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# taz.de -- Debatte Psychotherapie: Jenseits der Couch
> Wir brauchen mehr PsychotherapeutInnen. Aber auch mehr Toleranz für
> Krisen, Abweichungen und das Nicht-Funktionieren im Leben.
Bild: Die Toleranz für Dysfunktionen darf nicht schrumpfen
Das Versprechen von [1][Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU)] wird nicht zu
halten sein. „Die Wartezeit auf eine psychotherapeutische Akutbehandlung
darf zwei Wochen nicht überschreiten“, heißt es im gerade verabschiedeten
Terminservice- und Versorgungsgesetz. Eine „Akutbehandlung“ umfasst 12
Therapiestunden. „Da werden Versprechen gegeben, die nicht einzulösen sind,
denn so viel freie Kapazitäten gibt es gar nicht“, rügt Stefan Baier,
Psychotherapeut im hessischen Offenbach.
Baier hat einen Protestbrief mit initiiert, in dem sich mehrere
Therapeutinnen über [2][neue Terminvorgaben] von den Kassenärztlichen
Vereinigungen beschweren. Sein Argument: Es gibt zu wenige
PsychotherapeutInnen mit Kassenzulassung, um die steigende Nachfrage nach
einer Behandlung zu befriedigen. Die Wartezeiten auf eine Psychotherapie
liegen im Schnitt bei fünf Monaten. Wer wann welche Psychotherapie bekommen
kann und soll, ist zum Politikum geworden.
Fast 30.000 PsychotherapeutInnen behandeln in Deutschland auf Kosten der
gesetzlichen Krankenkassen. Die Zahl ist limitiert. Der Gemeinsame
Bundesausschuss (G-BA), in dem sich Vertreter der Krankenkassen und
Kassenärzte befinden, kündigt für Juni neue Richtwerte an, durch die sich
die Zahl der Kassensitze erhöhen wird, wahrscheinlich vorrangig in den
unterversorgten ländlichen Regionen.
Doch das Verteilungsproblem ist damit nicht gelöst, denn die Kapazitäten
für die bezahlte Zuwendung und Behandlung bleiben knapp. Die Zahl der
psychiatrischen Diagnosen bei Krankschreibungen und Frühverrentungen
hingegen steigt. Für eine Behandlungsstunde zahlen die gesetzlichen Kassen
rund 90 Euro Honorar.
## Was heißt überhaupt „schwer krank“
PsychotherapeutInnen müssen jetzt schon 100 Minuten in der Woche als
niedrigschwellige Bestellsprechstunde anbieten, die Terminservicestellen
der kassenärztlichen Vereinigungen vermitteln PatientInnen dahin. Wer
danach in eine 12-stündige Akutbehandlung oder eine 25-stündige
Kurzzeitherapie oder sogar eine längere analytische Therapie übernommen
wird, das entscheiden die BehandlerInnen allein.
Verbindliche Kriterien für eine Auswahl der PatientInnen existieren nicht,
dafür aber offene Fragen: Soll man vor allem krankgeschriebene Berufstätige
eher behandeln, weil deren Arbeitsunfähigkeit Kosten verursacht? Sollte man
nach der Schwere der Krankheit gehen und sich mehr um chronische
Psychotiker kümmern? Sie machen nur eine kleine Minderheit in den
therapeutischen Praxen aus und landen oftmals in einer reinen
Medikamententherapie beim Psychiater.
Aber was heißt überhaupt „schwer krank“? Selbst hoch Depressive, die schon
ihren Suizid planen, können nach außen hin unauffällig und angepasst
wirken. Aus den USA stammt das Vorurteil, TherapeutInnen bevorzugten
Yavis-PatientInnen, also Leute, die „young, attractive, verbal,
intelligent, successful“ seien. Gemieden würden hingegen Hound-PatientInnen
(„homely, old, unattractive, nonverbal, dumb“).
Für diese Unterstellung gibt es aber keine Belege. Nach Zahlen des
Robert-Koch-Instituts erhält nur jeder Fünfte, der psychisch erkrankt, noch
im gleichen Jahr eine Therapie. Mehr als die Hälfte der Behandlungen seien
Kurzzeittherapien mit bis zu 25 Stunden, so Zahlen von der
Bundespsychotherapeutenkammer. Die Patientengruppen sind sehr vielfältig.
Darunter sind Menschen, die depressiv in einer unglücklichen Ehe hängen,
aber auch Leute, die ganz alleine gegen eine angebliche Weltverschwörung
kämpfen, die nur sie selbst so bedrohlich erleben.
Die Zahl der Kassensitze für Psychotherapeuten [3][muss erhöht werden] und
die BehandlerInnen sollten auch auf die Heterogenität ihrer Klientel
eingehen können. Das fängt mit der Ausbildung an: Bisher gibt es zwei
kassenfinanzierte Richtlinienverfahren: erstens die gegenwartsbezogenen
Verhaltenstherapien und zum Zweiten die psychodynamischen und analytischen
Methoden, die sich stark mit der Lebensgeschichte, auch der Kindheit
beschäftigen.
Perspektivisch sollten TherapeutInnen nicht nur wie bisher eines dieser
Verfahren beherrschen, sondern Kenntnisse in beiden Methoden haben. Das
heißt, sie können Techniken vermitteln, wie man Denk- und Verhaltensmuster
verändert, aber auch Methoden, wie man Konflikte in der eigenen
Lebensgeschichte und -situation aufdeckt und bewältigt. In den Ausbildungen
sollte auch die Therapie von Psychotikern gelehrt werden, jenseits von
einer reinen Medikamentenbehandlung. Ansätze dazu gibt es bereits.
## Toleranz muss wachsen
Die Behandler sollten PatientInnen auch für andere Stütz- und Hilfssysteme
im Leben öffnen, in Sport, Meditation, künstlerischer Betätigung, aber nur,
wenn es passt. Die Behandlungen müssen zudem anschlussfähig sein an andere
Hilfesysteme. Es ist gut, dass laut der geplanten Ausbildungsreform
Psychotherapeuten künftig Ergotherapie und ambulante psychiatrische
Krankenpflege verordnen dürfen.
Kassenfinanzierte PsychotherapeutInnen können aber nicht die
gesellschaftlichen Defizite im Erziehungswesen, in der Arbeitswelt und in
den Familien auf Dauer großflächig reparieren. Wer aufgrund von Stress im
Job krank wird, braucht eine tolerantere Arbeitswelt. Wer den Partner
verliert, muss durch die Trauer durch und sich andere Kontakte suchen.
Manchmal bleibt der Schmerz auch bestehen. Psychotherapeuten können die
Gefühle von Abschied, Verlust und Trauer nicht eliminieren.
Die Toleranz für Dysfunktionen im ganz normalen Leben darf nicht
schrumpfen, indem man Abweichungen von der Norm zunehmend in Sprechzimmer
verbannt und sich in den sozialen Netzwerken niemand traut, darüber zu
sprechen. Im Gegenteil, die Toleranz muss wachsen im Alltag, in der
Jobwelt, in Freundschaften, Netzwerken, Familien. Erst dann kann die
zeitlich begrenzte Zuwendung auf Krankenschein wirklich hilfreich sein.
20 Mar 2019
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## AUTOREN
Barbara Dribbusch
## TAGS
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