# taz.de -- Debatte Algeriens Präsident Bouteflika: Kranker Mann Nordafrikas | |
> Präsident Bouteflika hat den richtigen Zeitpunkt verpasst, um in Würde | |
> abzutreten. Die Proteste gegen seine Kandidatur sind nicht mehr | |
> aufzuhalten. | |
Bild: Wirklich gar kein Vertrauen mehr haben die Algerier in ihren kranken Prä… | |
Das sture Festhalten an einer fünften Kandidatur des schwerkranken | |
Präsidenten Abdelaziz Bouteflika [1][für das Amt an der Staatsspitze | |
Algeriens] verwundert. Denn das Regime hatte es bisher immer verstanden, | |
sich den Gegebenheiten anzupassen. Ob per Staatsstreich von Houari | |
Boumedienne gegen den ersten Präsidenten der Unabhängigkeit, Ahmed Ben | |
Bella 1965, dem Militärputsch nach dem Wahlsieg der Islamischen Heilsfront | |
(FIS) 1992 oder dem Bürgerkrieg gegen islamistische Untergrundgruppen – | |
„die Macht“, wie die Algerier das Konglomerat aus Interessen und Clans | |
nennt, das im Hintergrund die Fäden in der Hand hält, hat es bisher selbst | |
in schwierigsten Situationen immer verstanden, für Kontinuität zu sorgen. | |
Doch jetzt haben die Mächtigen im Lande ganz offensichtlich den Zeitpunkt | |
verpasst, die Nach-Bouteflika-Ära und damit das eigene Überleben | |
vorzubereiten. Deshalb schieben sie den alten Mann im Rollstuhl erneut zur | |
Kandidatur für eine weitere Amtszeit. Womit sie nicht gerechnet hatten: | |
Dieses Mal ist es das entscheidende Mal zu viel. Das Bild des schwerkranken | |
Bouteflikas ist für die Algerier ein unerträgliches Symbol geworden. Es | |
steht für die Schwäche des überholten, aus der Unabhängigkeitsbewegung | |
geerbten Regimes, das sie als korrupt empfinden. Sie wollen es endlich | |
loswerden. Seit Wochen [2][reißen die Proteste gegen eine mögliche fünfte | |
Amtszeit nicht ab]. | |
Dabei hätte Bouteflika als wichtiger Staatsmann in die Geschichte Algeriens | |
eingehen können. Er hätte sich nur beizeiten zurückziehen müssen, | |
beispielsweise kurz nach seinem Schlaganfall 2013, von dem er sich nie | |
erholt hat. Der einstige Außenminister unter Präsident Houari Boumedienne, | |
der Algerien in die Unabhängigkeit führte, wurde 1999 erstmals an die | |
Staatsspitze gewählt. | |
Er versprach nach dem „dunklen Jahrzehnt“ des Bürgerkriegs zwischen der | |
Armee und islamistischen Untergrundgruppen, der bis zu 200.000 Menschen das | |
Leben kostete, das Land zu befrieden. Dies gelang ihm weitgehend mit einer | |
Amnestie und einem Gesetz zur nationalen Aussöhnung, die beide per | |
Volksabstimmung bestätigt wurden. Bouteflika gliederte einen Großteil der | |
Untergrundkämpfer wieder in die Gesellschaft ein. Und er integrierte einen | |
Teil des politischen Islamismus in seine Regierungen. | |
## Regieren vom Krankenzimmer aus | |
Doch dann begann die Zeit, die Bouteflika zum Symbol des verknöcherten | |
Regimes machte. Er ließ die Verfassung ändern, um nach zwei Amtszeiten | |
erneut kandidieren zu können. Selbst nach dem Schlaganfall trat er 2014 ein | |
weiteres Mal an. Er wurde gewählt, trotz seiner Abwesenheit im Wahlkampf. | |
Fortan verbrachte Bouteflika mehr Zeit im Krankenzimmer seiner | |
Sommerresidenz an der Küste als im Präsidentenpalast in Algiers. | |
Staatsbesuche empfängt er nur noch selten. Und wenn er reist, dann zu | |
medizinischer Behandlung nach Frankreich oder in die Schweiz. Bei den | |
seltenen Auftritten im staatlichen TV bekommt das Volk einen regungslosen | |
Mann im Rollstuhl zu sehen, der nicht mehr richtig sprechen kann. | |
Wer wirklich regiert? Das ist Stoff für ausführliche Spekulationen. Die | |
Presse schreibt diese Rolle dem jüngeren Bruder Said Bouteflika zu. Er ist | |
Präsidentenberater und damit einer der wenigen, der persönlichen Kontakt | |
mit dem schwerkranken Staatschef hat. In Bouteflikas bisher letzter | |
Amtszeit begann sein Umfeld mit Umstrukturierungen im Machtgefüge. Generäle | |
wurden in den Ruhestand geschickt, der übermächtige militärische | |
Geheimdienst durch einen zivilen ersetzt. All das diente der Stabilisierung | |
der Machtstrukturen, die den Präsidenten und dessen Bruder umgeben. Eine | |
Demokratisierung, wie sie Bouteflika 2011 angesichts des Arabischen | |
Frühlings versprach, blieb aus. | |
Anders als in den Nachbarländern Tunesien oder Marokko war es in Algerien | |
in jenen Monaten zu keinen Großdemonstrationen gekommen. „Revolution? Nein | |
Danke!“ bekam man von jungen Algeriern oft zu hören. Nur zu gut war ihnen | |
in Erinnerung, was passierte, als Ende der 1980er Jahre das | |
Einparteiensystem stürzte. Der Sieg der Islamisten bei den Wahlen 1991/92, | |
der darauf folgende Staatsstreich der Armee und „das dunkle Jahrzehnt“ | |
haben Algerien geprägt. Die Angst vor einem neuen Konflikt war deshalb | |
trotz demokratischem Aufbruch beim kleinen Nachbarn Tunesien größer als der | |
Wunsch nach Veränderung. | |
Bis jetzt eine erneute Kandidatur „der Mumie“, wie viele Bouteflika nennen, | |
das Fass zum überlaufen brachte. Noch nie seit der Unabhängigkeitsfeier | |
1962 – nach acht Jahren Krieg gegen Frankreich – waren so viele Menschen | |
auf der Straße, wie in den vergangenen Wochenenden gegen eine fünfte | |
Amtszeit Bouteflikas. Ob alt, ob jung, ob aus den tristen Vorstädten, oder | |
den kolonialen Innenstädten, es ist eine breite Bewegung, die endlich eine | |
Veränderung will in einem Land, in dem trotz Öl- und Gasreichtum viele | |
keine Zukunft sehen. | |
## Das Volk will keine Zeit mehr gewähren | |
Trotz der Androhung von Gewalt seitens der Regierung und Armee wächst die | |
Bewegung unaufhörlich. Teile der einstigen Einheitspartei FLN befinden sich | |
seit längerer Zeit in der Opposition zu Bouteflika und dessen Umfeld. Aus | |
dem Unternehmerverband und der Gewerkschaft schließen sich einflussreiche | |
Mitglieder den Protesten an. Und auch der mächtige Verband der Veteranen | |
des Unabhängigkeitskrieges begrüßt das „zivilisierte Verhalten“ der | |
weitgehend gewaltfreien Demonstranten und wirft der Regierung gar vor, | |
„nicht auf der Höhe der legitimen Bestrebungen unseres Volkes“ zu sein. | |
In einem Brief, den Bouteflika angeblich nach den ersten Protesten im | |
Hospital in Genf verfasst hat, bietet er einen geordneten Übergang an. Er | |
werde in seiner fünften Amtszeit eine neue Verfassung ausarbeiten lassen | |
und dann vorgezogene Präsidentschaftswahlen ausrufen. | |
„Die Macht“ bittet um Zeit, doch das Volk ist nicht gewillt, ihr diese zu | |
gewähren. | |
11 Mar 2019 | |
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## AUTOREN | |
Reiner Wandler | |
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