
noch, wie entgeistert wir anwesenden Journalisten uns angesehen haben. | |
Dieses Experiment gab es dann auch nur einmal. | |
Die Abwendung von den zentralen Autoritäten fand dann aber auf andere Weise | |
statt: Was sich durchgesetzt hat, ist, die Buchmesse mit Talkshow-Elementen | |
zu durchsetzen. Ich habe mich in diesen 25 Jahren immer mal wieder gefragt, | |
was Nichtfachbesucher eigentlich auf der Messe wollen. Wenn es ihnen nur um | |
die aktuellen Neuerscheinungen ginge, würden sie in einer guten | |
Buchhandlung bequemer beraten. Wenn sie sich nur für Lesungen | |
interessierten, könnten sie zu vielfältigen Veranstaltungsorten in der | |
Leipziger Innenstadt gehen und bräuchten nicht in den stets überfüllten S- | |
und Straßenbahnen raus zu den Messehallen fahren. | |
## Messe als Dauertalkshow | |
Doch inzwischen frage ich mich das nicht mehr. Interessant für viele | |
BesucherInnen ist diese hohe Dichte an Debatten, Buchvorstellungen und | |
Diskussionen, die man sich mittlerweile auf der Leipziger Messe abholen | |
kann. Es sind immer mehr geworden. Ob „Blaues Sofa“ oder Deutschlandfunk, | |
Leipziger Volkszeitung, Börsenverein, die Messe selbst oder auch die taz: | |
Überall werden Bücher vorgestellt, Autorinnen promotet, Themen gesetzt. Die | |
Messe ist inzwischen so etwas wie eine Dauertalkshow. | |
Was immer man davon hält – viele dieser Debatten bleiben bei der Promo, | |
andere sind aber auch immer wieder überraschend gut –, verbunden ist diese | |
Entwicklung mit einer Zunahme möglicher Sprecherpositionen. Die | |
Debattenmaschine braucht Futter. Und so sind in sie längst auch Themen | |
integriert, die vor 25 Jahren noch als Nebenthemen oder auch als | |
Minderheitenthemen behandelt worden wären, etwa Themen rund um die | |
Gleichberechtigung von Frauen am Arbeitsplatz, um Migrationsprozesse und | |
Diversityprobleme. | |
## Wer darf sprechen? | |
Die Buchmesse ist inzwischen, scheint mir, mehr als nur ein Spiegel der | |
sich wandelnden Gesellschaft, sie ist vielmehr ein Motor dieser Wandlungen. | |
Nur auf der Diskussion zur „Patriarchendämmerung“ im deutschen Verlagswesen | |
kam dieses Jahr nicht viel herum. Was an der Zusammensetzung auf dem Panel | |
lag. Es waren nur Verlegerinnen (drei) und Verleger (zwei) vertreten. Und | |
man lernte als Zuschauer: So sehr in allen Verlagen derzeit sogenannte | |
debattenstarke Sachbücher favorisiert werden, so wenig ist man zwischen den | |
Verlagen auf Streit aus. Egal ob Kleinverlag, renommierter Literaturverlag | |
oder Konzernverlag, ein jeder strampelt halt auf seine Weise um die Plätze | |
auf den Bestsellerlisten. | |
Dagegen lassen sich in diese Erzählung einer zunehmenden Öffnung der | |
Sprecherpositionen die beiden Romane eintragen, die dieses Jahr auf der | |
Messe die größte Rolle spielten. Der eine war Anke Stellings „Schäfchen im | |
Trockenen“, der Roman, der auch den Leipziger Buchpreis gewann. | |
Entscheidend dafür, dass er in das Öffnungsschema passt, ist gar nicht mal, | |
dass er von einer Frau geschrieben wurde, sondern dass die Fragen, wer | |
seine Stimme erheben kann und wer nicht, ja, wer überhaupt dazu in der Lage | |
ist, zu einer souveränen Stimme zu finden, in dem Buch mitverhandelt | |
werden. | |
Beim zweiten zentralen Buch, „Herkunft“ von Saša Stanišić, ist das ähnl… | |
Der Punkt dabei ist keineswegs, dass sein Autor eine Migrations- und | |
Fluchtgeschichte hinter sich hat, sondern dass er die Bedingungen, wie aus | |
dieser Flucht so eine in manchem fast märchenhafte Integrationsgeschichte | |
werden konnte, miterzählt. So macht Stanišić eben auch deutlich, wie viel | |
Zufall und Glück für ihn nötig waren, um zur literarischen Stimme zu | |
werden. Wer spricht? Und: Wer darf sprechen? Vielleicht ist es nicht zu | |
optimistisch zu behaupten, dass sich derzeit ein Bewusstsein für die | |
Bedeutung dieser Fragen entwickelt. | |
## Beim vielfältigen Stimmengewirr mitmischen | |
Man braucht das Öffnungsschema, das diesem Text zugrunde liegt, aber auch | |
gar nicht zu glatt aufgehen lassen; klar gibt es weiterhin Privilegien und | |
Ungleichgewichte (und es ist eine Wessi-Perspektive, klar; aus Ost-Sicht | |
war die Leipziger Buchmesse einst sicher auch eine Möglichkeit der Öffnung, | |
ein Fenster raus aus der DDR, und das ist mit der Wende dann zu Ende | |
gegangen, aber das ist eine andere Geschichte). | |
Doch ein gutes Stück weit kann dieses Schema meine Erfahrungen mit der | |
Leipziger Buchmesse durchaus abdecken. Noch vor 25 Jahren fuhr man als | |
Messebesucher nach Leipzig, um Bekannte zu treffen und literarischen sowie | |
literaturkritischen Silberrücken beim Reden und Biertrinken zuzusehen. | |
Inzwischen fährt man da hin, um bei einem vielfältigen Stimmengewirr | |
mitzumischen. Letzteres ist besser. | |
24 Mar 2019 | |
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## AUTOREN | |
Dirk Knipphals | |
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