Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- 200 Jahre Bremer Stadtmusikanten: Klassenkampf der Habenichtse
> Zum Jubiläum des Märchens veranstaltet die Kunsthalle Bremen eine
> Ausstellung, die eine fragwürdige Politikgeschichte erzählen will.
Bild: Gimhongsok: Die Bremer Stadtmusikanten, 2006-07
BREMEN taz | Wo Werbung, Märchen und heimatliche Identitätsfragen in eins
fallen, da ist die Kunst nie fern – und das Geld mindestens in Sichtweite.
Es ist jedenfalls keine große Überraschung, dass die Bremer Kunsthalle dem
200. Geburtstag der ebenso bremischen Stadtmusikanten eine Jubiläumsschau
widmet. Und weil diese große Sonderausstellung mit extralanger Laufzeit
ihren Besuch schon ins Haus locken wird, kann man sich dann auch ein
bisschen was erlauben: mit Kitsch und Kunst und Remmidemmi.
Zunächst geht es aber ganz gediegen los. „Tierischer Aufstand“ erzählt von
der Geschichte der Geschichte, mündlichen Überlieferungen, echten
Stadtmusikanten, Grimms Märchensammlung und dem ikonografischen Siegeszug
der Tierpyramide: Esel unten, drauf der Hund, dann Katze und schließlich
Hahn.
So übereinander weg das Räuberhaus überfallend hat George Cruikshank die
vier tierischen Helden für die 1823 erschienene englische Ausgabe der
Kinder- und Hausmärchen gezeichnet. Heute taucht es in annähernd jeder
Fassung des Märchens auf und steht auch als isoliertes Bild stellvertretend
für die ganze Erzählung. Die Tierpyramide ist weltweit das bekannteste
Wahrzeichen Bremens.
Es ist schon lehrreich, diesen Werdegang des populären Bildes
nachzuvollziehen – und es gibt ganz bestimmt auch Menschen, die sogar Spaß
mit den Spielereien am Stapelmotiv haben. Martin Creed hat etwa Sitzmöbel
gestapelt. Unübersehbar draußen vor der Tür steht Maarten Vanden Eyndes
Fortschrittspyramide:
## Tierpyramide in Variationen
Der Niederländer hat einen Bus, einen Bulli, Moped, Fahrrad, Radio, Kamera
und mehr Technik auf eine riesige Nadel gespießt, dass sie ein bisschen an
die Sammlung eines Insektenforschers erinnert – und darauf verweist, dass
neue Geräte mit dem Fortschritt immer kleiner werden. Außerdem lässt sich
beim Anblick der retro-hübschen Fahrzeuge im unteren Teil des Haufens schön
in die Ferne schweifen, weil ja auch heute noch wahr ist: Etwas Besseres
als den Tod findest du überall.
Drinnen in der Kunsthalle braucht es mitunter etwas mehr Lust am freien
Assoziieren. Boris Mikhailov Auftritt in der Schau ist zum Beispiel eher
überraschend. Zwischen 1997 und 1999 hat der Fotograf Obdachlose in der
post-sowjetischen Ukraine fotografiert, die ihm für ein bisschen Geld Posen
der klassischen Malerei nachgestellt haben. Die ärmsten der Armen spielen
dann Gustave Courbets „Mädchen am Ufer der Seine“ nach oder die Grablegung
Christi.
Natürlich sind das aufregende Bilder, weil sich darin Hochkultur am Elend
reibt, die ach so authentische Fotografie an den Inszenierungen der Maler –
und beim Betrachter nicht zuletzt Entrüstung am Voyeurismus. Weil man ja
weiß, dass dieses schambehaarte Modell dort ein paar Groschen damit
verdient hat, nackig Edgar Degas’ Bordellbilder nachzustellen.
Also ja: Das sind im besten Sinne beunruhigende Bilder, heute ihrerseits zu
Recht Klassiker – nur besteht die Verbindung zu den Stadtmusikanten (Elend,
Obdachlosigkeit, Deklassierung) genau betrachtetet nur darin, dass sie in
der gleichen schlechten Welt spielen.
## Aufstand in Penetranz
Es ist wohl wirklich nicht ganz einfach, eine Schau über eine
widerspruchsfrei zum werbenden Symbol verkommenen Kunstgegenstand wie die
Stadtmusikanten zu machen, solange man selbst noch ein Stück vom Kuchen
abhaben möchte. Daran ist nichts Ehrenrühriges, aber es nervt dann doch,
mit welcher Penetranz einem die Geburtstagssause vom Aufstand was erzählt.
Karl Horst Hödickes Stadtmusikantengemälde von 1983 zeigt die wütenden
Tiere etwa als Großformat unter dem Titel „Hausbesetzer“. Natürlich hatte
das damals prickelnde Aktualität, aufregend war die Arbeit aber gerade,
weil zwischen dem gefälligen Märchentext und den autonomen Häuserkämpfen
Welten lagen. In der Kunsthalle hingegen versucht umgekehrt eine ganze
Abteilung der Ausstellung, den aufrührerischen Charakter des ollen Märchens
zu beschwören.
Gleich um die Ecke ist das verwackelte Video „This Lemon Tastes of Apple“
zu sehen, in dem Künstler Hiwa K. im kurdisch-irakischen Sulaimaniyya
durch eine gerade eskalierende Demonstration geht. Und während irgendwo
Schüsse fallen, Tränengasopfer mit Zitronensaft behandelt und Verwundete
durchs Bild getragen werden, spielt K. auf der Mundharmonika Ennio
Morricones berühmte Melodie aus „Spiel mir das Lied vom Tod“.
Und gleich daneben hängt noch eine weitere wunderbare Arbeit, deren Bezug
zum Thema sogar noch ein bisschen rätselhafter bleibt.
## Verdammte dieser Erde
So sympathisch die Einreihung der ausgesonderten Nutztiere ins Heer der
Verdammten dieser Erde auf den ersten Blick auch sein mag: Die kuratorische
Beschwörung universeller Werte wie Solidarität und Empowerment verpufft
hier völlig in der zuvor selbst akribisch dargelegten Offenheit des
Motivs.
Wollte man den Text nun unbedingt politisch lesen, müsste man doch
zwangsläufig an der Frage verzweifeln, was nun ausgerechnet die Räuber für
das Unrechtsregime der Sklaventreiber können. Man kann doch nur in Deckung
gehen vor einem Klassenkampf, der darin besteht, sich mit anderen
Habenichtsen um eine baufällige Ruine im Wald zu prügeln.
Gelungener ist da die Dokumentation des historischen Bremer Genöles an
seinen Tourimagneten von heute. Von den Stadtmusikanten zum Erscheinen in
Grimms Kinder- und Hausmärchen wollte vor 200 Jahren kein Bremer etwas
wissen. Man hatte wohl Sorge, die schöne Hansestadt werde dereinst nur noch
mit Katzenmusik in Verbindung gebracht – und mit einem Haufen ausrangierter
Tiere, die es nicht einmal ganz her geschafft haben.
Im Kleinen wiederholte sich das dann noch mal in den 1950ern, als Gerhard
Marcks’ wunderbare Skulptur neben dem Rathaus aufgestellt wurde. Zu klein,
zu teuer und der Künstler nicht mal von hier, so der Bremer Volksmund.
## Die schönen Dinge am Rande
Aber das ist lange her. Heute hat sich Marcks’ Arbeit so widerspruchslos
als Wahrzeichen etabliert, dass sich darüber fast vergessen ließe, wie
wunderbar die Skulptur tatsächlich ist: diese enorme Spannung zwischen
reiner Form und dem (tierischem) Leben. Eine der tollsten Arbeiten in
„Tierischer Aufstand“ ist dann zugleich die unspektakulärste: Eine
Fototapete zeigt Marcks’ Stadtmusikanten im Wald, während ihres letzten
Jahres in Freiheit auf der Internationalen Plastikausstellung im Arnheimer
Park Sonsbeek.
Kurz gesagt: Die Ausstellung ist voller schöner Dinge, deren allerschönste
an den Rändern herumdrucksen. Am Ausgang steht ein Regal voller Nippes, den
Mitglieder des Kunstvereins von ihren Weltreisen mitgebracht haben. Und die
verraten weit mehr über Bremer Bedürfnisse als über die Künstler anderswo:
In Mexiko hat man die Stadtmusikanten eigens in Auftrag gegeben, wie sie
aus einem Keramikei schlüpfen. In Namibia entstand eine Perlenpuppe, in der
sich Löwe, Nashorn, Nilpferd und Huhn stapeln – ebenfalls als Bremische
Auftragsarbeit.
Den allerletzten Eindruck stiftet schließlich Jeff Koons mit seiner
gewaltigen Skulptur „Stacked“: ein mit glänzendem Lack überzogenes, fettes
Schwein, auf dem eine Ziege, zwei Hunde und ein Piepmatz sich herumlümmeln.
Voneinander wissen wollen sie nichts, sie scheinen ganz zufrieden damit,
aneinander vorbei in eine Welt zu glotzen, die ihnen so wenig zu sagen hat
wie umgekehrt. Koons’ hier ausgestellte Stadtmusikanten gehören zur
„Banality“-Serie – und damit wäre dann auch wirklich alles gesagt.
28 Mar 2019
## AUTOREN
Jan-Paul Koopmann
## TAGS
Bremen
Grimms Märchen
Kunst
Kunsthalle Bremen
Kolumne Alles getürkt
Kunst
Solidarität
OTB
Kunsthalle Bremen
## ARTIKEL ZUM THEMA
Was Bremen Tag für Tag rettet: Die Stars aus der Altstadt
Meine Tochter Hatice mag das Märchen von den Bremer Stadtmusikanten nicht.
Dabei ist es das wertvollste Märchen der Welt.
Ausstellung „Ikonen“ in Bremen: Kunst von Gottes Händen
Die Bremer Kunsthalle erzählt mit ihrer „Ikonen“-Schau eine Geschichte, die
bei Gott anfängt und mit Beyoncé noch nicht vorbei ist.
Solidarität der Kulturbetriebe: Viele sind nicht alle
Bremer Kunst- und Kulturinstitutionen verbünden sich: Angesichts eines
übergriffigen Rechtsnationalismus sei Solidarität geboten
Bremens Ideen für 2035: Die Zukunft ist männlich
Bremen bekommt bald mehr Geld und hat nun viele Ideen, wofür es ausgegeben
werden soll. Verbindlich ist kaum etwas an dem Plan.
Der „Hausheilige“ der Kunsthalle: Der Maler auf der Bühne
Theater, Varieté, Zirkus – Max Beckmann liebte die Bühne und malte das ganz
große Welttheater. Das zeigt jetzt erstmals die Bremer Kunsthalle.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.