# taz.de -- Kampf gegen Verdrängung in Lagos: Die afrikanische Gentrifizierung | |
> In der nigerianischen Metropole Lagos werden gerne die Mieten erhöht. Vor | |
> allem aber wird einfach abgerissen. Bimbo Osobe will da nicht länger | |
> zusehen. | |
Bild: Bimbo Osobe kämpft gegen Vertreibung aus den Elendsvierteln | |
LAGOS taz | Wer in Nigerias Megacity Lagos unterwegs ist, braucht Zeit und | |
Geduld. Der Verkehr ist unberechenbar, und Pendler stehen täglich viele | |
Stunden im Stau, wenn sie nicht gerade morgens zwischen vier und fünf Uhr | |
aufbrechen und abends lange warten, bevor sie von der Arbeit nach Hause | |
fahren. Kommt es auch noch zu einem Unfall oder einer Straßensperrung, | |
braucht man für zwei Kilometer mitunter zwei Stunden. Der Lärm der | |
Autohupen, die Abgase, fluchende Autofahrer und das Wissen, dass sich diese | |
Szenen täglich wiederholen, tragen viel zum Stress bei. | |
An diesem Sonntagmorgen ist es jedoch nicht so chaotisch wie üblich. Noch | |
hat sich kein Stau auf der Straße zum Hafen von Apapa gebildet. Sie ist | |
eines der Nadelöhre, durch das sich täglich Tausende Lastwagen zwängen | |
müssen. Sonntags sind stattdessen Jogger auf dem Mittelstreifen unterwegs; | |
ein ungewohntes Bild. | |
Bimbo Osobe kommt dennoch zu spät. Gegen neun Uhr erreicht die Frau mit den | |
langen Haaren den Treffpunkt in Badia East. Er liegt unterhalb der | |
Autobahn. Der sandige Boden ist mit Plastiktüten und bunten | |
Styroporschälchen für Fertigessen übersät. Längst nicht mehr genutzte | |
Schienen führen nach Nirgendwo. | |
Vor den Lastwagen, die die Container in den Hafen bringen, haben Frauen | |
Verkaufsstände aufgebaut. Es gibt Tee, das Maisgericht Pap, Puff-Puff | |
genannte runde Teigbällchen und in durchsichtige Plastiktüten abgefülltes | |
Trinkwasser. Das, was aus dem Wasserhahn kommt, ist ungenießbar; doch hier | |
hat ohnehin niemand einen Anschluss. | |
## Den Bewohnern blieben nur Sonnenschirme | |
Bimbo Osobe atmet einmal kurz durch und sagt knapp „traffic“. Das Wort | |
„Verkehr“ entschuldigt in der Stadt jede Verspätung. Sie trägt Jeans und | |
ein T-Shirt, auf dem „Don’t get elected to get us evicted“ – „Ihr wer… | |
nicht gewählt, um uns zu vertreiben“ – steht. Dann geht es los, immer den | |
Schienen entlang, weg von der Straße. | |
Je weiter sie vorankommt, desto mehr große, ausgeblichene Sonnenschirme | |
tauchen auf. Unter zwei dieser Schirme, die die Sonne und den Regen | |
abhalten sollen, sortiert eine Frau Plastikflaschen. Neben ihr stehen drei | |
graue Plastikstühle, eine Holzbank, eine stabile Plastiktüte liegt auf dem | |
Boden. Mehr ist ihr nicht geblieben. „So sieht es seit der letzten | |
Zwangsräumung aus“, sagt Bimbo Osobe. Die ist gerade einmal drei Monate | |
her. Die Hütten wurden abgerissen, das Leben findet nun unter Schirmen | |
statt. Wirklichen Schutz bieten sie keinen, stattdessen markieren sie, wer | |
wo seine letzten Habseligkeiten verbirgt. | |
Die Vertreibung ist das vorläufige Ende einer ganzen Serie, die schon vor | |
sechs Jahren begann. Damals wurden mindestens 266 Hütten, Häuser und | |
Geschäfte von Bulldozern niedergewalzt. Auch Bimbo Osobe verlor ihr Heim. | |
Protesten zum Trotz wurden die Räumungen 2015 und 2017 fortgesetzt – die | |
nigerianische Art der Gentrifizierung. Wer nicht zu Verwandten geflüchtet | |
ist oder anderswo eine Bleibe gefunden hat, haust heute neben einem Schirm | |
unter Planen oder in uralten Campingzelten. 15.000 von ursprünglich 30.000 | |
Einwohnern hat das Viertel noch. Es existieren weder Toiletten noch Duschen | |
oder Strom. Dabei ist Badia East selbst Ergebnis einer früheren | |
Vertreibung, vor 45 Jahren, als neuer Wohnraum für den Neubau des | |
Nationaltheaters entstand. Jetzt ist die Fläche zum urbanen Filetstück | |
geworden. „Von hier aus lassen sich zahlreiche Viertel gut erreichen, auch | |
der Hafen“, sagt Bimbo Osobe. | |
## Der Dokumentar von Elend und Vertreibung | |
In Lagos gilt Land als kostbares Gut und Spekulationsobjekt. Vor zwei | |
Jahren schätzte die Regierung, dass an jedem einzelnen Tag im Jahr 6.000 | |
Menschen in die Megacity ziehen. Die steigende Einwohnerzahl – aktuell sind | |
es rund 22 Millionen Bewohner – spricht für sich. Schätzungen zufolge sind | |
zwei Drittel von ihnen arm. | |
Es sind Frauen, die frühmorgens selbst gekochtes Essen verkaufen, | |
selbsternannte Parkplatzeinweiser, Schuhputzer, Minibusfahrer, Putzfrauen, | |
Menschen, die jeden Tag auf einen kleinen Hilfsarbeiterjob hoffen, um über | |
die Runden zu kommen, die am Straßenrand sitzen. „Urban Poor“, die | |
städtischen Armen, nennt Deji Akinpelu sie. Er begleitet Bimbo Osobe durch | |
Badia East und trägt unter seinem Arm einen schwarzen Motorradhelm, auf dem | |
eine unscheinbare Kamera installiert ist. | |
Akinpelu ist Fotograf und dokumentierte vor ein paar Jahren zum ersten Mal | |
eine Zwangsräumung in Otodo-Gbame. Diese Gegend liegt im neuen Stadtteil | |
Lekki, der direkt an der Küstenlinie entstanden ist und in den vergangenen | |
Jahren nach und nach ausgebaut wurde. Im Jahr 2017 sind dort etwa 30.000 | |
Menschen vertrieben worden, weitere 30.000 könnten schon bald folgen. | |
Lekki gilt heute bei jungen Hochschulabsolventen als angesagtes Viertel. Es | |
grenzt an Lagos Island sowie Victoria Island. Irgendwann einmal vom | |
Festland – Lagos Mainland – auf die Inseln zu ziehen, das ist der Traum | |
zahlreicher Lagosianer. Von Lekki aus sind die Inseln gut erreichbar und | |
die Mieten noch finanzierbar, zumindest für diejenigen, die über einen Job | |
mit regelmäßigem Einkommen verfügen. Supermarkt- und Fastfoodketten haben | |
sich niedergelassen, kleine Hotels sind ebenso wie Kirchen entstanden. Von | |
den Hauptstraßen abgesehen sind die Staus noch nicht so nervenaufreibend | |
wie in den anderen Stadtvierteln. Noch wirkt alles im Vergleich zum „alten | |
Lagos“ systematisch und geordnet – aber auch gesichtslos. | |
Seinen ersten Besuch in Otodo-Gbame erinnert Deji Akinpelu als „alarmierend | |
und faszinierend“ zugleich. Die Idee eines Dokumentarfilms über den | |
Versuch, bezahlbaren Wohnraum zu finden, entstand. Daraus entwickelte sich | |
die Miniserie „Kelechi’s Quest“, die auf YouTube zu finden ist. Das bloße | |
Festhalten von Szenen und Momenten reicht Otodo-Gbame heute nicht mehr aus. | |
Deshalb gründete er im Herbst 2018 die Initiative „Rethinking Cities“. Vor | |
der Gouverneurswahl am 9. März ist es sein erklärtes Ziel, die Kandidaten | |
und deren Stellvertreter mit den städtischen Armen zu konfrontieren. | |
## Wenn Politik auf nigerianische Wirklichkeit trifft | |
Bimbo Osobe bleibt vor einem jungen Mann stehen, der unter einem | |
ausgeblichenen Sonnenschirm seine Nähmaschine aufgestellt hat. Sie rattert, | |
als er einen zerrissener Rucksack flickt. Hinter ihm stehen ein paar | |
zusammengezimmerte Kisten, auf denen fleckiger Schaumstoff liegt. „Eine | |
Vierzimmerwohnung“ nennt Osobe es zynisch und hebt den Schaumstoff etwas | |
an. | |
Nachts quetschen sich hier vier Menschen auf die Matratzen. Auf der | |
Holzbank sitzt die zehnjährige Esther und schaut dem Schneider zu. Auf die | |
Frage, ob sie zur Schule geht, schüttelt das hagere Mädchen den Kopf. | |
Seitdem Badia East geräumt wurde, ist die nächste zu weit weg, erzählt sie. | |
All das möchte Bimbo Osobe gerne den Politikern erzählen, die sich um das | |
Gouverneursamt bewerben. 45 Kandidaten gibt es. Wie zum Beweis, dass sie | |
auch wählen gehen wird, kramt sie ihre Wählerkarte aus dem Portemonnaie. | |
Sie und die übrigen Bewohner von Lagos, die im informellen Sektor arbeiten, | |
die jeden Tag Stunden brauchen, um zur Arbeit und wieder nach Hause zu | |
kommen, die keine Ersparnisse haben und für die jede Krankheit zur | |
existenziellen Bedrohung wird, sind rein rechnerisch die Wählermassen; ihre | |
Belange und Forderungen könnten zählen. | |
Auf die Floskeln der Politik hat Deji Akinpelu in diesem Wahlkampf keine | |
Lust mehr. „Wir bieten jedem jungen Politiker deshalb an, dass wir ihm | |
Lagos zeigen. Wir zeigen ihnen, wo die Probleme liegen, wir statten sie mit | |
Wissen aus, bringen sie mit Organisationen zusammen. Wir müssen endlich | |
einen Dialog schaffen.“ Deji Akinpelu bringt die Kandidaten hinaus aus der | |
Komfortzone der klimatisierten Räume und hinein nach Badia East. | |
Über den Besuch von Babatunde Gbadamosi von der Action Democracy Party gibt | |
es ein langes Video bei Facebook. Gbadamosi hat das rote „Don’t get elected | |
to get us evicted“-T-Shirt übergestreift und stapft mit Bimbo Osobe durch | |
den Schlamm. Es regnet in Strömen. Nach knapp zwanzig Minuten verspricht | |
er, dass es unter seiner Regierung „bezahlbaren Wohnraum“ geben werde, und | |
erklärt, wie schnell auf der Fläche der Grund für neuen Wohnraum geschaffen | |
werden könnte. | |
Auf seinem Wahlkampfvideo sind auch Szenen aus Badia East zu sehen. „Sehr | |
emotional“ sei das für die Einwohner gewesen, sagt der Fotograf und | |
Initiator Deji Akinpelu. Während einer Fernsehdebatte spricht auch Babajide | |
Sanwo-Olu, ein Kandidat des All Progressives Congress, über eine | |
Landreform. Generell müssten die Lebensbedingungen verbessert werden. Dazu | |
gehöre der Ausbau von Wohnungen und Straßen, Müllentsorgung sowie die | |
Schaffung eines Abwassersystems. | |
Diskutiert wird das unter dem Begriff Slum Upgrading – die Aufwertung des | |
Elendsviertels. „Unsluming wäre besser“, sagt Simon Gusah. Er ist einer der | |
Leiter des Projekts „100 widerständige Städte“ der Rockefeller Foundation. | |
Zum 100-jährigen Bestehen der Stiftung im Jahr 2013 hat sie 100 Städte | |
weltweit ausgewählt, um diese bei den aktuellen Herausforderungen zu | |
unterstützen und widerstandsfähiger zu machen. In Lagos wird an einem Plan | |
für die Landesregierung gearbeitet. | |
## „Um Slums loszuwerden, muss man Armut loswerden“ | |
Unter Gouverneur Babatunde Fashola entstand bereits 2013 ein | |
Entwicklungsplan für Lagos. Darin heißt es im Kapitel „Slum Upgrading“, | |
dass es zwischen zwei und drei Millionen informelle Wohneinheiten gebe. Die | |
Konzentration auf Wohnungen geht Gusah jedoch nicht weit genug: „Wird über | |
Slum Upgrading gesprochen, handelt es sich um Infrastruktur, aber nur | |
selten um Menschen. Um einen Slum loszuwerden, muss man die Armut | |
loswerden.“ | |
Entscheidend sei dafür die Entwicklung und der Umgang mit dem informellen | |
Sektor, in dem mehr als die Hälfte der Erwachsenen ihr Einkommen verdient. | |
Natürlich arbeiten sie auch in den Slums. Werden also ganze Nachbarschaften | |
niedergewalzt, geht nicht nur Wohnraum, sondern auch Einnahmequellen gehen | |
verloren. Staatliche Aufmerksamkeit gibt es dafür aber so gut wie nie. „Im | |
Entwicklungsplan für Lagos stehen dazu nicht einmal drei Seiten“, sagt | |
Gusah, „dabei muss diskutiert werden, wie man den formellen und informellen | |
Sektor zusammenbringt, wie politische Linien und Realität.“ | |
Dass Wohnraum immer knapper wird, liegt auch an der geografischen Lage am | |
Golf von Guinea. Lagos kann sich nicht nach Süden ausdehnen. Daran ändert | |
auch ein umstrittenes Projekt namens Eko Atlantic wenig, das dem Meer Land | |
abgewinnen will. Seit 2008 wächst eine Halbinsel, die Wohnraum für bis zu | |
300.000 Menschen und ein neues Geschäftsviertel bieten soll. Platz haben | |
hier aber nur die Wohlhabenden. Die Preise für Apartments liegen im | |
astronomischen Bereich. | |
## Neues Land aus dem Meer gewonnen | |
Damit sich das Meer das neu gewonnene Land nicht zurückholt, wurde eine 8,5 | |
Kilometer lange Schutzmauer aus Beton gebaut. Meereswissenschaftler wie | |
Umweltschützer sind jedoch skeptisch, ob diese langfristig funktioniert. | |
Wie gewaltig das Meer sein kann, zeigt sich seit Jahren an den Stränden von | |
Lagos. Küstenerosion sorgt dafür, dass Landflächen immer mehr schrumpfen. | |
Wer zu dicht am Wasser gebaut hat, dem kann bei einer Flut das ganze Haus | |
weggerissen werden. | |
Fünfundzwanzig Kilometer weiter nordwestlich hat Bimbo Osobe ihren Besuch | |
in Badia East beendet und mit vielen Menschen über die aktuellen | |
Veränderungen gesprochen. Vor allem aber hat sie sich Klagen angehört, die | |
sich seit Jahren gleichen. „Es hat weder eine Umsiedlung gegeben noch eine | |
Entschädigung“, sagt sie. Auch seien die Zwangsräumungen nicht geschehen, | |
um etwas zu schaffen, wovon alle profitieren könnten. | |
Man wolle die Lebensbedingungen der Menschen in dieser Gegend verbessern, | |
sagte 2013 der damalige Kommissar für Wohnungsbau. Doch als Bimbo Osobe am | |
Anfang des Viertels von Badia East stehenbleibt, blickt sie zuerst auf ein | |
von der Sonne ausgebleichtes Plakat, das den Bau eines Großmarkts für | |
Arzneimittel ankündigt, dann auf einen grauen Rohbau. Vor dem Eingangstor | |
sitzt ein Polizist. Das Gebäude, in dem auch Wohnungen entstehen sollten, | |
steht seit Jahren halb fertig herum. Es heißt, dass die Bewohner ein | |
Vorkaufsrecht erhalten sollten. Von Apartments, die 30 Millionen Naira – | |
umgerechnet 72.693 Euro – kosten sollten, ist die Rede. Eingezogen ist | |
niemand, Wohnraum ist bisher nur zerstört worden. | |
7 Mar 2019 | |
## AUTOREN | |
Katrin Gänsler | |
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