# taz.de -- Proteste in Algerien: Freispruch für Aktivisten | |
> Ein Demonstrant, dem Haft für das Schwenken der Berberfahne drohte, ist | |
> wieder frei. Doch das Regime geht weiter gegen die Bewegung vor. | |
Bild: Die Protestbewegung konnte im Juli wieder stärker mobilisieren | |
TUNIS taz | Mit Hochspannung war dieses Urteil erwartet worden. Nun ist | |
Nadir Fetissi wieder frei. Ein Gericht in Annaba im Osten Algeriens wies am | |
Donnerstag die Anklage der Staatsanwaltschaft gegen den 41-jährigen | |
Aktivisten ab. Fetissi war während der Proteste gegen Algeriens | |
Staatsführung Anfang Juli verhaftet und in Untersuchungshaft gesteckt | |
worden. Der sich übereifrig gebärdende Staatsanwalt unterbrach die | |
Plädoyers der Verteidigung mehrfach äußerst aggressiv und forderte nicht | |
nur eine Geldstrafe von umgerechnet rund 1.500 Euro, sondern auch zehn | |
Jahre Haft für Fetissi. | |
Einziger Anklagepunkt in dem aufsehenerregenden Prozess: Verletzung der | |
Integrität der nationalen Einheit. Fetissis „Vergehen“: Er hatte während | |
der Demonstration die Berberfahne, ein vor allem kulturelles, aber auch | |
politisches Symbol der Berberminderheit im Land, geschwenkt und damit die | |
Aufmerksamkeit der Sicherheitskräfte auf sich gezogen. | |
Bereits seit Monaten gehen Polizei, Staatsanwaltschaft und Justiz verstärkt | |
gegen Menschen vor, die während der weiterhin allwöchentlich stattfindenden | |
[1][Demonstrationen gegen Algeriens Staatsführung] die Berberfahne mit sich | |
tragen. „Obwohl es in Annaba wiederholt Festnahmen wegen der Berberfahne | |
gab, wurden bislang alle Betroffenen nach wenigen Stunden wieder | |
freigelassen, nur ihre Flaggen wurden konfisziert“, erklärt der | |
Menschenrechtsaktivist und einer von Fetissis Anwälten, Kouceila Zerguine, | |
gegenüber der taz. | |
In anderen Landesteilen liefen die Prozesse gegen Menschen, die im Rahmen | |
von Demonstrationen die Berberfahne geschwenkt hatten, jedoch weniger | |
glimpflich ab. Ende Juli verurteilte ein Gericht in der Küstenstadt Chlef | |
zwei junge Männer zu einer Bewährungsstrafe von zwei Monaten. In der | |
Provinz Batna im Osten des Landes müssen sich derzeit 18 weitere Angeklagte | |
wegen des Tragens der Berberfahne verantworten. | |
Das Land steckt in einer Sackgasse | |
Für Anwalt Zerguine ist dieses Vorgehen der Behörden politisch motiviert. | |
„Es handelt sich um einen Versuch, die Protestbewegung zu spalten“, sagt | |
er. Das Regime macht sich nämlich schon seit Längerem die Heterogenität der | |
Protestbewegung, die aus linksliberalen, konservativen und | |
nationalistischen Kreisen speist, zunutze. „Die Berberfahne“, sagt | |
Zerguine, „ist ein Symbol einer nationalen Kultur, die von der algerischen | |
Verfassung explizit anerkannt wird. Wie kann es also sein, dass sie die | |
nationale Einheit gefährdet?“ | |
Seit Beginn der Massenproteste gegen Algeriens Staatsführung im Februar war | |
die Fahne in der mehrheitlich von Berbern bewohnten Provinz Kabylei östlich | |
der Hauptstadt Algier, aber auch in anderen Landesteilen omnipräsent, wird | |
sie von vielen doch nicht nur als Symbol des Kampfes der Berberminderheit | |
für kulturelle Freiheiten angesehen, sondern auch als Ausdruck politischer | |
Kämpfe. | |
Erst im Juni hatte Algeriens De-facto-Machthaber, Armeechef Ahmed Gaid | |
Salah, erklärt, dass fortan nur noch die algerische Nationalfahne auf den | |
Protesten toleriert würde. Seither gehen die Behörden teils äußerst ruppig | |
gegen Menschen vor, die auf Demonstrationen die Berberfahne zeigen. | |
Die Protestbewegung hatte nach monatelanger Massenmobilisierung Algeriens | |
Staatspräsidenten Abdelaziz Bouteflika Anfang April [2][zum Rücktritt | |
gezwungen] und eine beispiellose Verhaftungswelle gegen führende | |
Politiker*innen und andere Profiteure der Bouteflika-Ära ausgelöst. Nachdem | |
die Proteste im Mai und Juni an Zugkraft verloren hatten, konnte die | |
Protestbewegung im Juli erneut stark mobilisieren und zeigen, dass die | |
Unterstützung für einen tiefgreifenden politischen Wandel im Land | |
keineswegs abgeebbt ist. | |
Dennoch steckt das Land in einer Sackgasse. Das Regime um Armeechef Gaid | |
Salah und Interimspräsident Abdelkader Bensalah auf der einen und die | |
Protestbewegung auf der anderen Seite stehen sich unversöhnlich gegenüber. | |
Während Gaid Salah an einer baldigen Präsidentschaftswahl festhält, fordert | |
die Protestbewegung, die sich bislang nicht auf Verhandlungsführer*innen | |
einigen konnte, mit der Wahl zu warten. Sie will zunächst den Rücktritt von | |
Gaid Salah und Bensalah erzwingen. | |
8 Aug 2019 | |
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## AUTOREN | |
Sofian Philip Naceur | |
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