# taz.de -- Flüchtlingspolitik von unten: Ein sicherer Hafen in Göttingen | |
> Eine Göttinger Hausprojekt-Initiative will Geflüchtete aus dem Mittelmeer | |
> aufnehmen. Aber die Geflüchteten werden nicht ins Land gelassen. | |
Bild: Zimmer im Hausprojekt OM10: Hier könnten Geflüchtete einziehen | |
GÖTTINGEN taz | Die Region Hannover hat sich im vergangenen Oktober zum | |
„sicheren Hafen“ für Flüchtlinge erklärt. In den Ausschüssen und Gremien | |
der Stadt Hannover wird über einen solchen Antrag zurzeit ebenfalls | |
beraten. | |
In Göttingen stimmte die Ratsmehrheit gegen eine entsprechende Initiative | |
von Linken, Grünen und Piraten. „Der Rat der Stadt Göttingen erklärt sich | |
jetzt und in Zukunft bereit, zusätzlich zur regulären Zuweisung der | |
Landesregierung 50 aus dem Mittelmeer gerettete geflüchtete Menschen | |
aufzunehmen“, hatten diese Parteien beantragt. CDU und SPD lehnten das ab. | |
Sie argumentierten unter anderem mit angeblich fehlendem Wohnraum und mit | |
den zusätzlich anfallenden Kosten bei der Versorgung. | |
Diese Gründe seien doch nur vorgeschoben, sagen nun die Bewohner des | |
Göttinger Hausprojektes „OM10“. Sie boten am gestrigen Mittwoch an, drei | |
aus Seenot gerettete Flüchtlinge in ihren Räumen aufzunehmen und | |
vollständig für ihren Lebensunterhalt aufzukommen. Die Finanzierung werde | |
über Spenden gewährleistet. „Damit setzt die OM10 ein praktisches Zeichen | |
gegen die von der Stadt Göttingen behauptete Handlungsunfähigkeit bzgl. der | |
Aufnahme von Geflüchteten und die bisherige Weigerung, Göttingen als | |
‚sicheren Hafen‘ zu erklären“, heißt es in einer Mitteilung. | |
Im November 2015 hatten ein paar Dutzend junge Leute das zuvor sechs Jahre | |
leer stehende Gewerkschaftshaus in Göttingen besetzt. Nach langen | |
Verhandlungen kaufte die Initiative „Our House OM10“ 2017 das mehrstöckige | |
Gebäude, seither richten die Aktivisten es überwiegend in Eigenarbeit als | |
Wohnraum und Stadtteilzentrum her. Die Buchstaben O und M stehen für den | |
Straßennamen Obere Masch, die 10 für die Hausnummer der Immobilie. | |
Ihr Angebot erfolge „aus Verzweiflung über das massenhafte, geduldete und | |
herbeigeführte Sterben an den Grenzen Europas und strategische | |
Fehlplanungen der Stadt Göttingen bei der Wohnraumbeschaffung“, erklärt die | |
„OM10“. Sie verstehe ihre Zusage als humanitären Akt, der allerdings ein | |
falsches politisches Signal aussende: Denn wenn Bewohner und Unterstützer | |
die vollständige ökonomische Versorgung geretteter Menschen übernähmen, | |
entlaste dies gleichzeitig Staat und Politik bei der Erfüllung ihres | |
gesetzlichen Auftrags. „Ein Dilemma“, wie die Aktiven selbst einräumen. | |
Um es aufzulösen, verfolgen sie nun eine Art Doppelstrategie. Zum einen | |
appellieren sie an weitere Menschen und Projekte, ebenfalls ernst gemeinte | |
Angebote für die Unterbringung Geretteter zu machen. Dadurch könne | |
praktische Solidarität sichtbar gemacht und wirksam werden. Auf der anderen | |
Seite will die „OM10“ mit ihrer Offerte den politischen Druck auf Politiker | |
und Behörden erhöhen, damit diese die Abschottung und das Massensterben an | |
den Grenzen stoppen. | |
Gemeinsam mit dem Göttinger „Lampedusa-Bündnis“ und der Initiative | |
„Seebrücke“ soll am heutigen Donnerstag mit einer Kundgebung am Bahnhof | |
eine Kampagne dafür gestartet werden, dass sich die Stadt und der Landkreis | |
Göttingen doch noch zu „sicheren Häfen“ erklären. „Wir laden die Einwo… | |
ein, Stadt und Landkreis Göttingen gemeinsam zu einem sicheren Hafen | |
auszubauen“, sagt Birgit Sacher vom „Lampedusa-Bündnis“. Es gebe in der | |
Region zahlreiche Menschen und Initiativen, die gemeinsam mit | |
professionellen Netzwerken Flüchtlinge unterstützten. „Überlebende brauchen | |
materiell und psychisch einen sicheren Hafen – wo, wenn nicht hier?“ | |
## Tödliche Fluchtroute | |
Die tödlichste Fluchtroute der Welt liegt vor Europas Haustür. Im | |
vergangenen Jahr 2018 starben nach Angaben von Flüchtlingsräten fast 3.000 | |
Menschen auf der Flucht vor Krieg und Armut im Mittelmeer, im Januar 2019 | |
ertranken bereits mindestens 270 Frauen, Männer und Kinder. Gleichzeitig | |
werden zivile Seenotretter bedroht, behindert und juristisch verfolgt. | |
Schiffe, wie nun erneut die „Sea-Watch 3“, dürfen weder anlegen noch | |
auslaufen. | |
Die wenigen Geretteten kommen oft in überfüllten, menschenunwürdigen Lagern | |
wie auf der griechischen Insel Lesbos unter oder werden in lybische | |
Foltercamps zurückgebracht. Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) | |
brüstete sich jüngst damit, gerettete Menschen im Wesentlichen nicht in | |
Deutschland aufgenommen, sondern durch ökonomischen Druck auf andere Länder | |
verteilt zu haben. | |
Insofern – das wissen die Aktivisten aus der „OM10“– bleibt auch ihr | |
Angebot zur Aufnahme und Versorgung von drei geretteten Flüchtlingen | |
allenfalls symbolisch. | |
So lange jedenfalls, wie diese Menschen nicht nach Deutschland und nach | |
Göttingen gelassen werden. | |
14 Feb 2019 | |
## AUTOREN | |
Reimar Paul | |
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