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# taz.de -- Jugendinitiativen fordern Mitbestimmung: Jede Jugendliche kann Gret…
> Die Jugend will endlich mitreden. Sie demonstrieren für Kinderwahlrecht
> und Klimaschutz. Zu Besuch bei jungen Aktivist:innen mit mutigen Ideen.
Bild: In den Räumen des Jugendrats in Berlin wird an der Zukunft gebastelt
Berlin und Stuttgart taz | Als Simon Marian Hoffmann, Jahrgang 1996,
behütet aufgewachsen in einer 2.000-Seelen-Gemeinde, zum ersten Mal
Weltschmerz verspürt, ist er zwölf Jahre alt. Damals zeigt ihm sein großer
Bruder auf YouTube Videos von Naturkatastrophen, Krieg und Hunger. Simon,
der Sohn einer Heilpflegerin und eines Lehrers, verstand damals, dass die
Welt ungerecht ist, das Menschen leiden, weil andere Menschen schlechte
Entscheidungen treffen, und er beschloss, etwas dagegen zu tun.
Heute, zehn Jahre später, steht er auf dem Rathausplatz in Stuttgart und
ruft in ein Mikrofon. „Es ist nicht fünf vor zwölf, es ist zwölf!“ Ein
Freitagmittag, Anfang März. Morgens gab es keine Fridays-for-Future-Demo,
darum haben sich auf dem Rathausplatz nur wenige Jugendliche versammelt.
Zwischen einem Foodsharing-Tisch und fünf Bierbänken, auf denen Kleidung
getauscht werden kann, steht Simon vor dem Rathausturm und rappt einen
selbst komponierten Song. Die Boxen schicken seine Stimme so laut über den
Platz, als wollten sie jede der angrenzenden Gassen mit seiner Botschaft
fluten. „Es ist Zeit für das Jüngste Gericht! Jugend auf die Barrikaden,
wir erobern das System, weil wir sonst keine Zukunft haben!“
Eine ganze Generation ist wütend, deutschlandweit, europaweit, weltweit.
Sie ist wütend auf das System, die Politik und die Erwachsenen. Seit
Monaten sind die Aktivisten der Fridays-for-Future-Bewegung in den Medien.
Sie sind laut, und sie sind viele. Am Freitag [1][in Berlin etwa waren rund
25.000 junge Menschen auf der Demo]. Greta Thunberg war auch da, sie sprach
nur zwei Minuten und gab ihnen auf den Weg: „Wir wollen eine Zukunft, ist
das zu viel verlangt?“ Das sei erst der „Anfang vom Anfang“.
Viele Jugendliche sehen das genauso. Sie wollen mehr. Etwa Gerechtigkeit
zwischen den Generationen. Aber bisher hört ihnen kaum jemand zu. Woran
liegt das? Wer sind diese Jugendlichen; und was genau wollen sie?
## „Für das Studium bleibt kaum Zeit“
Morgens, vor dem Auftritt am Rathaus, sitzt Simon mit Freunden am
Frühstückstisch. Simon, 22 Jahre alt, wilde; braune Locken, ist der Gründer
der Demokratischen Stimme der Jugend (DSDJ), einem überparteilichen Verein,
der seit 2016 versucht, der Jugend eine Stimme zu geben. Seine Freunde,
Mitgründer und Mitglieder des Vereins: Marianne, 19, Ansgar, 21, und Tracy,
21. Die Jugendlichen gehen sehr herzlich miteinander um, Umarmungen dauern
länger als gewöhnlich, die Augen leuchten, wenn sie von ihrer Arbeit
erzählen. Wenn einer spricht, nicken die anderen zur Bestätigung. Diese
Gruppe ist ein Team.
Auf dem Tisch: vegane Brötchen, naturtrüber Apfelsaft und der Plan für
heute. „11 Uhr die Performance am Rathausplatz, 14 Uhr die Demo zum Thema
Kinderwahlrecht, bei der wir durch die Stadt ziehen, 19 Uhr unser
performativer Vortrag im Willi-Bleicher-Haus“, sagt Simon. Die
Vorbereitungen für diesen Tag laufen seit Wochen. Die Jugendlichen vom
Verein machen alles allein: Stiftungsgelder beantragen, die Website
bespielen, die Genehmigungen für Kundgebungen und Performances beantragen,
die Buchhaltung machen, Musikvideos drehen, Workshops veranstalten,
Vorträge halten. Die Altersgrenze im Verein ist 28 Jahre.
„Wir wollen das allein schaffen, es soll alles aus uns kommen und nicht von
Erwachsenen gelenkt oder beeinflusst werden“, sagt Simon. Von der Jugend
für die Jugend. „Die Jugend“, sagt Simon, seien alle 14- bis 28-Jährigen,
da halte sich der Verein an die Forschung. Gleichzeitig sei man aber auch
offen für die „geistige Jugend“. Erwachsene seien nicht die Feinde, soll
das heißen – das ist Simon wichtig.
Die DSDJ hat ungefähr 50 Mitglieder, 20 davon sind aktive Mitglieder, der
harte Kern ist heute in Stuttgart. Wie viel Zeit sie investieren? „Jeden
Tag sechs Stunden, manchmal mehr“, sagt Marianne. Sie macht dieses Jahr
Abitur an einer Waldorfschule. Ihre Eltern unterstützen sie bei ihrem
Engagement. Heißt: Sie darf ihre Energie in den Verein stecken. Simon und
die anderen studieren. „Für das Studium bleibt kaum Zeit. Die Arbeit für
den Verein hat gerade einfach Priorität“, sagt Simon.
## „Aufstand der Jugend“ in Stuttgart
Die Turmuhr am Rathaus zeigt 13.35 Uhr, aus den Seitengassen fahren vier
Polizeiautos auf den Platz. Doch für die wenigen Jugendlichen sind vier
Autos zu viel, zwei fahren wieder ab. Für ihre Performance haben die
Jugendlichen zwei Sänften mitgebracht. Stühle, die auf Latten geschraubt
wurden und nun von Jugendlichen auf den Schultern durch die Stadt getragen
werden. „Wir wollen zeigen, dass die Fehler der Erwachsenen auf unseren
Schultern lasten“, sagt Tracy.
In Berlin hatten sie diese Aktion schon einmal gemacht, im vergangenen
September. 100 Jugendliche trugen damals Erwachsene auf diesen Sänften
durch die Stadt bis zum Brandenburger Tor. „Aufstand der Jugend“ haben sie
diese Kampagne genannt. Heute fehlen die Erwachsenen auf den Stühlen,
Simon, Tracy und die anderen konnten keine Freiwilligen finden. Dafür
kleben nun Plakate auf den Stühlen, auf dem einen steht „CO2“ auf dem
anderen „Plastik“.
Schwarze Klebebandstreifen werden verteilt, mit denen die Jugendlichen sich
den Mund zukleben und schwarze Karten aus Pappe. Der Plan: Mit der Last
durch die Innenstadt zu laufen, geknebelt durch das Klebeband, das die
Gesellschaft symbolisiert, die der Jugend ein Mitspracherecht verweigert.
Später auf der Königsstraße, der Einkaufspassage von Stuttgart, soll sich
jeder dieses Klebeband vom Mund reißen. Nach und nach dürfen dann alle dem
„System“ die schwarze Karte zeigen und sagen, wogegen er oder sie hiermit
protestieren will.
„Habt ihr alles verstanden?“, fragt Simon. Reihum stummes Nicken aus
Gesichtern mit verklebten Mündern und entschlossenen Blicken.Ein Polizist
steigt aus dem Auto und tippt auf seine Uhr. „Wir müssen los.“ Die
Jugendlichen schultern die Sänfte und gehen los. Die meisten tragen dunkle
Kleidung, der Anblick erinnert an eine Bestattung. Der Zug der Jugendlichen
schlängelt sich durch fast menschenleere Gassen, vorbei an Bürogebäuden und
Hintereingängen von Restaurants. Nach 400 Metern landet der Zug auf der
Königsstraße. 15 Jugendliche tragen zwei Sänften und bewegen sich stumm
durch das Gewusel der Freitagsshopper.
## Jugendliche fordern das Kinderwahlrecht
Was diese Performance sagen will? Wir tragen die Konsequenzen, also lasst
uns auch mitreden. „Kinder und Jugendliche sollen, wollen und können
Verantwortung übernehmen“, sagt Simon. Verantwortung im demokratischen
Prozess funktioniere durch Wählen. Darum fordert der Verein ein Wahlrecht
für Kinder und Jugendliche. „Generationengerechtigkeit“, sagt Simon,
bedeute, dass niemand mehr aufgrund seines jungen Alters benachteiligt
wird. Nirgendwo dürfe man als junger Mensch wirklich mitbestimmen, nicht
mal in Bereichen, die einen am meisten betreffen.
In der Schule lernt man, was die Lehrer sagen, zu Hause tut man, was die
Eltern für richtig halten. In der Welt ist man immer abhängig von den
Entscheidungen Erwachsener. Kindern würde man beibringen: „Werde erst mal
erwachsen, dann darfst du mitspielen“, sagt Simon. Das Erwachsensein werde
postuliert wie eine Hürde, die man erst nehmen müsse, um mitentscheiden zu
dürfen und von der Gesellschaft als echtes Mitglied anerkannt zu werden.
Der Vorwurf, dass alte Menschen Politik für alte Menschen machen, ist nicht
neu. Deutschland ist nach Japan das Land mit der ältesten Bevölkerung
weltweit. Bei den Politikern im Deutschen Bundestag liegt das
Durchschnittsalter bei ungefähr 50 Jahren. Ein Kinderwahlrecht könnte ein
Gegengewicht sein. Der Versuch junge Themen und junge Menschen in die
Politik zu bringen. Das ist es, was die DSDJ sich davon verspricht.
Zurück auf der Königsstraße, die Sänften sind abgelegt, die Jugendlichen
haben sich in einer Pyramide mitten auf der Einkaufsmeile aufgestellt. Ein
Megafon wird herumgereicht: „Ich zeige meine Schwarze Karte gegen
Kinderarbeit“, sagt eine Jugendliche mit blonden Locken und zittriger
Stimme. „Ich bin gegen Mietwahnsinn“, sagt ein anderer. „Gegen das
Patriarchat!“, ruft Simon in das Mikrofon. Es fallen große Begriffe wie:
Drohnenkrieg, Hunger, Altersarmut, Fremdenhass, Obdachlosigkeit.
## Auf dem Treffen des Jugendrats
All das sind große Worte, die für noch größere und komplexe Probleme
stehen. Die Abschaffung all dieser Missstände ist so konsensfähig wie der
Weltfrieden, aber eben auch genauso abstrakt. Die Jugendlichen sind
dagegen. Aber was bedeutet Dagegensein? Was soll die Politik ändern? Es
wird in dieser Performance keine konkreten Handlungsvorschläge geben, aber
darum soll es auch nicht gehen, wie Simon später erklären wird.
Viele Passanten sind stehengeblieben. Einige klatschen. Ein junger Mann,
graue Jogginghose, Bauchtasche und Nikes, bleibt stehen. Später wird er zu
Simon gehen und sagen: „Ich find’s gut, was ihr hier macht.“ Für die
Performance gibt es viel Zustimmung, aber auch vereinzelt abschätziges
Gemurmel. „Was für Idioten“, hört man aus einer Gruppe junger Männer. Da…
sind Simon und seine Freunde nicht die Einzigen, die ein Kinderwahlrecht
fordern. Viele Initiativen, Vereine und Stiftungen sehen dieses Recht als
ersten Schritt zur Generationengerechtigkeit. Sie alle kämpfen dafür – nur
auf unterschiedliche Weise.
Ein Samstag, Mitte März, in einem lichtdurchfluteten Raum im Prenzlauer
Berg. Auf dem Tisch: drei gelbe Tulpen in einer Vase, viele Flaschen
Rhabarberschorle und eine Mehrfachsteckdose, aus denen sich Kabel zu 12
Laptops schlängeln. Dahinter sitzen Franzi, 19, aus Heidelberg, die
konzentriert in ihren Laptop starrt, Lucie, 22, aus Leipzig, die gerade
einen Gedanken in die Tasten hackt, damit sie ihn nicht vergisst. Da sitzt
Simon, 16, Schüler aus Oranienburg, Nikolaus, 19, Student aus Berlin, neben
ihnen im Kreis noch acht andere Jugendliche, die aus der ganzen Republik
angereist sind.
Hier trifft sich der Jugendrat der Generationen Stiftung und diskutiert
ebenfalls über das [2][Kinderwahlrecht]. Bald sind Europawahlen, man
braucht eine Forderung, die zeitnah veröffentlicht werden kann und
Aufmerksamkeit erzeugt. Hannah Lübbert, blonde Locken, 18 Jahre alt, ist
seit vier Monaten im Jugendrat. An diesem Tag sitzt die Studentin mit ihren
Kollegen zusammen und wartet, bis sie an der Reihe ist. Es gibt eine
Redeliste, alle lassen einander aussprechen.
## Zwischen Polittalkshow und Jugendsprache
Gesammelt werden die Argumente für das Kinderwahlrecht auf einem Flipchart.
„Gegengewicht zum demografischen Wandel“, „13 Millionen U18-Jährige derz…
ausgeschlossen“ und „Die Jugend ist am längsten von politischen
Entscheidungen betroffen“ steht da. Die Argumente sind dieselben wie am
Frühstückstisch der Demokratischen Stimme der Jugend. Als Hannah an der
Reihe ist, sagt sie: „Kinder und Jugendliche haben einen ganz eigenen
Erfahrungshorizont, der endlich anerkannt werden sollte.“ Die Berlinerin
hatte vor vier Monaten ein Plakat des Jugendrats gesehen. Sofort hatte sie
sich als Mitglied beworben. Die Fridays-for-Future-Bewegung habe ihr
bewusst gemacht, dass sie etwas tun müsse: für die Welt, für alle Kinder
und Jugendlichen.
Am Tisch diskutieren Hannahs Kollegen weiter. Die 22-jährige Lucie spricht
von der Diskriminierung von Kindern im Alltag. Zwei andere Kolleginnen
wackeln mit ihren Händen in der Luft, stille Zustimmung. Die Diskussion
klingt stellenweise nach Polittalkshow oder Bundestagsdebatte, „die Jugend
muss ihre emanzipatorische Kraft entfalten“ oder „das ist eine
besorgniserregende Korrelation“ hört man da. Ab und an fallen dann doch
Wörter, die man in einem Raum voller Jugendlichen erwarten würde: „richtig
cool“, „bullshit“ und „mega“.
Der Jugendrat wurde 2018 von der Generationen Stiftung ins Leben gerufen.
Der erwachsene Vorstand der Stiftung ist gut vernetzt und versucht
gemeinsam mit den Jugendlichen größtmögliche Aufmerksamkeit für deren
Belange zu generieren: Interviews mit Medien, Treffen mit
Entscheidungsträgern, Dialog mit Politikern. „Wir verstehen uns als die
Lobby der Jugend“, sagt Hannah, „darum denken wir bei unseren Kampagnen
auch immer die öffentliche Wirkung mit.“
Die erste Kampagne des Jugendrats, die seit November 2018 läuft, heißt „Wir
kündigen“ und meint den Generationenvertrag. Plakate mit neonroter
Aufschrift hängen überall an den Wänden. Die ältere Generation sei
unverantwortlich mit der Welt und der Zukunft umgegangen und haben so den
Generationenvertrag gebrochen, heißt es im Manifest. Die Jugend wolle daher
ihren Teil der Vereinbarung, die Renten der Alten zu zahlen, nicht mehr
halten und ihn aufkündigen. Das ist die Idee.
## Konkrete Vorschläge gibt es nicht
Neben der Kündigung des Generationenvertrags fordert der Jugendrat in
seinem Manifest unter anderem eine humane Migrationspolitik, das Ende von
Kinderarmut, ein zukunftsfähiges Rentensystem und den Stopp aller
Kriegswaffenexporte. Konkrete Vorschläge gibt es, wie bei der DSDJ, keine.
Die Performance auf der Königsstraße soll Jugendlichen vor allem die
Möglichkeit geben, „ihre eigene Selbstwirksamkeit zu erfahren“, sagt Simon.
„So lernt man, dass man gehört wird.“ Die Überwindung der Angst, öffentl…
seine Sorgen und Vorwürfe auszusprechen, sei eine unglaubliche Erfahrung.
„Jeder kann eine Greta Thunberg sein“, sagt Simon. Alle, die irgendwann
einmal mit Gleichgesinnten für oder gegen etwas eingestanden sind, wissen
was Simon meint. Die Möglichkeit, selbst wirksam zu werden, ist ein
Grundpfeiler der Demokratie. Aber für politische Veränderungen braucht es
Masse. Wie erreicht man die?
[3][Luisa Neubauer, 22, Klimaaktivistin und Hauptorganisatorin] der
deutschen Fridays-for-Future-Bewegung sagt, dass Selbstwirksamkeit zwar
wichtig sei, aber nicht das Ziel von Protesten sein sollte. „Natürlich
fühlt es sich an wie ein Erfolg, wenn man mit vielen Menschen gemeinsam auf
der Straße steht“, sagt sie, „aber das ist ein Scheinerfolg. Erst wenn sich
auf der politischen Ebene etwas ändert, haben wir gewonnen.“ Und dafür
brauche es vor allem eines: Aufmerksamkeit.
Am Telefon nimmt sie sich Zeit zwischen zwei Terminen, ihre Stimme klingt
müde. Seit Monaten ist sie zu Gast in Talkshows, spricht auf Kongressen
oder organisiert Demos. Sie hat die Aufmerksamkeit des ganzen Landes. Sie
redet und streitet und kämpft. „Aufmerksamkeit ist sehr wichtig, zum einen,
um den Druck auf die Politik zu erhöhen, und zum anderen, um noch mehr
Menschen für die Sache zu mobilisieren“, sagt Luisa Neubauer.
## Klimaaktivismus ist nicht nur Jugendsache
Sie weiß, dass die Jugendlichen von der DSDJ dabei ganz von vorne anfangen
müssen. Während die Fridays-for-Future-Bewegung bereits eine Lobby hat –
denn Klimaaktivismus ist nicht nur Jugendsache –, hat es die DSDJ schwerer.
Sie muss erst mal ohne eine Lobby um Unterstützung für ihre Belange
kämpfen. Wirtschaftlich und politisch gibt es kaum Rückhalt, anders als
beim Klimathema. „Beim Thema Jugend hat man viel weniger Verbündete“, sagt
Luisa, „das macht den Weg zur Aufmerksamkeit härter und länger.“
Abends im Willi-Bleicher-Haus haben Simon und die anderen einen Vortrag
vorbereitet, bei dem man schnell merkt, dass Aufmerksamkeit tatsächlich ein
seltenes Gut sein kann. Der Saal bietet mit seinen 25 Reihen Platz für über
400 Zuschauer. Als die Lichter gedimmt werden und der Vortrag beginnt, sind
fünf Reihen lose besetzt: Jugendliche vom Verein, deren Familien und ein
paar externe Besucher. Was sie zu sagen haben, sagen Simon und Marianne
trotzdem so, als würde ihnen die ganze Welt zuhören. Sie zitieren Studien
und Experten, ziehen Vergleiche zu globalen Jugendbewegungen oder
politischen Entscheidungen der Vergangenheit. Viel Gefühl, manchmal
überschreitet es die Grenze zum Pathos, aber die Jugendlichen glauben an
das, was sie sagen.
Neben dem Kinderwahlrecht fordern sie auch einen deutschen Jugendrat. Die
Mitglieder sollen aus allen Jugendlichen im Land ausgelost werden, Amtszeit
ein Jahr. Alle jungen Menschen sollen die Chance haben, Teil davon zu
werden. Die DSDJ verspricht sich so Chancengleichheit und Diversität.
Bisher besteht der Verein hauptsächlich aus Jugendlichen der oberen
Mittelschicht, viele studieren, alle machen noch oder haben schon Abitur.
Wie kann man für die ganze Jugend sprechen, wenn alle aus derselben
Lebenswelt kommen? „Wir wissen, dass wir alle privilegiert sind“, sagt
Simon. Der Verein versuche auch Jugendliche mit anderem Hintergrund für die
Arbeit zu begeistert, bisher sei das noch nicht so richtig gelungen.
Auch im Jugendrat der Generationen Stiftung sitzen Jugendliche, die aus
einer ähnlichen Lebenswelt kommen. Den Azubi aus der Kfz-Werkstatt oder die
Drogeriemarktkassiererin trifft man hier nicht. Die meisten absolvieren ein
Studium, einige stehen kurz vor dem Abitur. Sie sind alle auch außerhalb
des Jugendrats politisch aktiv. Manche für NGOs, einige für Parteien. Ist
diese Homogenität ein Problem? „Wir haben neulich erst darüber diskutiert,
dass wir das schwierig finden“, sagt Hannah. Der Jugendrat wolle ja
schließlich für alle sprechen. Und die Lösung? Das weiß auch diese Gruppe
nicht. „Wir versuchen unsere Forderungen so allgemeingültig wie möglich zu
formulieren“, sagt Hannah, „sodass sich möglichst viele damit
identifizieren können.“ Aber ist das wirklich sinnvoll?
## Mobilisierung durch klaren Themenschwerpunkt
Bewegungsforscher sagen, den Fridays-for-Future-Protesten sei eine so große
Mobilisierung gelungen, weil sie einen klaren Themenschwerpunkt hat: das
Klima. Das Thema ist konkret, sehr niedrigschwellig und betrifft jeden.
Versucht man das verbindende Element einer Bewegung nicht aus dem Thema,
sondern aus etwas anderem zu schöpfen, wird es schwierig. Kann man
Jugendliche zusammenbringen, nur weil sie Jugendliche sind? Und das mit so
vielen verschiedene Forderungen, wie sie der Jugendrat oder die DSDJ haben?
Die Forschung sagt, dass eine soziale Bewegung immer eine kollektive
Identität braucht. Die Idee einer Generation, die gegen die Alten aufsteht,
scheint da fast ein wenig zu abstrakt.
Gleichzeitig braucht es überhaupt einen Grund, um zu protestieren. Und der
ist meistens Unzufriedenheit. Luisa Neubauer sagt, dass die
Fridays-for-Future-Bewegung so groß geworden sei, weil man nichts erklären
musste; die Unzufriedenheit, die Angst und die Wut über die
Fehlentscheidungen der Politik waren schon da. „Jugendlichen beizubringen,
out of the box zu denken, damit sie erkennen, was für die Jugend
schiefläuft, wer Schuld daran ist und wie es besser sein könnte“, sagt sie,
„das ist unglaublich schwer zu kommunizieren.“
Genau das versuchen Simon mit seinem Verein und Hannah mit dem Jugendrat zu
schaffen – auf unterschiedliche Weise. Die einen eher auf der Straße, an
der Basis, die anderen mehr über die Presse und im direkten Gespräch mit
Entscheidungsträgern.
In dem großzügigen Büroraum der Generationen Stiftung fällt einem zwischen
dem professionellen Flipchart, der vollgepinnten Magnettafel und all den
Kampagnenplakaten vieles auf, was anders ist als beim DSDJ, die sich zu
Hause bei Marianne treffen und überlegen muss, ob und wie sie eine Kampagne
und die Flyer dazu bezahlen kann. Bei der Generationen Stiftung bieten
Erwachsene Unterstützung durch finanzielles Backup und obendrauf ein
Netzwerk an mächtigen Kontakten zu Politikern, Forschern und Medien. Die
Infrastruktur ist schon da, und die Jugendlichen können in einem
gesicherten Rahmen ihre Ideen umsetzten. Inhaltlich ähneln die meisten
ihrer Forderungen denen von Simon und seinen Freunden.
## Gefahr einer Alibibeteiligung
Julia Hartwig-Selmeier von der Generationen Stiftung ist bei dem Treffen
des Jugendrats die einzige Erwachsene im Raum. Sie sagt, ohne dass man sie
danach fragt, dass die Idee der DSDJ, einen deutschen Jugendrat zu
installieren, ihre Schwächen habe. In der geplanten einjährigen Amtszeit
könne kaum etwas tiefgründig ausgehandelt werden. „Es besteht die Gefahr
einer Alibibeteiligung der Jugendlichen, bei der sie nicht wirklich etwas
mitentscheiden dürfen“, sagt sie. Auch das Losverfahren sieht sie kritisch.
Es könnten Leute ohne Elan und ohne genug Grundwissen in den Jugendrat
kommen, befürchtet Hartwig-Selmeier.
Hannah sitzt still daneben. Fragt man sie nach ihrer Meinung, sagt sie:
„Ja, eine Alibibeteiligung als Ausrede für die Politik wäre blöd.“ Die
Jugend brauche eher jüngere Politiker im Parlament. Da ist sie wieder, „die
Jugend“. Alle handeln im Namen der Jugend, haben aber unterschiedliche
Vorstellungen. Ist das ein Problem? Nein, findet Hannah. „Vielfalt ist
wichtig, wir müssen uns nicht in allen Themen einig sein“, sagt sie, „aber
unser Grundkonsens ist Zukunftsfähigkeit.“ Und während Hannah das sagt,
klingt sie wie die Pressesprecherin eines Großunternehmens. Sie lächelt
kurz, als würde sie es selber merken. Was Zukunftsfähigkeit bedeutet,
bleibt offen.
Die Antwort von Simon Marian Hoffmann ist ähnlich, außer dass er nichts von
gegenseitiger Kritik hält. Es sei gut, dass es viele verschiedene
Institutionen gäbe, die sich mit unterschiedlichen Themen
auseinandersetzten. Er würde sie jedoch gern bündeln. Am besten auf einem
Kongress. Das ist der ganz große Zweijahresplan seines Vereins: alle
Jugendinitiativen, Vereine, Stiftungen und Interessenverbände an einen
Tisch zu bekommen. Dann könne sich die ganze Kraft der Jugend entfalten.
Ist das nicht utopisch? „Wenn man keine Visionen hat, gehen sie auch nicht
in Erfüllung“, sagt Simon.
29 Mar 2019
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