| # taz.de -- Themenschwerpunkt Syrien in Hamburg: Undurchdringlich bleibt die Wa… | |
| > Drei Tage lang wirft Kampnagel mit Theater, Diskussion und Konzerten | |
| > einen Blick auf die Situation syrischer Künstler*innen seit dem Ausbruch | |
| > des Bürgerkrieges. | |
| Bild: Das Wohl der Mitarbeiter war dem französischen Lafarge-Konzern egal: Sze… | |
| Hamburg taz | Diese Betonwand bleibt vollkommen unbeschadet, nichts scheint | |
| ihr etwas anhaben zu können. Der Zement, mit dem sie gegossen wurde, steht | |
| für Stabilität, für etwas, auf das Verlass ist – das ist die Botschaft | |
| dieses Werbespots der ägyptischen Dependance des weltweit tätigen | |
| französischen Baustoff-Konzerns Lafarge: Ein Auto nebst Crashtest-Dummy | |
| rast auf die Wand zu, wird vorn komplett zerstört, der Dummy fliegt durch | |
| die zerborstene Scheibe gegen die Mauer und die Ingenieure überprüfen den | |
| Schaden. Jubel: kein Kratzer im Beton! | |
| Auf eine Betonwand im Hintergrund der Bühne projiziert wird dieser kurze | |
| Clip in den ersten Minuten des Theaterstücks „The Factory“ des syrischen | |
| Dramatikers und Essayisten Mohammad Al Attar und des syrischen Regisseurs | |
| Omar Abusaada. | |
| Im Herbst vergangenen Jahres feierte die eindringliche Mischung aus | |
| Doku-Theater und Poesie als [1][Auftragswerk auf der Ruhrtriennale | |
| Premiere]. In Hamburg ist das Stück – auf Arabisch, mit deutscher und | |
| englischer Übertitelung – nun im Rahmen des dreitägigen | |
| Kampnagel-Schwerpunkts „Syrische Situation“ zu sehen, der seit Donnerstag | |
| aus Anlass des Jahrestages des Beginns des Arabischen Frühlings in Syrien | |
| die aktuelle Situation des Landes, aber auch die Situation geflüchteter | |
| Syrer*innen in den Blick nimmt. | |
| Am Ende von „The Factory“ steht der syrische Arbeiter Ahmad vor einer | |
| runden Betonmauer. Ein Bunker könnte diese dreiteilige Struktur sein, | |
| vorher diente sie, in immer neuen Zusammensetzungen, als Tor oder Mauer | |
| jenes [2][riesigen Lafarge-Zementwerks im Norden Syriens], in dem Ahmad | |
| gearbeitet hat. Unweit der Grenze zur Türkei liegt es, in der Nähe der | |
| Stadt Manbidsch. 2010 hat die syrische Filiale des Konzerns das Werk für | |
| 680 Millionen Euro bauen lassen: die größte Baustoff-Fabrik des Landes. | |
| Ein paar Löcher, vielleicht von Einschüssen, sind im Beton zu sehen. Aber | |
| immer noch steht die Mauer da, unüberwindbar: ein Monument, das die Wirren | |
| der Zeit übersteht. Das war der ausdrückliche Plan des Konzerns: Dass die | |
| Fabrik den syrischen Bürgerkrieg unbeschadet übersteht, um beim | |
| Wiederaufbau des Landes an vorderster Front mitmischen zu können. | |
| ## Theater über den Lafarge-Skandal | |
| Wie Lafarge das geschafft hat, ist ein Skandal: Im Juni 2016 erst wurde | |
| durch [3][Recherchen der französischen Journalistin Dorothée Myriam Kellou] | |
| bekannt, dass der Konzern millionenschwere finanzielle Arrangements mit | |
| Kriegsparteien eingegangen war, um die Fabrik während des Krieges weiter | |
| betreiben zu können. Lafarge behauptet, all das getan zu haben, um die | |
| [4][Mitarbeiter*innen zu schützen]. Erst floss Geld an die kurdischen | |
| Volksverteidigungseinheiten (YPG), später an die islamistische | |
| Terrororganisation „Islamischer Staat“ (IS). | |
| Im Frühling vergangenen Jahres hat Lafarge zugegeben: [5][Rund fünf | |
| Millionen US-Dollar hat der Konzern seit 2011 an bewaffnete Gruppen | |
| gezahlt]. Gegen sechs leitende Angestellte wird nun seit 2018 wegen | |
| Finanzierung des Terrorismus und [6][Beihilfe zu Verbrechen gegen die | |
| Menschlichkeit ermittelt]. Ein Meilenstein, [7][betont die französische | |
| Menschenrechtsorganisation Sherpa]: Erstmals wird wegen Verbrechen gegen | |
| die Menschlichkeit gegen ein Unternehmen ermittelt. | |
| 2014 besetzte der IS das Werk schließlich doch. Die letzten Arbeiter*innen | |
| konnten gerade noch rechtzeitig mit den letzten verbliebenen Autos | |
| flüchten. Heute befindet sich auf dem Gelände ein US-Militärstützpunkt. Das | |
| Gebäude ist immer noch unbeschadet. | |
| „The Factory“ erzählt die Geschichte des Zementwerks aus vier ganz | |
| unterschiedlichen Perspektiven, ausgehend von den unbestrittenen Fakten, | |
| aber auch mit fiktiven Elementen: Auf der Bühne stehen der Arbeiter Ahmad | |
| und die algerisch-französische Journalistin Maryam, deren Recherchen nach | |
| einer E-Mail Ahmads die Verstrickungen des Konzerns aufgedeckt haben; | |
| außerdem der syrische Geschäftsmann Firas, der zu Beginn noch Anteile an | |
| der Fabrik hielt, sowie der syrisch-kanadische Unternehmer Amr, der als | |
| Berater enge Beziehungen zum Konzern hatte. | |
| ## Überschneidung von Perspektiven | |
| Al Attar und Abusaada erzählen die Geschichte als Überschneidung sich | |
| ergänzender, aber eben auch sich widersprechender Perspektiven auf die | |
| Wahrheit. Während die beiden Unternehmer und die Journalistin dabei im | |
| Verlauf des Stückes immer mehr zu Karikaturen manipulativer Macht-trunkener | |
| werden, die für die moralische Verwerflichkeit der Protagonist*innen des | |
| Skandals stehen, kommt dem Arbeiter Ahmad die ungebrochene Rolle des Opfers | |
| zu. | |
| Mit ihm und seiner Geschichte, die mit der Flucht der Familie in die Türkei | |
| endet, beziehen Al Attar und Abusaada Stellung, rücken die menschliche | |
| Dimension in den Fokus – und verlieren die politische zunehmend aus den | |
| Augen. Nicht um klassisches Doku-Theater geht es ihnen offensichtlich, | |
| sondern um die Betonung des subjektiven Erlebens von Menschen, die anderen | |
| nur als Spielball dienen. | |
| Das ist es auch, was Kurator Anas Aboura, der auf Kampnagel das Projekt | |
| „[8][Migrantpolitan]“ bespielt und die nicht nur bei arabischen | |
| Geflüchteten erfolgreichen Konzert- und Partyreihen „[9][Oriental Karaoke]“ | |
| und „[10][Dub-ke]“ organisiert, mit seinem Mini-Festival in den Blick | |
| rücken will: Nicht die komplexe und auch in der syrischen Exil-Community | |
| höchst umstrittene politische und auch soziale Situation in ihrer Gänze | |
| abbilden soll der Schwerpunkt mit „The Factory“, drei Konzerten und einer | |
| Podiumsdiskussion, die bereits am Freitag stattfand. Sondern eben die | |
| Erfahrung konkreter Menschen in den Blick nehmen. | |
| „Wir versuchen, unter die Oberfläche des politischen Konflikts zu stoßen, | |
| um die menschliche Dimension syrischer Künstler*innen zu reflektieren“, | |
| sagt Aboura. „Wie sind sie betroffen, welche Auswirkungen haben die Folgen | |
| des Arabischen Frühlings auf ihre Situation?“ | |
| Im nächsten Jahr soll der Themenschwerpunkt wieder stattfinden, und zwar in | |
| einem größeren Rahmen. Und mit einem beeindruckenden Projekt, das diesmal | |
| noch nicht realisiert werden konnte und den Arabischen Frühling auch für | |
| Nicht-Syrer am eigenen Körper erlebbar machen soll: Geplant ist eine große | |
| immersive Installation des Suq al-Hamidiya, also des berühmtesten Basars in | |
| Damaskus. Denn dort fanden im März 2011 die ersten Proteste gegen das | |
| Regime von Baschar al-Assad statt. | |
| 15 Mar 2019 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Eroeffnungswochenende-der-Ruhrtriennale/!5524764 | |
| [2] https://www.nytimes.com/2018/03/10/business/isis-is-coming-how-a-french-com… | |
| [3] http://dorotheemyriamkellou.tumblr.com/aboutme | |
| [4] https://www.zeit.de/wirtschaft/unternehmen/2017-04/lafarge-schweiz-zementpr… | |
| [5] http://www.spiegel.de/wirtschaft/rfinanzierung-in-syrien-ermittlungsverfahr… | |
| [6] https://www.handelsblatt.com/unternehmen/industrie/zementkonzern-lafarge-dr… | |
| [7] https://www.ecchr.eu/nc/pressemitteilung/historische-entscheidung-im-fall-l… | |
| [8] https://www.kampnagel.de/de/programm/migrantpolitan/ | |
| [9] https://www.kampnagel.de/de/programm/9-oriental-karaoke/ | |
| [10] https://www.kampnagel.de/en/program/3-adventures-in-arab-techno/ | |
| ## AUTOREN | |
| Robert Matthies | |
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