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# taz.de -- 20 Jahre Nato-Angriff auf Serbien: Örtlich gebombt
> Vor 20 Jahren trieb die rot-grüne Regierung Deutschland in den
> Kosovokrieg. Ein Präzedenzfall, der die Welt veränderte.
Bild: „Ich warte auf die Bomben der Nato“, sagte unser Autor am 24. März 1…
Der 24. März 1999 war in Belgrad sonnig und warm. Ich saß am Nachmittag in
einem Café mit Blick auf die Donau. Ein Freund rief mich auf meinem Handy
an, teilte mir mit, dass er mit Zigaretten, Wasser und Sprit vorgesorgt
habe, und fragte mich, was ich denn so tue. „Ich warte auf die Bomben der
Nato“, antwortete ich und legte auf.
Ich musste grinsen, so surreal klang das. Wir wussten, dass es in wenigen
Stunden losgehen würde – der Krieg gegen die Nato. Besser gesagt, der Nato
gegen Serbien. Ich befand mich in einem Zustand erwartungsvoller
Ungläubigkeit. Wie soll das aussehen, wenn die Nato, wenn wieder einmal
Deutschland, Serbien bombardiert? Wenn Briten, Franzosen, Italiener,
Amerikaner, die Deutschen mich bombardieren? Irgendwie nahm ich das
persönlich. Und nicht nur ich.
Am Abend hörte ich zum ersten Mal das Heulen des Fliegeralarms. Heute
vermischen sich in meiner Erinnerung die Geräusche des Luftkrieges: Das
tiefe Brummen unsichtbarer Bomber, das Zischen der Marschflugkörper, die
ihr Ziel suchen, das Knattern der serbischen Flak, die dumpfen oder grellen
Explosionen, die darauf folgten. Und die nächtliche Bildkulisse: helle
Spuren der serbischen Flugabwehrraketen auf schwarzem Himmel,
orange-rötliche Flammen nach dem Einschlag der Bomben.
Wir lernten Begriffe wie: „Grafitbomben“, „Lenkwaffen“,
„Tarnkappenflugzeuge“, „Uranmunition“, „Streubomben“. Als ob wir au…
Testgelände für die [1][Präsentation des Nato-Waffenarsenals gewesen
wären].
Und „Kollateralschaden“. Das war mein Lieblingsbegriff. Er wurde verwendet,
wenn die Nato eine Kolonne albanischer Flüchtlinge im Kosovo, einen zivilen
Zug, den Bauernmarkt in Niš, die neurologische Klinik oder die chinesische
Botschaft in Belgrad getroffen hatte.
Das alles prägte sich im kollektiven Gedächtnis der Serben ein, denen heute
eine „EU-Perspektive“ in Aussicht gestellt wird.
## Zerbombtes Vertrauen
Nach 78 Tagen, 2.300 Luftschlägen und rund 50.000 abgefeuerten Projektilen
lenkte Serbiens Herrscher Slobodan Milošević ein, aber erst als ihn Moskau
unter Druck setzte. Die Zahl der Opfer schwankt zwischen 1.200 und 2.500,
darunter 79 Kinder. Jedes Jahr gedenkt man in Serbien der Menschen, die die
Nato umgebracht hat.
Am 9. Juni 1999 wurde in der mazedonischen Stadt Kumanovo ein Abkommen
unterzeichnet, das die Operation Allied Force beendete. Serbische
Streitkräfte zogen sich aus dem Kosovo zurück, internationale
Friedenskräfte marschierten in das Kosovo ein, die südliche serbische
Provinz wurde unter UN-Obhut gestellt. Am 17. Februar 2008 rief Pristina
die Unabhängigkeit aus, die Serbien bis heute nicht anerkennt.
Während das serbische Heer und die politische Spitze ungeschoren
davonkamen, waren nach den Luftangriffen serbische Infrastruktur und
Wirtschaft zerbombt. Zerbombt war auch das Vertrauen der westlich und
demokratisch orientierten serbischen Opposition in den Westen, vor allem in
die Europäische Union. Die Serben betrachten, ich betrachte das
Bombardement als Schandtat, die die USA mithilfe von Tony Blair und Gerhard
Schröder der EU aufgedrängt haben.
Die Folgen sind heute noch nicht nur in Serbien, sondern in der gesamten
Weltpolitik zu spüren. Die Luftangriffe der Nato auf die Bundesrepublik
Jugoslawien (Serbien und Montenegro) ohne UN-Mandat waren ein
Präzedenzfall, der die Nachkriegsordnung veränderte. Es folgte der
Irakkrieg der „Koalition der Willigen“ im März 2003, da war Deutschland
jedoch nicht willig mitzumachen; die Argumentation für den Kriegseinsatz
(angebliche chemische Waffen von Saddam Husein) war ebenso unglaubwürdig
und das ganze Vorhaben völkerrechtswidrig wie im Falle der Bundesrepublik
Jugoslawien.
## Verhöhnung der Vereinten Nationen
Es war nämlich ein Angriffskrieg der Nato auf ein souveränes Land, der im
Widerspruch zur eigenen Charta stand. Es war der erste Kriegseinsatz der
deutschen Bundeswehr nach dem Zweiten Weltkrieg und widersprach dem
deutschen Grundgesetz – 14 deutsche Tornados wurden für die Luftaufklärung
eingesetzt und bekämpften serbische Flugabwehrstellungen. Eine Verhöhnung
der Vereinten Nationen und des Völkerrechts. Der „Kosovokrieg“ öffnete die
Tür für die Kriegseinsätze im Irak, in Libyen, Syrien, Jemen.
Obwohl Serbien heute mit der Europäischen Union über seine Mitgliedschaft
verhandelt, ist wegen der Luftangriffe eine serbische Mitgliedschaft in der
Nato ausgeschlossen. Das verdüstert die EU-Perspektive Serbiens, denn kein
einziges osteuropäisches Land trat der EU bei, bevor es Nato-Mitglied
geworden war.
Der beliebteste ausländische Politiker in Serbien ist Wladimir Putin. Die
Serben lieben die Russen, denn „die Russen waren immer auf unserer Seite,
und die Nato hat uns bombardiert, um uns das Kosovo, die Wiege des
Serbentums, wegzunehmen“; und die Deutschen „wollten sich für zwei
verlorene Kriege rächen“. Obwohl die bilateralen Beziehungen zwischen
Deutschland und Serbien heute sehr gut sind, schweben über ihnen noch immer
deutsche Tornados.
Eine der Folgen der Luftangriffe der Nato von 1999 ist auch, dass Serbien,
neben der serbischen Entität in Bosnien, Republika Srpska, das letzte
russische Standbein auf dem Balkan geblieben ist.
Was die Nato zum Anlass für den „Kosovokrieg“ nahm (ein angebliches
Massaker an albanischen Zivilisten in dem kosovarischen Dorf Račak), hat
sich als Fake News entpuppt, so wie später auch die angebliche Existenz von
chemischen Waffen von Saddam Hussein.
## „Nie wieder Auschwitz“
Wenn ich an den Ausruf „Nie wieder Auschwitz“ des damaligen grünen
Außenministers Joschka Fischer beim Parteitag der Grünen am 13. Mai 1999 im
Zusammenhang mit dem Kosovokrieg denke, wird mir übel. Es war eine
Unverschämtheit, den Holocaust zu instrumentalisieren, ein billiger
Propagandatrick, um gegen die nachlassende Begeisterung der Deutschen und
der Grünen für den Kriegseinsatz zu steuern.
Da muss ich auch an die glatten Lügen des damaligen Verteidigungsministers
Rudolf Scharping denken, der zum Beispiel eine klapprige Brücke über die
Donau zum „legitimen Kriegsziel“ erklärte oder von einem angeblichen
serbischen „Hufeisenplan“ schwafelte, die Albaner durch ethnische Säuberung
aus dem Kosovo zu vertreiben.
Und die Fernsehansprache von Bundeskanzler Gerhard Schröder: „Wir führen
keinen Krieg, aber wir sind aufgerufen, eine friedliche Lösung im Kosovo
auch mit militärischen Mitteln durchzusetzen.“ Wir bombardieren, aber wir
führen keinen Krieg. Wir sind für friedliche Konfliktlösung, aber wir sind
bereit, einige Tausend unschuldige Menschen umzubringen. Waren damals
eigentlich alle übergeschnappt?
Sollte man heute Jerusalem wegen Palästina bombardieren, hätte man London
wegen Nordirland bombardieren sollen?
Ich kann mich noch an Schröders unverhohlene Erleichterung erinnern, als
Wiktor Tschernomyrdin, der Sonderbeauftragte von Boris Jelzin, die
Nachricht aus Belgrad brachte, dass Milošević zum Einlenken bereit sei. Der
Spuk eines in Erwägung gezogenen Bodeneinsatzes der Nato in Serbien war
vorbei. Und die Unterstützung der Deutschen für den ganzen
Kriegsschlamassel schwand dramatisch.
## Das „Friedensprojekt Europa“
Um es noch einmal festzustellen: Ja, serbische Streitkräfte und
paramilitärische Einheiten haben Albaner systematisch aus dem Kosovo
vertrieben, aber erst nach den ersten Nato-Bomben. Und nein, es gab keine
Konzentrationslager im Kosovo, von wegen Auschwitz.
Es steht außer Frage, dass das Regime Milošević die serbische Soldateska in
Kroatien und Bosnien und Herzegowina unterstützte und für serbische
Kriegsverbrechen in Vukovar, Sarajevo oder Srebrenica sowie für die gegen
Albaner gerichtete Repression im Kosovo direkt oder indirekt verantwortlich
war, wie ich auch für die taz in den 1990er Jahren in etlichen Artikeln
geschrieben habe. Aber das rechtfertigt noch lange nicht die Luftschläge
auf die zivile Infrastruktur eines souveränen Staates, dessen Diktator man
wegfegen wollte, während ich, meine Freunde und Kollegen Kopf und Kragen
riskiert hatten im Kampf gegen dieses Regime. In diesem Fall hat die Nato
unter der Führung der USA nicht nur in einem Bürgerkrieg, einem Krieg für
die Sezession eines Territoriums, Partei ergriffen, sie hat die
Infrastruktur eines Landes zerbombt und einen Schaden von über 30
Milliarden Euro angerichtet. Es war eine Machtdemonstration.
Die Kriegslust der rot-grünen deutschen Regierung war für mich eine riesige
Enttäuschung. Mehr noch als die Tatsache, dass Günter Grass, der mit meinem
Vater befreundet war, den Nato-Krieg gegen mein Land unterstützte. Als ob
alle örtlich betäubt gewesen wären. Grass gestand später seinen Fehler,
Putins Freund Schröder und Fischer taten das nie. Zumindest nicht
öffentlich.
Der Kriegseinsatz der deutschen Luftwaffe [2][gegen die Bundesrepublik
Jugoslawien 1999] ist in Deutschland im Großen und Ganzen untergegangen.
Für mich ist es erstaunlich, dass das keine größere gesellschaftliche
Debatte ausgelöst hatte. Punktuell, unmittelbar nach dem Kosovokrieg, das
schon, aber ein weit und tief greifendes öffentliches Thema ist es nie
geworden.
Ich würde gern wissen, was Genosse Schröder, oder Joschka Fischer oder die
heutigen Parteispitzen der Grünen und der Roten darüber denken. Halten sie
den Kosovokrieg auch jetzt für gerechtfertigt? Sind sie sich dessen bewusst
geworden, dass sie das „Friedensprojekt Europa“ für viele unglaubwürdig
gemacht haben? Nicht die Nato-Bomben haben das Regime Milošević einknicken
lassen, die Bürger Serbiens haben es letztendlich zu Fall gebracht.
24 Mar 2019
## LINKS
[1] https://www.tagesschau.de/jahresrueckblick/meldung125906.html
[2] /Die-Graeber-des-Balkans/!5556286
## AUTOREN
Andrej Ivanji
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