| # taz.de -- Kolumne Schlagloch: Der zitternde Moment | |
| > Algerien, Sudan und Iran: in all diesen Ländern gibt es Umbrüche, | |
| > vielleicht Revolutionen. Wir können das nur mit stillem Respekt | |
| > beobachten. | |
| Bild: Ob in Algerien oder wie hier im Sudan: Frauen protestieren in der ersten … | |
| Inmitten der fühlbaren politischen Müdigkeit Europas tut es gut, [1][den | |
| Blick nach Algier und Khartum zu richten], wo Hunderttausende auf großer | |
| Bühne bürgerliche Selbstermächtigung inszenieren. Die Schönheit des | |
| Augenblicks, es gilt sie festzuhalten, auch als Lehre für uns, was immer | |
| später geschehen mag. | |
| Handelt es sich um Revolutionen? Aus Sicht der Politikwissenschaft, die | |
| dafür einen nachhaltigen Wechsel der Eliten verlangt, ist die Lage in | |
| beiden Ländern offen. Aus philosophischer Sicht aber ist die Revolution | |
| nicht durch ihr späteres Ergebnis definiert, sondern sie ist genau jener | |
| zitternde Moment, dem wir gerade von ferne beiwohnen können: wenn sich | |
| Menschen in großer Zahl als Ausgangspunkt von etwas Neuem verstehen. | |
| Wenn sie sich selbst als an einer Schwelle stehend empfinden (so nannte es | |
| Foucault als Augenzeuge der iranischen Revolution 1978/79), einem | |
| Wellenkamm, von wo aus sie mit geschlossenen Augen sehen können, was eben | |
| noch unvorstellbar war. Und wenn dann tatsächlich das Unmögliche geschieht: | |
| An einem Wochenende werden in Algerien fünf Tycoons verhaftet, am nächsten | |
| die mächtigsten Chefs der Geheimdienste. | |
| In solchen zitternden, vergänglichen Momenten trauen die Menschen einander | |
| als soziale Wesen, selbst unter widrigsten Umständen, und zeigen sich quasi | |
| in neuer Haut. [2][In der sudanesischen Hauptstadt] werden am Rande des | |
| Dauer-Sit-ins trotz drückendster Not und trotz jener hohen Preise, die den | |
| Aufstand auslösten, keine Geschäfte geplündert. Und gegenüber dem Militär | |
| herrscht eine Abwesenheit von Furcht, wie sie historischen Augenblicken | |
| eigen ist. | |
| ## Frauen in der ersten Reihe | |
| Über die Disziplin und Friedfertigkeit, mit der in Algier gerade zum elften | |
| Mal in Folge Hunderttausende auf die Straße gingen, notiert die | |
| Algerienkennerin Sabine Kebir, es präsentiere sich hier „eine zu | |
| machtvoller Selbstorganisation fähige Bürgergesellschaft“, wie sie einem | |
| Land, das in den Neunzigerjahren vom Bürgerkrieg zerrissen wurde, nicht | |
| zugetraut worden sei. | |
| Frauen nehmen sich hier wie dort Plätze in der ersten Reihe. Sudanesinnen, | |
| die sich eben noch für das Tragen einer Hose bestrafen lassen mussten, | |
| fordern nun die Hälfte der Ämter einer künftigen Regierung. | |
| Es ist an dieser Stelle ratsam, den Blick über die arabisch-afrikanischen | |
| Geschehnisse hinaus auf Iran zu weiten. Auch dort zeigt sich, unter ganz | |
| anderen Umständen, vermehrt das Phänomen der furchtlosen Rede und des | |
| bürgerlichen Aufbegehrens. Und während der jüngsten Flutkatastrophe war | |
| eine landesweit organisierte Lehrervereinigung für die Verteilung von | |
| Hilfsgütern glaubwürdiger als der Staat. | |
| Vor allem aber verbinden Iran, Sudan und Algerien, dass die Geschichte in | |
| allen drei Länder ein Epos der Auflehnung gegen westliche, weiße | |
| Vorherrschaft schrieb. Der Mahdi-Aufstand im Sudan des späten 19. | |
| Jahrhundert war eine religiös inspirierte Rebellion gegen die | |
| ägyptisch-britische Herrschaft und die erste zumindest kurzzeitig | |
| erfolgreiche antikoloniale Erhebung in Afrika. Algerien wurde durch den | |
| Befreiungskrieg gegen Frankreich zum Mythos. Und Iran zwang den Westen, den | |
| Islam als politische Kraft zu sehen. | |
| ## Respekt für die Protagonisten des Neuen | |
| Heute sticht gerade in diesen drei Ländern ins Auge, dass es keinerlei | |
| Befreiungsideologie oder -theologie mehr gibt. Der Nationalismus, für den | |
| Algerien einst stand, hat seinen Glanz längst verloren; der politische | |
| Islam führte im Sudan und in Iran zu autoritären Zuständen und | |
| dysfunktionalen Systemen. Keine Theorie, kein Modell steht mehr bereit, an | |
| dem sich jenseits der westlichen Metropolen Bewegungen im Kampf für | |
| Freiheit und Selbstbestimmung orientieren könnten. | |
| In Iran stärkt der Mangel an einer System-Alternative seit Langem die | |
| Islamische Republik. Die Opposition in Algerien und Sudan hat nun obendrein | |
| die ägyptische und die syrische Erfahrung vor Augen. Den Betrug durch das | |
| Militär, das in Kairo die Opposition umarmte, um sie hernach zu | |
| zerstampfen. Das tragische Umkippen in Gewalt, das den syrischen zivilen | |
| Aufständischen das Heft aus der Hand nahm. Und Antikolonialismus, das | |
| zeigen die Parolen, muss heute in mehr als einer Richtung wachsam sein und | |
| sich auch gegen den reaktionären Einfluss der Golfmonarchien wenden. | |
| Wir können nur mit stillem Respekt beobachten, wie sich die Protagonisten | |
| des Neuen in diesen zerklüfteten Landschaften bewegen. In Algier kursiert | |
| etwa die Idee, kommunale Volkskomitees könnten eine Verfassungsdiskussion | |
| führen und ihre gewählten Kandidaten dann auf die nächsthöhere Ebene | |
| entsenden. Im Sudan sind berufsständische Vereinigungen die wichtigsten | |
| Akteure, halb Gewerkschaft, halb Gilde: Ärzte, Anwälte, Lehrer, Apotheker, | |
| Buchhalter. Immerhin ein Bündnis der gebildeten Mittelschicht mit den | |
| Ärmeren, wie es in Iran kaum gelingt (und auch in Europa nicht). | |
| ## Islam keine Lösung | |
| Zollen wir also zum Beginn des Ramadan dieser zivilen und gefährdeten | |
| Bürgerschaftlichkeit Hochachtung. Denn natürlich sind Khartum und Algier in | |
| diesen Wochen auch ein Ausweis muslimischer Kultur und Lebensart. | |
| Muslimisch ist eine Bewegung ja nicht erst dann, wenn ein politischer Islam | |
| die Szene beherrscht. | |
| Das Freitagsgebet wird in die Protestrituale integriert, markiert ihren | |
| Rhythmus, doch gibt Religiöses nicht den Diskurs vor – anders als in Iran | |
| 1979, als viele Säkulare beteiligt waren, ohne eine politische Sprache der | |
| Säkularität zu besitzen. Heute scheint es umgekehrt: Religion und Religiöse | |
| sind beteiligt, aber der Islam tritt nicht als Lösung auf. | |
| Linke in Europa mögen, sofern sie alt genug sind, einen Bezug zu Algerien | |
| haben, da klingen Namen wie Sartre und Fanon auf – aber Sudan? Im Mangel an | |
| Interesse spiegelt sich das Fremdeln mit einem muslimischen Afrika, und | |
| Letzteres ist selbst unter hiesigen Muslimen zu beobachten. Schwarze als | |
| Vorbilder? Auch der europäische Islam ist eher eurozentrisch; das wäre | |
| gleichfalls ein Gedanke für den Ramadan. | |
| 8 May 2019 | |
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| ## AUTOREN | |
| Charlotte Wiedemann | |
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