# taz.de -- Präsidentschaftswahl in Algerien: Dunkler Frühling | |
> Die Proteste gegen ihn halten an. Abdelaziz Bouteflika, der kranke | |
> Präsident, verkörpert in Algerien seit 20 Jahren „die Macht“. | |
Bild: Keine fünfte Amtszeit für Bouteflika, fordern die jungen Demonstrantinn… | |
BERLIN taz | Hinterher weiß man mehr: [1][Nach den heftigen Protesten der | |
vergangenen Wochen] dürfte dem algerischen Regime klar sein, dass es keine | |
gute Idee war, den 82-jährigen Abdelaziz Bouteflika [2][ein weiteres Mal | |
für die Wahl im April aufzustellen.] „Kein fünftes Mandat“, hallt es durch | |
die Straßen des Landes. Algerien steckt in einer Staatskrise. Schon | |
sprechen Beobachter von Revolution; das beliebte Wort Frühling ist wieder | |
zu vernehmen. | |
Ein neuer Arabischer Frühling allerdings, so viel vorweg, beginnt schon | |
deshalb nicht, weil es nicht Araber waren, sondern Berber in der Kabylei, | |
die Mitte Februar die massiven Proteste lostraten. Seit Jahren schon ist | |
die nordalgerische Berberregion das Epizentrum des Widerstands gegen das | |
Regime in Algier. | |
Doch ganz unabhängig davon: Frühlingsgefühle in Algerien sind ohnehin eine | |
Sache für sich. Die arabischen Aufstände von 2011 weckten in Algerien | |
dunkle Erinnerungen. Als die Menschen von Damaskus bis nach Tunis ihre | |
Stimme wiederfanden und gegen die verkrusteten Strukturen ihrer autoritären | |
Herrschaftssysteme aufbegehrten, sahen sich viele in dem nordafrikanischen | |
Land an den blutigen algerischen Bürgerkrieg der neunziger Jahre erinnert. | |
Die traumatischen Erinnerungen nutze diese Woche auch Algeriens Armeechef. | |
Von „Zeiten des Schmerzes“ sprach Ahmed Gaid Salah nach den | |
Massenkundgebungen vom vergangenen Wochenende. Und versprach: Die Armee | |
werde die „Zügel“ in der Hand behalten, um die errungene Sicherheit zu | |
festigen. Sie werde nicht zulassen, dass das Land in den Bürgerkrieg | |
zurückfalle. | |
Die Worte des Armeechefs waren eine kalkulierte Mahnung. Nur zu gut weiß | |
der General, was er damit triggert, weiß, dass kaum jemand in Algerien sich | |
in die Neunziger zurücksehnt. Dem Bürgerkrieg, der zwischen 60.000 und | |
150.000 Todesopfer forderte, war Ende der achtziger Jahre ein „politischer | |
Frühling“ mit demokratischen Wahlen vorausgegangen. Radikale Islamisten | |
gewannen, das Militär machte dem Experiment ein blutiges Ende. | |
Es ist diese konfliktreiche Ursuppe, [3][aus der 1999 Algeriens einst | |
starker Mann hervorging.] Abdelaziz Bouteflika, der sich schon kurz nach | |
der Unabhängigkeit von den Franzosen als langjähriger Außenminister | |
verdient gemacht hatte, war es, der den Konflikt zwischen Armee und | |
Islamisten beilegte. Er erließ eine Amnestie und gliederte die vielen | |
Kämpfer wieder ins zivile Leben ein. Ruhe und Stabilität zogen ein, die | |
AlgerierInnen dankten es ihm. | |
## „Kartellähnliche Strukturen“ | |
Heute, zwanzig Jahre später, nennen die AlgerierInnen das Bouteflika-Regime | |
schlicht „die Macht“, eine treffende Beschreibung für ein undurchsichtiges | |
Geflecht von politischen, militärischen und wirtschaftlichen Eliten sowie | |
dem mächtigen Geheimdienstapparat. | |
Von „kartell-ähnlichen Strukturen“ spricht der Politologe Thomas Serres von | |
der Universität of California in Santa Cruz. In diese seien auch mächtige | |
Unternehmer, Berufsverbände und selbst Gewerkschaften verstrickt. Diese | |
Eliten verteilen den Ressourcenreichtum des Landes nach ihrem Gutdünken. | |
Die Macht der „Macht“ gründet auf einem einfachen Herrschaftsprinzip: | |
Solange die einfachen Menschen vom Staat abhängig sind, wenden sie sich | |
nicht gegen dessen Spitze. | |
Bouteflika war es, der dieses fragmentierte System, die miteinander in | |
Konkurrenz stehenden Flügel des Regimes zusammenhielt. Doch die Zeiten | |
ändern sich. Der Noch-Präsident sitzt nach einem Schlaganfall im Rollstuhl. | |
Auf Aufnahmen starrt er – nach links gebeugt und mit leicht offenem Mund – | |
ins Leere. Seine letzte Rede hielt er im Jahr 2012. Die Massenproteste in | |
seinem Heimatland verfolgte der 82-Jährige – wenn überhaupt – aus dem | |
Krankenbett einer Genfer Klinik, in der er sich, schwer bewacht, seit fast | |
zwei Wochen für medizinische Untersuchungen aufhält. | |
„Was von Bouteflika übrig bleibt“, sagt Serres, „ist sein physischer | |
Körper.“ Der algerische Präsident, man kann es so sagen, ist Vergangenheit. | |
Das algerische Ungetüm namens „Macht“ hat seinen Kopf verloren. | |
Während der Mann an der Staatsspitze immer älter wurde, ist die algerische | |
Bevölkerung immer jünger geworden. „Ich bin 20 Jahre alt und kenne nur dich | |
als Präsidenten“, hatte eine Demonstrantin auf einer Studierendendemo am | |
Dienstag auf ihr Transparent geschrieben. Mittlerweile hat die Mehrheit der | |
AlgerierInnen den Bürgerkrieg der Neunziger entweder nicht mehr oder nur | |
als Kind miterlebt. | |
## Das Volk will gehört werden | |
Hinzu kommt, dass der Öl- und Gasreichtum, auf den das Regime angewiesen | |
ist, um die Menschen im Land ruhigzustellen, seit Jahren schwindet. Im Jahr | |
2013, sagt Serres, seien zwei wichtige Ereignisse zusammengefallen: | |
„Bouteflikas Schlaganfall und sinkende Gas- und Ölpreise. Das waren | |
gewaltige Veränderungen, die seine Legitimität untergraben haben.“ | |
[4][Das Narrativ Bouteflika, es funktioniert nicht mehr.] Da helfen auch | |
Warnungen vor dem „schwarzen Jahrzehnt“ nicht oder, wie es Algeriens | |
verhasster Premierminister Ahmed Ouyahia darstellte, vor dem syrischen | |
Szenario. Über die Rosen, die Demonstranten in Algier den Polizisten in die | |
Uniformen steckten, sagte er: „Das ist schön, aber es erinnert mich an | |
Syrien, da hat es auch mit Rosen angefangen.“ | |
Ein Präsident im Krankenbett, ein Regime ohne Kopf und ein Volk, das gehört | |
werden will. Was nun? | |
Wenn der Arabische Frühling eines gelehrt hat, sagen viele Experten heute, | |
dann ist es, dass revolutionäre Entwicklungen nicht vorhersehbar sind. Der | |
berühmte Blick in die Glaskugel bleibt ein Wunschtraum politischer | |
Beobachter. Niemand hatte die Umwälzungen damals kommen sehen. Entsprechend | |
vorsichtig sind Politologen heute mit Vorhersagen für Algerien. „Das ist | |
ein revolutionäres Moment“, sagt Serres, „alles kann passieren.“ | |
Die wirkliche Opposition in Algerien, also jene Kräfte, die nicht Teil des | |
Regimes sind oder von ihm abhängen, ist zutiefst gespalten. Linksliberale | |
und nationalistische Kräfte sind kaum konsensfähig und selbst im | |
moderat-islamistischen Lager finden die verschiedenen politischen Parteien | |
keinen gemeinsamen Nenner. „In den vergangenen Jahrzehnten wurde alles | |
unternommen, um die politische Arena in Stücke zu schlagen und | |
Oppositionelle zu diskreditieren“, sagt Serres. „Alte Oppositionsparteien | |
haben alle Mühe, auf nationaler Ebene überhaupt noch relevant zu sein.“ | |
## Algerischer Frühling | |
Wichtiger könnten „die Dienste“ sein, der einflussreiche, wenn auch in den | |
vergangenen Jahren vom Bouteflika-Clan machtpolitisch zurechtgestutzte | |
Geheimdienstapparat. Ein Name, der immer wieder fällt, ist Mohamed Mediène, | |
genannt „Toufik“. Seit Bouteflikas Amtsantritt 1999 gilt der ehemalige | |
Geheimdienstchef als mächtiger Gegenspieler Bouteflikas innerhalb des | |
Regimes. Fotos gibt es kaum von dem Mann – ein Symbol für das | |
intransparente Machtgefüge in Algerien, gleichzeitig aber auch keine gute | |
Voraussetzung für eine aktive politische Rolle. Dass Toufik und seine Leute | |
Bouteflika loswerden wollen, gilt als sicher. Was ihre Pläne für die | |
Zukunft des Landes sind, ist dagegen völlig ungewiss. | |
Politologe Serres schließt auch ein Einschreiten des Militärs wie 2013 in | |
Ägypten nicht völlig aus. Einige Demonstranten in den Straßen Algiers | |
hätten bereits nach der Armee gerufen, die in Algerien einen guten Ruf | |
habe. „Es ist eine Option“, sagt Serres, „aber gleichzeitig die | |
gefährlichste.“ Nach den Erfahrungen des Bürgerkriegs wüssten die | |
AlgerierInnen nur allzu gut um den Preis einer Militarisierung der Politik. | |
Und selbst wenn es zu einem Putsch oder einer von Teilen der Bevölkerung | |
unterstützten Machtübernahme des Militärs kommen sollte: Armeechef Ahmed | |
Gaid Salah sei ein alter Verbündeter des Präsidenten. „Möglicherweise kann | |
er sich von Bouteflika distanzieren, aber er ist ganz sicher keine | |
glaubwürdige politische Alternative.“ | |
Eine solche aber fordern die Menschen auf den Straßen Algeriens. Gemeinsame | |
Forderungen hat die Protestbewegung zwar noch nicht vorgelegt. Doch einige | |
Oppositionsparteien wie auch führende Mitglieder des äußerst aktiven | |
Jugendverbands RAJ fordern eine Übergangsphase. | |
Statt eines neuen Präsidenten im alten Gewand müsse erst einmal eine | |
verfassungsgebende Versammlung gewählt werden. Eine Interimsregierung | |
müsste dann die Regierungsgeschäfte übernehmen, während eine neue, | |
demokratisch legitimierte Verfassung erarbeitet wird. Später dann, | |
irgendwann, würden die Algerierinnen und Algerier einen Nachfolger | |
Bouteflikas wählen. Das wäre ein wirklicher politischer Neustart, ein | |
algerischer Frühling. | |
Dafür haben am Freitag, dem 8. März, wie schon an den Freitagen zuvor, | |
Tausende in Algerien demonstriert. Bis zum Redaktionsschluss verlief der | |
Protest friedlich. Auf Twitter wird von der größten Demo aller Zeiten in | |
Algier gesprochen, das Foto eines Demonstranten mit Transparent macht dort | |
die Runde. „Ein unabhängiges Volk, das nicht länger einen abhängigen | |
Präsidenten will“, steht darauf. | |
9 Mar 2019 | |
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## AUTOREN | |
Jannis Hagmann | |
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