# taz.de -- Gesine Schwan über Hartz IV und die SPD: „Menschen sind keine fa… | |
> Hartz IV hat der SPD geschadet, sagt Gesine Schwan. Die geplante Abkehr | |
> sei richtig. Sigmar Gabriel wirft sie vor, eine Kampagne gegen Nahles zu | |
> fahren. | |
Bild: „Die Krise der SPD hat nicht nur mit Personen zu tun“, sagt Gesine Sc… | |
taz am wochenende: Frau Schwan, die SPD will sich am Wochenende von Hartz | |
IV verabschieden. Wie sehr hat Gerhard Schröders Agendapolitik der SPD | |
geschadet? | |
Gesine Schwan: Der ideelle Schaden ist gravierend. Die SPD hat den | |
Arbeitnehmern damals die Verantwortung dafür zugeschoben, dass sie | |
arbeitslos bleiben. Nur so kann man die Logik rechtfertigen, dass nach | |
einem Jahr Schluss ist mit dem Arbeitslosengeld I. Außerdem setzte diese | |
Regelung auf Angst, was dem sozialdemokratischen Menschenbild widerspricht. | |
Schröder sagte in der Bild-Zeitung den berühmten Satz, es gebe kein Recht | |
auf Faulheit. | |
Ja. Die Idee, dass Menschen faule Säcke sind, die man unter Druck setzen | |
muss, passt ideengeschichtlich und normativ nicht zur SPD. Aber sie passt | |
zu autoritären Regimen. Menschen, denen so etwas unterstellt wird, fühlen | |
sich gekränkt und ungerecht behandelt. Zumal es ihnen nicht von | |
Unternehmerverbänden oder von Konservativen gesagt wurde, sondern von ihrer | |
eigenen Partei, der SPD. Das produziert gravierende Vertrauensverluste. | |
Manche SPDler sagen heute noch: Warum soll ich Leute alimentieren, die faul | |
auf dem Sofa herumsitzen? | |
Solche Gefühle sind menschlich. Und die Neidkomponente, die darin steckt, | |
ist schichtenspezifisch verständlich. Selbst Franz Müntefering hat ja mal | |
gesagt, wer nicht arbeite, solle auch nicht essen. Aber die Tradition der | |
SPD ist eigentlich eine andere. Sozialdemokraten kämpfen solidarisch für | |
ein besseres Leben – und zwar für alle. Unser Menschenbild ist auf Zukunft | |
und Hoffnung ausgerichtet: Wir gehen prinzipiell davon aus, dass die | |
Menschen rechtschaffen und anständig sind. Wir helfen anderen, wenn sie in | |
tiefes Wasser geraten. | |
Ihre Partei repariert seit Jahren die Schäden, die die Schröder-Reformen | |
verursacht haben – und wird immer schwächer. Muss sich die SPD für Hartz IV | |
entschuldigen? | |
Das sehe ich ambivalent. Wir haben in anderen Kontexten Schuldbekenntnisse | |
erlebt. Heidemarie Wieczorek-Zeul bat zum Beispiel um Vergebung für die | |
Verbrechen deutscher Kolonialherren an den Herero. Aber eine ganze | |
Organisation kann nicht pauschal um Verzeihung bitten, das kann nur eine | |
einzelne Person. | |
Zum Beispiel Andrea Nahles. | |
Sie war ja damals eine Kritikerin von Hartz IV. Aber führende | |
Sozialdemokraten könnten heute zum Ausdruck bringen, dass sie verstehen, | |
dass Menschen sich damals gedemütigt fühlten. Damit wäre schon viel | |
gewonnen. Gleichzeitig könnten sie sagen, dass auch ein Gerhard Schröder | |
nach bestem Wissen und Gewissen gehandelt hat. Das glaube ich. Aber die | |
Folgen waren eben zum Teil andere, als gewollt war. | |
Der SPD-Vorstand wird am Wochenende eine Sozialstaatsreform beschließen. | |
Wie bewerten Sie die? | |
Die Pläne laufen nicht nur auf materielle Veränderungen hinaus – | |
vorgeschlagen werden ja ein Mindestlohn von 12 Euro und die längere Zahlung | |
des Arbeitslosengeldes I für ältere Arbeitslose. Mich überzeugt vor allem | |
der Geist, der aus den Papieren spricht. Der Staat soll die Menschen, die | |
in Schwierigkeiten geraten sind, nicht von oben herab wie Bittsteller | |
behandeln, sondern wie Partner. Wir alle können in missliche Situationen | |
geraten. Ich empfinde diese Wertschätzung als Rückkehr zu dem, was die | |
Sozialdemokratie ursprünglich ausgemacht hat. | |
Die SPD-Spitze will die Sanktionen für Arbeitslose abschwächen, sie aber | |
nicht komplett abschaffen. Warum so unentschieden? | |
Gerade bei jungen Arbeitslosen helfen Strafen nicht, das ist empirisch gut | |
belegt. Kooperation und gute Begleitung sind viel besser geeignet, um sie | |
auf den richtigen Weg zu bringen. Es ist deshalb richtig, die verschärften | |
Sanktionen für junge Leute zu streichen. | |
Aber? | |
Aber die SPD-Führung kann nicht übergehen, dass viele Anhänger der | |
Sozialdemokratie eine bestimmte Auffassung von Anstand haben: arbeiten, | |
fleißig sein, sich einbringen. Sie würden eine liberale | |
Laisser-faire-Pädagogik nicht verstehen, die in der bürgerlichen | |
Mittelklasse vielleicht gut ankommt. Es ist legitim, auf diese Menschen | |
Rücksicht zu nehmen. | |
Ein bisschen Strafe muss sein, positives Menschenbild hin oder her? | |
Menschen müssen negative Konsequenzen spüren, wenn sie sich falsch | |
verhalten. Das weiß jeder, der Kinder erzogen hat. Aber es ist ein großer | |
Unterschied, ob ich Sanktionen in Ausnahmefällen anwende – oder ausnahmslos | |
alle mit Drohungen gefügig machen will. | |
Eine These zum Niedergang der Sozialdemokratie lautet, die SPD kümmere sich | |
zu sehr um Interessen einer kosmopolitisch denkenden Elite und | |
vernachlässige weiße, jetzt benachteiligte Arbeiter. Stimmen Sie dem zu? | |
Diese These führt auf einen Irrweg. | |
Warum? | |
Der Freiburger Soziologe Heinrich Popitz hat schon in den 50ern das | |
Menschenbild des Arbeiters empirisch untersucht. Es war, wenig | |
überraschend, ziemlich autoritär – und keineswegs die marxistische | |
Avantgarde. Seither hat sich aber viel getan. Liberale Ideen setzten sich | |
durch im Rechtsstaatsbegriff, in der Erziehung oder der Psychologie. Die | |
Sozialdemokratie hat diese Schübe aufgenommen, was sich etwa in unseren | |
Schulreformen zeigte. Nun zu sagen, wir machen eine Rolle rückwärts, weil | |
sich viele – auch durch unsere Politik – vernachlässigt fühlen, ist falsc… | |
Wir müssen stattdessen unsere politischen Fehler korrigieren. | |
Die Krise der SPD wird oft oberflächlich analysiert: Nahles ist schuld, der | |
Groko-Frust, die Maaßen-Affäre. Was sind die tieferen Ursachen? | |
Über eine wichtige Ursache, den Vertrauensverlust durch die rot-grüne | |
Regierung, haben wir schon gesprochen. Die SPD hat zur Hochzeit des | |
Neoliberalismus zu unkritisch marktradikale Positionen übernommen. Viele | |
Sozialdemokraten haben mit Verve kommunales Eigentum privatisiert. Dann | |
stehen wir natürlich in Konkurrenz zu Parteien, die es zu Willy Brandts | |
Zeiten nicht gab. Wenn Sie SPD, Grüne und Linke zusammenzählen, ist das | |
Potenzial ähnlich wie damals. Ich hielt es auch für einen Fehler, dass die | |
SPD-Führung unter Sigmar Gabriel 2013 nicht den Mut für Rot-Rot-Grün | |
aufbrachte. | |
Die SPD ist nicht bei sich geblieben? | |
Ja. Man muss schon davon überzeugt sein, dass die eigenen Werte tragen, | |
dass sie wichtig und gut für das Land sind. Vielleicht wird man in 20, 30 | |
Jahren einmal sagen, dass die sozialdemokratische Führung nicht mutig genug | |
war. | |
Die SPD leidet auch unter der Ausdifferenzierung der Gesellschaft. Eine SPD | |
wählende Putzfrau hat andere Interessen als ein Facharbeiter mit Daimler | |
und Eigenheim. Wie macht man für beide gute Politik? | |
Brandt hat die großen Mehrheiten nicht errungen, indem er die einzelnen | |
Milieus addierte. Jedem ein Päckchen schnüren, das wäre zu schlicht. Er | |
hatte eine weitreichende Idee von globaler Solidarität und Friedenspolitik. | |
Kurz: Die SPD braucht mehr visionären Überschuss, mehr visionäre Energie. | |
Was heißt das? | |
Eine SPD, die sich nur als Reparaturbetrieb des Sozialstaats begreift, kann | |
Menschen nicht begeistern. Sie muss eine mitreißende Idee für eine gute | |
Zukunft entwickeln. Dafür muss sie die soziale und die ökologische Frage | |
zusammenbringen – und dies mit Teilhabe verbinden. Auf diese drei Punkte | |
müsste sie sich mutig, intensiv und mit Ausdauer konzentrieren. | |
Wie sehen Sie die Arbeit der Parteivorsitzenden? Schröder hat Andrea Nahles | |
die Eignung als Kanzlerkandidatin abgesprochen, auch Sigmar Gabriel | |
stichelt. | |
Aus meiner Sicht gibt es eine Kampagne gegen Andrea Nahles. Sie geht von | |
einigen Personen in der SPD aus, und leider spielt Sigmar Gabriel eine | |
große Rolle. | |
Gabriel hat Nahles neulich auf Twitter öffentlich gedemütigt. | |
Ich habe Sigmar Gabriel immer sehr geschätzt. So bat ich ihn zum Beispiel | |
2016, den Parteivorsitz zu behalten und die Bundestagswahl zu wagen. Er zog | |
es vor, den Vorsitz im Januar 2017 an Martin Schulz zu übergeben und später | |
Außenminister zu werden. Er war, wie ich fand, ein guter Außenminister, und | |
ich setzte mich in der SPD dafür ein, dass er in der neuen Großen Koalition | |
das Amt behalten könnte. Dafür gab es keinerlei Unterstützung. Ich war nach | |
der Wahl 2017 erschrocken über die Wand aus Abneigung und Misstrauen gegen | |
ihn in der SPD. Die hat er auch gespürt. | |
Gabriel hat als Parteichef viele mit seiner brüsken Art und seinem | |
Zickzackkurs zur Verzweiflung getrieben. | |
Ich habe den Eindruck, dass Gabriel mithilfe anderer jetzt darauf aus ist, | |
Andrea Nahles und Olaf Scholz zu zeigen, was eine Harke ist. Das ging in | |
den schwierigen Monaten nach der Entscheidung der SPD, in die Große | |
Koalition einzutreten, los – und es tritt immer deutlicher zutage. Wenn man | |
aber ohne eigene Analyse der Situation und ohne in der Partei verankerte | |
Vorschläge versucht, die Autorität der Chefin zu unterminieren, schadet man | |
der Partei. | |
Das ist ein schwerwiegender Vorwurf. Welche Belege haben Sie dafür? | |
Das ist ein Indizienprozess. Ich sehe Sigmar Gabriels öffentliche | |
Einlassungen, ich höre Gerüchte und Interna, ich lese viel. Der Berliner | |
Tagesspiegel hat Gabriel zum Beispiel eine besondere Rolle zugesprochen. | |
Nahles wird in der Zeitung systematisch negativ belegt, Gabriel wird | |
protegiert und als Kanzlerkandidat oder möglicher neuer Parteichef | |
gehandelt. | |
Mit Verlaub: Dass ihn ein SPD-Parteitag noch mal wählen würde, ist schwer | |
vorstellbar. | |
Dass er eine realistische Chance hätte, glaube ich auch nicht. Aber es gibt | |
auch die Methode „Du hast keine Chance, also nutze sie“. Ich bedaure das | |
alles, weil ich ihn für einen interessanten und wichtigen Politiker der SPD | |
halte. Er hat eine schnelle Auffassungsgabe, eine gute Rhetorik, Charme – | |
und Mut. Doch die jetzige Kampagne verbaut ihm den Weg zu einer | |
konstruktiven Rückkehr. | |
Ob Kampagne oder nicht: Fakt ist, dass viele SPDler Nahles inzwischen für | |
eine schlechte Vorsitzende halten. | |
Zugegeben, sie hat keine guten Umfragewerte. Aber erstens hat die Krise der | |
SPD nicht nur mit Personen zu tun. Zweitens müssten die verschiedenen | |
Gesichter der SPD besser sichtbar werden. Andrea Nahles arbeitet beharrlich | |
und kompetent an der inhaltlichen Erneuerung. Das verdient Respekt. Wir | |
müssen der SPD wieder auf die Beine helfen, nicht nur um der Partei willen, | |
sondern auch um der deutschen Demokratie willen. | |
8 Feb 2019 | |
## AUTOREN | |
Ulrich Schulte | |
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