# taz.de -- Wiederbegegnung in Brüssel: Endlich kein Problembär mehr | |
> Weesam Al-Soranee wurde Zweiter beim „Mr. Bear Belgium“. Eigentlich kommt | |
> er aus dem Irak – doch als Schwuler war er dort in Lebensgefahr. | |
Bild: In Brüssel hat Weesam Al-Soranee gefunden, wovon er im Irak geträumt ha… | |
Weesam, das bedeutet aus dem Arabischen übersetzt: Zentrum des Muts. Weesam | |
Al-Soranee stammt aus dem Irak, heute ist er 38 Jahre alt. Sein Bart ist | |
dicht und schwarz, der Bauch stattlich – im letzten Jahr hat er den zweiten | |
Platz gemacht bei der Wahl zum „Mr. Bear Belgium“, einem | |
Schönheitswettbewerb für etwas kräftigere, bärtige, behaarte schwule | |
Männer. | |
Er sitzt an einem der Fass-Tische im „Le Baroque“, einem schwulen | |
Traditionslokal in der belgischen Hauptstadt Brüssel, auf einem Barhocker | |
und trinkt belgisches Bier aus einem großen Glas. Draußen, in der Rue du | |
Marché au Charbon, der Hauptstraße des Brüsseler „Petit Marais“, nieselt | |
es kalt, es ist früher Abend. Hier drinnen könnte es auch Mitternacht sein, | |
es ist eine dieser typischen Schwulenbars, die noch von früher her Bunker | |
sind, Schutzräume. | |
Weesams rechter Arm sieht vernarbt aus, was denn passiert sei? „Das war ein | |
Tattoo, mein Name war hier eintätowiert. Aber als die amerikanischen | |
Truppen abgezogen sind und die Islamisten sich breitmachten, wurde das zu | |
gefährlich. Wer ein Tattoo hatte, galt als schwul.“ Er hat es entfernen | |
lassen und es sieht aus, als hätte diese Prozedur sehr wehgetan. | |
Vor einigen Monaten, im Spätherbst, hatte Weesam sich über den | |
Facebook-Messenger gemeldet: „Erinnerst Du Dich? Damals, 2010, die | |
Geschichte über Schwule im Irak? Als wir uns in Erbil getroffen hatten, im | |
Nordirak?“ Er habe es über die Balkanroute geschafft, lebe jetzt in | |
Brüssel. Ein Foto hatte er mitgeschickt – damals in Erbil trug er bloß | |
einen Kinnbart, hatte auch noch keinen preisverdächtigen Bauch – und einen | |
Screenshot der Onlineversion des Textes [1][„Bei Outing Mord“] aus der taz | |
vom 16. August 2010. | |
Mit Weesam, seinem Freund Paris, der aussah, als sei er einem | |
spätmittelalterlichen Gemälde entsprungen, und seinem Freund John, der gut | |
Englisch sprach und mit einer Frau verheiratet war, hatten wir damals | |
einige Abende verbracht und unzählige Runden im fast 50 Grad heißen Erbil | |
gedreht. Weesam hatte immer ganz nervös an seiner Gebetskette herumgespielt | |
und gefragt, wie das Leben in Berlin denn sei als schwuler Mann. | |
Wir hatten Tee getrunken, am Brunnen gesessen, der uns mit ein bisschen | |
Wasserschleier gekühlt hatte. Shisha hatten wir zusammen geraucht. Weesam | |
träumte damals davon, eine irakische LGBTI-Organisation zu gründen. Stolz | |
zeigte er die über 500 Kontakte in seinem Smartphone. In Erbil konnten sich | |
die Jungs damals relativ sicher fühlen – doch im restlichen Irak war die | |
Lage schon gefährlich, schwule Männer wurden vereinzelt von islamistischen | |
Milizen getötet. | |
## Unterm erigierten Penis | |
„Eigentlich hätte ich schon damals gehen sollen, egal wie und auf welchem | |
Weg“, sagt Weesam in die laute Rockmusik des „Le Baroque“ hinein. | |
Gegenüber unserem Tisch hängt ein Fantasy-Gemälde, das unter anderem einen | |
riesigen erigierten Penis zeigt. Der Laden füllt sich, immer mehr Männer | |
kommen hinein, viele in Jeans und Leder gekleidet. „Aber da war ja auch | |
meine Familie, meine Mutter.“ Bei ihr hatte er, der immer noch | |
unverheiratet ist, gelebt. | |
Doch die Situation wurde für ihn immer schwieriger – nicht nur, weil ihm | |
die Begründungen für sein Junggesellentum ausgingen. Auch in Erbil, dem | |
einst sicheren Hafen, konnte er sich irgendwann nicht mehr unbehelligt | |
aufhalten. Am Brunnen hatte jemand einen Konflikt heraufbeschworen, ihn | |
öffentlich als schwul bezeichnet – und sogar mit einer Waffe bedroht. Er | |
weiß bist heute nicht, wer oder was genau dahinter steckte. | |
Allmählich verlor er den Kontakt zu seinen Freunden, auch zu John und | |
Paris. John, der einen britischen Pass hat, lebt mittlerweile getrennt von | |
seiner Frau in der Türkei. Paris wurde von der Familie genötigt, zu | |
heiraten, er lebt weiter in Erbil. „Ich hätte das nicht gekonnt“, sagt | |
Weesam. „Ich hätte ja auch die Frau unglücklich gemacht.“ Er schlug sich … | |
Bagdad durch, arbeitete bei einem Wachdienst. Ein Freund stellte ihm die | |
verwaiste Wohnung einer Schwester zur Verfügung, ein kleines Stück Freiheit | |
in einem Leben voller Heimlichkeiten und Ängste. | |
Immer häufiger wurden schwule Männer Opfer von Gewalt, seitdem die | |
US-Truppen abgezogen waren. Viele starben, wurden in Hinterhalte gelockt, | |
ausgeraubt, gefoltert und hingerichtet von Islamisten, ermordet – auch von | |
der eigenen Familie. „Das wird toleriert“, sagt Weesam. Man sieht es den | |
Familien nach, wenn sie die Familienehre wiederherstellen. | |
Bei Weesam flog eines Tages alles auf. An einem Checkpoint in Bagdad wurde | |
er angehalten, die Polizisten sahen sich unter Gewaltandrohung die Inhalte | |
seines Smartphones an und erpressten ihn mit dem dort entdeckten | |
Offensichtlichen: Fotos, Kontakte, Videos. Sie steckten ihn ins Gefängnis | |
und drohten ihm: Der Bruder solle sofort mit Geld kommen, sonst erführe die | |
ganze Familie, wer er sei. | |
Der Bruder kam, zahlte, und dann ging alles sehr schnell: Weesam packte | |
sämtliche Dokumente in eine Tasche, fuhr sofort zum Flughafen in Erbil und | |
buchte den nächsten Flug in die Türkei. | |
Dort blieb er zunächst. „Bis Angela Merkel die Flüchtlinge willkommen hieß. | |
Da dachte ich mir: Jetzt oder nie.“ Wieder packte er seine sieben Sachen | |
und schaffte es binnen einer Woche von der Türkei nach Brüssel. Mit dem | |
Schlauchboot über das Mittelmeer nach Griechenland, „nein, schwimmen kann | |
ich nicht. Aber wir hatten ja Rettungswesten.“ | |
Dann ging es weiter mit Bus, Bahn, zu Fuß. In Deutschland angekommen teilte | |
er sich mit vier anderen Flüchtlingen ein Taxi nach Trier, „das waren | |
hundert Euro pro Person“. Doch in Trier wollte er nicht bleiben, „in | |
Deutschland war ja alles überfüllt, da wäre ich in einer Turnhalle | |
gelandet. Und in Brüssel kannte ich jemanden.“ Weiter ging es nach | |
Luxemburg, dort bestieg er den Thalys nach Brüssel. | |
Der Wirt des „Le Baroque“ kommt an den Tisch, stellt weitere Biere auf den | |
Tisch – zahlen dürfen wir nicht. „Das ist Tarek“, stellt Weesam vor, „… | |
hat sich von Anfang an für mich eingesetzt. Er hätte auch vor den Behörden | |
für mich gebürgt.“ An Wochenenden hilft Weesam in der Bar aus, er nennt es | |
„Praktikum“, sammelt Gläser ein. Alle hier in der Bar scheinen ihn zu | |
kennen. Als er 2015 im November am Gare du Nord ausstieg, um sich sofort | |
registrieren zu lassen, war er erst mal alleine unter Geflüchteten: „500 | |
Leute in einer Unterkunft, alle Religionen. Und im geschützten Raum für | |
Schwule, den gäbe es, war kein Platz mehr. Dafür hat sich aber ein | |
Sozialarbeiter gut um mich gekümmert, hat immer gefragt, ob alles in | |
Ordnung sei – und mir Kontakte zu schwulen Organisationen hergestellt.“ | |
## Ein taz-Artikel als Beweis | |
Es läuft gut für ihn – auch das dreieinhalbstündige „Verhör“, bei dem… | |
seine Anerkennung als Asylbewerber geht, übersteht er: „Die Dame war gut | |
unterrichtet – und stellte die richtigen Fragen. Sie fragte nach | |
Treffpunkten für Schwule in Erbil, aber auch Fragen, die man nur als | |
Schwuler beantworten kann.“ Er will nicht genau erzählen, was das für | |
Fragen waren – aber einmal hat er sich bei der aus Palästina stammenden | |
Übersetzerin entschuldigt. Die aber sagte nur: Du musst dich für nichts | |
entschuldigen. | |
Tarek musste also nicht für ihn bürgen. Und auch den Artikel aus der taz | |
musste Weesam nicht vorzeigen. „Den hatte ich ja immer dabei auf der | |
Flucht, auf einem USB-Stick. Als Beweis. Aber in Belgien gelten nur | |
entsprechende Zeugnisse aus Belgien.“ Am Ende wurde sein Asylantrag | |
genehmigt, als schwuler Mann musste er nicht zurück in den Irak – und | |
Weesam wurde zu einem glücklichen Menschen: „Ich bin so froh. Die Behörden | |
helfen mir, hier Fuß zu fassen. Ich mache einen Kurs, um meine Ausbildung | |
als Elektriker hier anerkennen zu lassen. Und einen Französischkurs. Und | |
ich kann endlich ich selbst sein. Es reicht doch wirklich, eine Person zu | |
sein.“ | |
In Brüssel hat er nun gefunden, wovon er all die Jahre im Irak geträumt | |
hatte: ein „richtiges schwules Leben“. Mit allem, was dazugehört: Feiern, | |
Saunen, Sex – und die Wahl zum „Mr. Bear Belgium“. Er ist einfach zu den | |
Organisatoren und hat gefragt, wie die Teilnahmebedingungen waren, „es war | |
gar nicht kompliziert“. Ein bisschen tanzen, ein bisschen was erzählen – | |
und gut dabei aussehen. | |
Andere Dinge sind ein bisschen verdreht. So ist er im letzten Jahr, nach | |
den Brüsseler Terroranschlägen, wieder in eine Polizeikontrolle geraten, am | |
Hauptbahnhof. Wieder wollten die Polizisten sein Handy kontrollieren, | |
fragten höflich, ob sie das dürften. Weesam bejahte, „ich hatte ja nichts | |
zu verbergen“, und auch dieses Mal fanden die Polizeibeamten Bilder und | |
Videos. „Sie sind schwul? In Ordnung, dann können Sie gehen, vielen Dank.“ | |
Als schwuler Mann war er nicht länger verdächtig, einen islamistisch | |
motivierten Anschlag zu verüben. | |
Ob er seine alte Heimat nicht manchmal vermisse? „Ja, meine Kultur vermisse | |
ich manchmal. Und meine Mutter. Vielleicht kann ich sie eines Tages dort | |
besuchen.“ Eine andere Angewohnheit aus dem Irak hat er sich indessen | |
abgewöhnt, aus Rücksicht gegenüber seinen neuen Mitbürger*innen in Belgien. | |
Er trägt keine Gebetskette mehr in der Hand, obwohl die seinerzeit zu ihm | |
gehörte wie zu anderen das Rauchen. „Ich weiß nicht“, sagt er, „es macht | |
die Leute hier irgendwie nervös.“ | |
10 Feb 2019 | |
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## AUTOREN | |
Martin Reichert | |
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