| # taz.de -- Debatte Kriegsgedenken in Serbien: Kein gemeinsames Weinen | |
| > Serbien gedenkt seiner Opfer des Krieges – von denen auf kosovarischer | |
| > Seite will man nichts wissen. Echter Frieden sieht anders aus. | |
| Bild: Serben bei einer Gedenkveranstaltung am 24. März | |
| Wenn in Serbien [1][20 Jahre nach den Luftangriffen der Nato] der Opfer | |
| gedacht wird, dann fordert das Land auch Mitgefühl ein. Während der | |
| Bombenangriffe der Nato vom 24. März bis zum 10. Juni wurden Hunderte | |
| serbische Bürger getötet und ein Teil der Infrastruktur zerstört. Seither | |
| hat die serbische Bevölkerung verständlicherweise von der Nato die Nase | |
| voll. | |
| Als [2][Präsident Aleksandar Vučić] bei der Gedenkfeier am 24. März die | |
| Tränen kamen, zeigte das stellvertretend für die serbische Gesellschaft | |
| auch, wie tief der Schock noch heute sitzt. Allerdings erwähnte Vučić mit | |
| keinem Wort die Opfer auf der anderen Seite. | |
| In der serbischen Presse wird nicht einmal darüber berichtet, dass es | |
| Massengräber mit Albanern aus der Zeit des Krieges gibt. Die breite | |
| serbische Öffentlichkeit kennt nur eine einseitige Darstellung der | |
| Geschichte, auch wenn einige Oppositionelle dagegenhalten. Sie weiß nichts | |
| über die Etablierung eines repressiven Systems im Kosovo nach der Revision | |
| der serbischen Verfassung 1989. | |
| Sie weiß kaum etwas über den Beginn der 90er Jahre, als alle Albaner aus | |
| Stellungen des Staats und aus der Wirtschaft flogen. Sie weiß nichts von | |
| der alltäglichen Unterdrückung, der Albaner all die Jahre ausgesetzt waren. | |
| Und sie diskutiert nicht darüber, dass der damalige Präsident Slobodan | |
| Milošević mit dem Friedensschluss in Bosnien eine friedliche Regelung für | |
| Kosovo verhinderte. | |
| ## Kosovo als „Wiege der Nation“ | |
| Für sie sind die danach auftauchenden Kämpfer der UÇK, der | |
| Kosovo-Befreiungsorganisation, lediglich Terroristen, die es mit allen | |
| Mitteln zu bekämpfen galt. Denn im serbischen Geschichtsmythos des 19. | |
| Jahrhunderts ist Kosovo die „Wiege der Nation“, die es mit allen Mitteln zu | |
| verteidigen gilt – auch wenn die Serben seit Langem nur eine Minderheit im | |
| Kosovo darstellten. | |
| Folgerichtig wurden die brutalen Aktionen serbischer Polizisten und | |
| Soldaten von der Mehrheit der serbische Bevölkerung unterstützt. Die | |
| Zerstörung ganzer Landstriche, das Niederbrennen von einem Drittel der | |
| albanischen Dörfer 1998, ein Jahr vor der Nato-Aktion, kommt im kollektiven | |
| Bewusstsein der Serben nicht vor. | |
| Der serbische [3][General Ratko Mladić] hatte 1995 den Massenmord an über | |
| 8.000 Bosniaken im bosnischen Srebrenica „Rache an den Türken“ genannt. Er | |
| bezog sich auf die (verlorene) Schlacht gegen das Osmanische Reich auf dem | |
| Amselfeld (Kosovo Polje) 1389. 600 Jahre später also sollten die Bosnier | |
| dafür mit ihrem Leben bezahlen. Bis heute weigert sich die überwältigende | |
| Mehrheit der serbischen Öffentlichkeit, Srebrenica als Genozid | |
| anzuerkennen. | |
| Die Ereignisse um Srebrenica aber bildeten die Folie für die Entscheidung | |
| der Nato. Doch das wird als geschichtliche Tatsache nicht wahrgenommen. | |
| Hätte Milošević dem letzten Versuch, das Problem friedlich zu lösen, dem | |
| Abkommen von Rambouillet zugestimmt, wäre Kosovo heute unumstritten noch | |
| serbisches Staatsgebiet. Er hat die Chance verpasst. Deshalb drängten die | |
| Amerikaner und Briten auf den Krieg. | |
| ## 900.000 deportierte Albaner | |
| Bei der Entscheidung der rot-grünen Regierung, wegen Kosovo in Serbien | |
| militärisch einzugreifen, haben die serbischen Verbrechen in Bosnien, der | |
| Genozid in Srebenica, ganz sicher psychologisch eine Rolle gespielt. Der | |
| Schock von Srebrenica war der Hintergrund für [4][Joschka Fischers Hinweis | |
| auf die deutsche Position] nach dem Zweiten Weltkrieg: „nie wieder | |
| Auschwitz, nie wieder Krieg“. Nie wieder Auschwitz bedeutet im Zusammenhang | |
| mit den Balkankriegen, nie wieder monströse Verbrechen vor unseren Augen | |
| zuzulassen. In Kosovo drohten sich die Ereignisse von Bosnien zu | |
| wiederholen. | |
| Die aus der Aufarbeitung der deutschen Geschichte stammende Begründung | |
| wurde von anderen Mächten dankbar übernommen. Und sie hatten Grund dazu. | |
| Seit den 1920er-Jahren haben unterschiedliche serbische Regierungen | |
| versucht, die ethnische Zusammensetzung in Kosovo zu ihren Gunsten zu | |
| verändern. Die damals entstandene Denkschrift des serbischen Politikers | |
| Vasa Čubrilović – ein Plan, die Albaner aus Kosovo zu entfernen – wurde im | |
| Serbien der 90er Jahre erneut breit diskutiert – und ab 1998/99 | |
| durchgesetzt. Mit dem Nato-Einsatz ab 1999 wurde diese Strategie lediglich | |
| radikalisiert. Die Serben deportierten 900.000 Albaner nach Mazedonien und | |
| Albanien, 13.000 Menschen wurden dabei getötet. | |
| Nachdem Milošević im Juni 1999 kapituliert hatte, konnten diese Flüchtlinge | |
| zurückkommen. Nun flohen viele Serben, vor allem die nicht aus Kosovo | |
| stammenden Angestellten des Staates, die Racheakte der Albaner fürchten | |
| mussten. Auch die Serben Kosovos haben Opfer zu beklagen. Heute leben noch | |
| rund 120.000 von einst rund 220.000 Kosovo-Serben im Land. | |
| ## Breiter über die Vergangenheit diskutieren | |
| Trotz allem: Nach 20 Jahren hat sich die Lage in und um Kosovo einigermaßen | |
| beruhigt. Das 2008 für unabhängig erklärte Land ist multiethnisch geprägt. | |
| Auch Kosovo-Serben sind Teil der Regierung. Seit einigen Monaten wird über | |
| die diplomatische Anerkennung Kosovos durch Serbien verhandelt. | |
| Vučić, ehemaliger Informationsminister Miloševićs, verhandelt nun mit dem | |
| früheren Führer der UÇK, Hashim Thaçi, über einen Gebietsaustausch. Die | |
| Serbengebiete des Nordens sollen an Serbien, die Albanergebiete um die | |
| Stadt Preshevo an Kosovo gehen. Dann soll Serbien Kosovo diplomatisch | |
| anerkennen. Aber kann Vučić seine eigene, durch ihn selbst manipulierte | |
| Öffentlichkeit von der Aufgabe Kosovos überzeugen? | |
| Auf beiden Seiten müsste viel breiter über die Vergangenheit diskutiert | |
| werden. Die Albaner, die 13.000 Opfer zu beklagen haben, sind zwar | |
| grundsätzlich bereit dazu, könnten es aber nur, wenn die serbische | |
| Gesellschaft diese Opfer anerkennt. Ein wirklicher Frieden, so sagte einmal | |
| die serbische Genozidforscherin Janja Beč, ist erst möglich, wenn man, | |
| erschüttert über die Vergangenheit, gemeinsam weinen kann. Vučić und Thaçi | |
| können das bislang nicht. | |
| 28 Mar 2019 | |
| ## LINKS | |
| [1] /20-Jahre-Nato-Angriff-auf-Serbien/!5579713 | |
| [2] /Protest-in-Serbien-gegen-Praesident-Vuic/!5578484 | |
| [3] /Kommentar-Urteil-im-Fall-Mladic/!5462450 | |
| [4] /Moralisch-ueberzogen/!5176379 | |
| ## AUTOREN | |
| Erich Rathfelder | |
| ## TAGS | |
| Serbien | |
| Aleksandar Vucic | |
| Nato | |
| Srebrenica | |
| Kosovokrieg | |
| Genozid | |
| Bosnien | |
| Srebrenica | |
| Kosovo | |
| Bosnien und Herzegowina | |
| serbische Minderheit im Kosovo | |
| Kosovo | |
| Serbien | |
| Radovan Karadžić | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Hoher Repräsentant in Bosnien-Herzegowina greift durch: Leugnung von Völkermo… | |
| Die Zivilgesellschaft wurde erhört. In Bosnien-Herzegowina drohen künftig | |
| mehrjährige Haftstrafen für die Leugnung von Kriegsverbrechen. | |
| 25 Jahre Massaker von Srebrenica: Die offene Wunde | |
| 25 Jahre nach dem Massaker herrscht der Wunsch nach Versöhnung. Doch wie | |
| soll das gehen, wenn die Täter bis heute ungestraft ihre Verbrechen | |
| leugnen? | |
| Wahlen im Kosovo: Machtwechsel mit Folgen | |
| Nach Jahren des Stillstands steht Kosovo vor einer historischen Zäsur: Der | |
| Wahlgewinner Albin Kurti will endlich die Korruption bekämpfen. | |
| Jahrestag des Massakers in Srebrenica: Nicht in Trauer vereint | |
| 24 Jahre nach den Gräueltaten gedenken Bosnien und Herzegowina still der | |
| 8.000 Toten. Eine Ausnahme macht die serbische Teilrepublik Srpska. | |
| Road-Trip durch Kosovo: Unter Ausgegrenzten | |
| Serben sollen in Serbien leben, Albaner in Kosovo. Dazu muss man nur die | |
| Grenzen verschieben. So lautet der Plan. Was sagen die Betroffenen? | |
| Nato-Luftangriffe auf Jugoslawien: Sagt Sorry fürs Uran! | |
| Zwanzig Jahre nach dem Kosovokrieg kritisieren AktivistInnen den Einsatz | |
| radioaktiver Munition. Von der Regierung fordern sie Konsequenzen. | |
| 20 Jahre Nato-Angriff auf Serbien: Örtlich gebombt | |
| Vor 20 Jahren trieb die rot-grüne Regierung Deutschland in den Kosovokrieg. | |
| Ein Präzedenzfall, der die Welt veränderte. | |
| Kommentar Finales Urteil gegen Karadžić: Die Wahrheit anerkennen | |
| Das verschärfte Urteil für Radovan Karadzic wird Serbien aufwühlen. Will | |
| das Land in die EU, darf esnicht länger in Rechthaberei verharren. |