# taz.de -- Atheismus-Aktivist über Anfeindungen: „Man glaubt einfach daran�… | |
> Als er sich von seinem Glauben abwendete, brachte sein Vater ihn zur | |
> Polizei im kurdischen Teil des Irak. Heute lebt Amed Sherwan als Aktivist | |
> in Deutschland. | |
Bild: Amed Sherwan, Atheismus-Aktivist | |
taz am wochenende: Übers Telefon sehe ich es leider nicht – tragen Sie | |
heute wieder ein T-Shirt mit Slogan, Herr Sherwan? | |
Amed Sherwan: Nein, eines ohne Aufschrift. | |
Das heißt, es ist nicht Ihr Alltag, sich so sichtbar zu machen wie auf dem | |
CSD in Berlin, wo Sie ein T-Shirt mit dem Slogan „Allah is gay“ getragen | |
haben? | |
Nein, nicht unbedingt. Es ist ziemlich gefährlich, meist bin ich draußen | |
ohne irgendeine Botschaft auf dem T-Shirt. Das allererste T-Shirt mit | |
Slogan hatte ich 2016, darauf stand „Thank Allah I Am an Atheist“. | |
Dabei sind Sie in einer religiösen muslimischen Familie aufgewachsen und | |
waren ein gläubiges Kind. | |
Ich wurde in eine muslimische Familie hineingeboren und habe einfach daran | |
geglaubt, ohne es zu hinterfragen oder zu verstehen, was da im Koran steht. | |
Es sind Sachen, die zu Hause, in der Schule, in der Moschee gesagt werden, | |
und man glaubt einfach daran. | |
Wie kam es dazu, dass Sie all das als Jugendlicher in Frage gestellt haben? | |
Das kam durch einen Facebook-Eintrag, auf den ich zufällig gestoßen bin. | |
Danach habe ich mehrere hundert Seiten Bücher gelesen, viele davon als | |
PDF-Dateien, denn die gab es nicht in den Läden bei uns zu kaufen. Und bei | |
den Büchern, die schon übersetzt waren ins Arabische, stand groß darauf, | |
dass sie illegal seien. Es kam mir erst einmal wie Gotteslästerung vor, es | |
war eine ganz andere Welt, über die ich mit niemandem reden konnte. | |
Was stand in diesen Texten? | |
Es waren Analysen des Koran und es ging zum Beispiel darum, dass dort zum | |
Krieg gegen die Ungläubigen aufgerufen wird oder um die Rolle der Frau. Es | |
waren auch Texte darüber, wie die Kurden mit Zwang zum Islam bekehrt worden | |
waren. | |
Und wie sind Sie als frommer Teenager überhaupt auf die entsprechenden | |
Seiten gekommen? | |
Das ist eine superlustige Geschichte: Ich hatte einen Link zu einer | |
Facebookseite bekommen, den ich weiterverbreiten sollte – mit der Bitte, | |
sie als gotteslästerlich bei Facebook zu melden, um sie sperren zu lassen. | |
Aber Ihnen hat sie etwas gesagt? | |
Ja. Ich hatte das Gefühl, dass in meiner Community etwas falsch läuft. Dass | |
ich meiner Kusine nicht die Hand gebe, nicht einmal als Kind. Dass es in | |
meiner Familie so streng war, was die Trennung von Frauen und Männern | |
angeht. Diese Texte und Posts haben mir bestätigt, dass es andere Orte auf | |
der Erde gibt, wo Männer und Frauen gleichberechtigt sind, wo Leute sich | |
kritisch äußern können, ohne sich in Gefahr zu bringen. | |
Aber erst einmal haben Sie geschwiegen. | |
Ich habe ziemlich genau ein Jahr lang ein Doppelleben gelebt. Nach außen | |
hin war ich weiter religiös und habe die Moschee besucht, aber auf Facebook | |
war ich mit einem Fakeprofil unterwegs. Nach meinem 15. Geburtstag habe ich | |
meinem Vater dann gesagt, dass ich nicht mehr glaube, aber dass ich seine | |
Religion respektierte. | |
Wie hat er reagiert? | |
Er hat mich geschlagen. Und einige Tage später, als ich unter meinem | |
Klarnamen auf Facebook geschrieben habe, wurden Nachbarn und Bekannte | |
meines Vaters darauf aufmerksam und haben ihn angesprochen. Da hat mich | |
mein Vater bei der Polizei angezeigt. | |
Das ist jetzt sieben Jahre her. Haben Sie wieder ein Verhältnis zu ihm | |
gefunden? | |
Nie wirklich. Es ist nicht wieder wie vorher, als wir ganz normalen Kontakt | |
als Vater und Sohn hatten. Ich habe damals zwar damit gerechnet, dass Leute | |
sich provoziert fühlen und dass ich Nachrichten mit Morddrohungen bekomme, | |
so wie alle anderen. Ich bin aber nicht davon ausgegangen, dass mein | |
eigener Vater mich der Polizei ausliefert. | |
Gab es jemanden in der Familie, der sich auf Ihre Seite gestellt hat? | |
Niemand hat wirklich meine Seite vertreten. Aber mein Onkel hat trotzdem | |
die Kaution bezahlt und mich aus dem Gefängnis geholt, weil er erfahren | |
hat, dass ich dort gefoltert worden war, und er Mitleid mit mir hatte. | |
Meine Eltern haben mich im Gefängnis besucht, ich habe meinen Vater | |
gebeten, er soll es bitte jemandem da draußen erzählen, es gibt so viele | |
Menschenrechts- und Kinderrechtsorganisationen. Das hat er nicht getan. Er | |
sagte, er hätte nicht damit gerechnet, dass ich gefoltert werde, er hätte | |
mir nur ein bisschen Angst machen wollen. | |
Danach hat man gegen Sie als 15-Jährigen einen Prozess eröffnet. Wie sind | |
Sie damit zurechtgekommen? | |
Ich habe versucht, es in die Presse zu bringen. Einige haben darüber | |
berichtet, über Facebook habe ich einen Kontakt zu einem Anwalt in Erbil | |
bekommen, der auf solche Fälle spezialisiert ist. Er hat den Fall | |
halboffiziell vertreten, denn für eine reguläre Vertretung hätte mein Vater | |
unterschreiben müssen, was er nicht wollte. Obwohl ich wegen | |
Gotteslästerung angezeigt wurde, lautete die Anklage nachher auf Widerstand | |
gegen die Staatsgewalt bei meiner Festnahme. | |
Es ging nicht darum, dass Sie den Koran auf dem Dach Ihres Elternhauses | |
verbrannt hatten? | |
Nein, das haben meine Eltern bis heute nicht erfahren; ich habe das ganz | |
heimlich für mich gemacht. Ich musste einfach für mich allein feststellen, | |
ob es einen Gott gibt, der mich dafür bestraft. Es war ein unglaublicher | |
Befreiungsschlag, als nichts passierte, ein Schlusspunkt. | |
Aber Sie haben es mit Ihrem Buch öffentlich gemacht. Haben Sie nicht Angst, | |
dass man Sie dafür zur Rechenschaft zieht? | |
Ich bin nicht mehr im Irak, ich weiß nicht, ob meine Eltern das Buch jemals | |
lesen werden. Ich habe für meine Freiheit viel auf mich genommen und werde | |
mich nicht mehr verstecken. | |
Und früher, im Irak? | |
Über die Koranverbrennung hätte ich damals nie sprechen können. Aber ich | |
habe öffentlich gesagt, dass ich nicht mehr glaube. Ich war sehr jung und | |
wusste nicht, wie krass die Reaktionen darauf sein können. Ich kannte | |
solche Fälle aus anderen Ländern, aber ich hätte nie gedacht, dass das in | |
Irakisch-Kurdistan auch so passieren kann. Ich bekomme auch noch hier in | |
Deutschland Morddrohungen und Beleidigungen. Aber anders als in Kurdistan | |
werden sie hier von der Polizei geprüft, und sie unternehmen etwas dagegen. | |
Hatten Sie eine Idee vom Leben in Deutschland, als Sie hierher geflohen | |
sind? | |
Nicht wirklich, das kam alles sehr hektisch nach der Gerichtsverhandlung. | |
Deutschland war einfach das Land, wohin die meisten geflüchtet sind. | |
In Deutschland ist Ihr Umfeld sehr bunt: In Ihrer gerade erschienenen | |
Biografie sind Sie umgeben von arabischen Kleinkriminellen über schwule | |
Computerfachleute hin zu biodeutschen Linken. Wie hat sich das | |
zusammengefunden? | |
In meinen ersten Jahren in Deutschland bin ich sehr einsam gewesen und | |
hatte keine stabilen Kontakte. In Flensburg habe ich dann in einem | |
Geflüchtetenprojekt als Dolmetscher geholfen, darüber habe ich tolle und | |
sehr unterschiedliche Leute kennengelernt. | |
Dabei sind Sie in Deutschland erst einmal an rechte Kreise geraten. | |
Über meine Kritik am Islam bin ich erst in einer Szene gelandet, die meine | |
schlimmen Erfahrungen für Propaganda gegen Geflüchtete allgemein nutzen | |
wollte. Ich wurde dadurch auch selbst immer radikaler und habe richtig | |
Angst gehabt vor einer Islamisierung des Landes. Bis ich allmählich erkannt | |
habe, dass sie mit ihren Haltungen genauso schlimm sind wie die Leute, vor | |
denen ich geflüchtet bin. | |
Wie kam es, dass Sie sich hier wieder für das Recht auf Atheismus | |
engagieren? | |
Nachdem ich das Ganze im Irak durchgemacht hatte, hatte ich nicht vor, mich | |
wieder mit der Thematik zu beschäftigen. Die ersten zwei Jahre habe ich | |
auch nicht darüber gesprochen oder gepostet. Bis es zu dem Artikel in einem | |
Flensburger Magazin kam, wo ich über Atheismus als Fluchtgrund erzählt habe | |
und wie glücklich ich bin, in einem Land zu leben, in dem Meinungsfreiheit | |
gilt. Deswegen wurde ich von einem Redaktionskollegen bedroht. Er hat mir | |
gesagt: „Ich werde dir den Kopf abschneiden und mit nach Jemen nehmen, auch | |
wenn es das Letzte sein sollte, was ich in Deutschland tue.“ Dadurch habe | |
ich gesehen, wie wichtig es ist, über solche Themen zu reden und dass so | |
etwas sehr häufig passiert. | |
Sie engagieren sich auch noch für die schwul-lesbische Community. Wie kam | |
das? | |
Nachdem ich den Islam verlassen hatte, habe ich immer noch gedacht, dass | |
Schwule krank sind. Mit diesen Vorstellungen bin ich aufgewachsen. In | |
Flensburg habe ich direkten Kontakt zu LGBTI-Menschen gefunden, durch eine | |
lesbisch-schwule Disco, die ich mit Freunden besucht habe. Ich habe | |
gemerkt, dass es gerade in der muslimischen Community vielen Leuten | |
aufgrund ihrer Sexualität sehr schlecht geht. Sie erleben ein ganz anderes | |
Leid als ich als Ex-Muslim. | |
Nachdem Sie das T-Shirt „Allah is gay“ getragen haben, ist auch Ihr Umfeld | |
angefeindet worden. Wie gehen Sie damit um? | |
Das ist am allerschlimmsten für mich. Ich selbst kann einigermaßen damit | |
klarkommen, ich habe mit Morddrohungen zu tun, seit ich 15 bin. Aber es ist | |
ganz schlimm, wenn Leute, die mir etwas bedeuten, das erleben. | |
Ist Ihr Alltag durch die Drohungen eingeschränkt? | |
Ich hatte eine Weile tatsächlich Angst um mein Leben, nachdem ich mit einem | |
Plakat mit zwei sich küssenden Männern auf einer Palästinenser-Demo in | |
Flensburg aufgetaucht bin. Es gibt ein Video davon, wie Leute mich direkt | |
auf der Demo körperlich angreifen und das Plakat zerstören. Danach habe ich | |
massiv Drohungen bekommen, ich wurde von denselben Leuten im letzten Jahr | |
auf offener Straße verprügelt. Bis heute werde ich auf der Straße beleidigt | |
und bespuckt. Ich melde das, aber die meisten Anzeigen werden eingestellt. | |
Passiert gar nichts? | |
Es werden Gefährderansprachen mit den Leuten geführt, die bekommen Besuch | |
von der Polizei, aber von denselben Leuten werde ich wieder bedroht. Es ist | |
ihnen total egal. | |
Was lässt Sie weitermachen? | |
Toll ist, dass ich Nachrichten von Menschen aus Saudi-Arabien, Pakistan, | |
Afghanistan und dem Sudan bekomme, also superkrassen repressiven Ländern, | |
wo Atheismus und Homosexualität unter Todesstrafe stehen. Auch Leute aus | |
Deutschland schreiben mir, dass sie sich nicht trauen, offen mit ihren | |
Haltungen oder ihrer Sexualität umzugehen, aber dass ich ihnen mit meinen | |
Aktionen Hoffnung gebe. | |
Von Ihrem Engagement können Sie wahrscheinlich nicht leben. | |
Ich habe gerade einen Job als Tellerwäscher, als Aktivist verdiene ich kein | |
Geld. | |
Wie planen Sie Ihre Aktionen? | |
Die Aktionen, die ich mache, sind meist sehr spontan, so dass ich ein paar | |
Stunden vorher etwas auf ein T-Shirt oder Plakat drucke, weil etwas | |
passiert, wo ich reagieren will. Die Leute müssen aushalten, dass man Witze | |
über Religion macht oder nicht einer Meinung ist mit ihnen. Und manchmal | |
muss man Grenzen überschreiten, um etwas zu verändern. | |
Und Sie müssen aushalten, dass Sie zwischen den Stühlen sitzen, zwischen | |
Islamisten und Rechten. | |
Das ist sehr anstrengend. Die Zeit war viel leichter, als ich gesagt habe: | |
Alle Muslime sind scheiße. Jetzt, wo ich es differenziert sehe und es nicht | |
den Rechten überlasse, macht es das schwer. Aber inzwischen tauchen keine | |
Rechten mehr auf meiner Seite auf, weil ich mich mittlerweile auch gegen | |
Rassismus engagiere. Ich habe jetzt oft genug wiederholt, dass ich sie | |
genauso scheiße finde wie die Islamisten. | |
Vermissen Sie manchmal die Sicherheit Ihres Glaubens als Kind? | |
Ich kann diese Position nicht mehr einnehmen, an Hölle und die ganze | |
Strafen zu glauben. Religion überhaupt ist nichts für mich. Aber viele, die | |
ich kenne, die Schlimmes erlebt haben, sind gläubig und es tut ihnen gut, | |
an Gott und ein Leben nach dem Tod zu glauben. Das ist für mich völlig in | |
Ordnung. | |
Wie ist heute Ihr Kontakt zu Ihrer Familie in Irakisch-Kurdistan? | |
Wir telefonieren ab und zu. Meist streiten wir und müssen das Telefonat | |
dann beenden. Wir führen immer wieder das gleiche Gespräch. | |
Nämlich? | |
Warum muss ich provozieren? Warum muss ich mich jetzt auch noch für die | |
LGBTI-Community einsetzen? | |
Woher weiß Ihre Familie das? | |
Im Internet ist alles offen. Ich habe sie auf meiner Seite schon längst | |
blockiert, aber irgendwie kriegen sie alles mit. Einmal habe ich ein | |
Nacktfoto von mir gepostet, daraufhin kam meine Mutter ins Krankenhaus. Sie | |
haben das Gefühl, als Eltern versagt zu haben. Es ist so, als hätten | |
deutsche Eltern einen Sohn, der sich als Nazi bekennt. | |
Ihr Kampf ist vermutlich einer, der ein ganzes Leben dauert. | |
Wahrscheinlich ja. Ich hoffe darauf, dass die nächste oder übernächste | |
Generation in einer freien Welt aufwächst, wo sie selbst entscheidet, was | |
sie glaubt und wie sie leben will. | |
28 Nov 2020 | |
## AUTOREN | |
Friederike Gräff | |
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