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# taz.de -- Schwule im Irak: Ein Pogrom auf Raten
> Im Irak können Schwule nur überleben, wenn sie unsichtbar bleiben. Dem
> Abzug der US-Truppen, der nun beginnen soll, sehen die Homosexuellen mit
> Sorge entgegen.
Bild: Ein Passant in der landestypischen kurdischen Männertracht.
ERBIL taz | John ist ein schwuler Iraker. Erst vor wenigen Jahren ist der
Kurde aus dem Londoner Exil in den von den US-Truppen besetzten Irak
zurückgekehrt, um in Erbil als Lehrer zu arbeiten. Er ist verheiratet, hat
zwei Kinder - so, wie fast alle Schwulen im Irak, die das 30. Lebensjahr
überschritten haben.
Zu dem Treffen mit dem Journalisten aus Deutschland ist John gekommen, um
zu überprüfen, ob der Besucher vertrauenswürdig ist, bevor er weitere
schwule Freunde dazu holt. Keine Fotos, keine richtigen Namen, die
Biographien müssen verändert werden - das sind die Bedingungen. Es ist noch
nicht lange her, dass ein Schwuler aus Bagdad in einem australischen
Magazin abgebildet wurde und danach in einem Kugelhagel starb.
Nun, da die Amerikaner ihre Truppen aus dem Irak abziehen - bis Ende August
sollen 90.000 von vormals 146.000 Soldaten in die USA zurückkehren, bis
Ende nächsten Jahres auch die restlichen 50.000 - wird John dank seines
britischen Passes zurück nach Europa gehen. Seine schwulen Freunde müssen
bleiben - sie haben Angst vor einer Zukunft in Chaos und Bürgerkrieg. Und
einer irakischen Regierung, die wohl auch in Zukunft nicht in der Lage sein
oder willens sein wird, sie zu schützen.
In Erbil laufen Homosexuelle immerhin nicht Gefahr, von einer
islamistischen Miliz gefoltert und abgeschlachtet zu werden. Für den
Gesamtirak hat Amnesty international seit dem Jahr 2005 fünfhundert solche
Fälle dokumentiert. Ein Pogrom auf Raten.
"In Erbil wird niemand verhaftet, solange er sich nicht erwischen lässt",
erzählt John. "Die Regierung weiß, dass es Schwule gibt, wir werden so weit
in Ruhe gelassen. Aber vor zwei Monaten wurde einer unserer Freunde von
seinem eigenen Neffen umgebracht. Er war aufgeflogen." Entspannt sei hier
kein Schwuler, sagt John, "im Irak wird es keine schwule Identität geben,
solange alle am Islam, der Religion, der Tradition festhalten."
Auch unter Saddam Hussein wurde Bagdad in den Neunzigern konservativer, der
Alkoholverkauf wurde eingeschränkt, Bars wurden geschlossen. Die
Todesgefahr für Schwule im Irak entstand jedoch erst in jenem
Sicherheitsvakuum, das nach dem Sturz Husseins entstand. Etwa durch jene
Milizen, die sich statt um die allmählich in die Hände der irakischen
Polizei zurückgegebene Sicherheit nun um die Moral kümmern. Kopfgelder auf
Schwule aussetzen. Ihnen die Genitalien abschneiden, glühende Kohlen oder
Besenstiele in den Anus stopfen. Junge Milizionäre fahnden in Internetforen
nach Schwulen, verabreden sich mit ihnen, um sie dann zu töten.
Hier, in der Autonomen Region Kurdistan, müssen Schwule "nur" Todesangst
vor ihrer eigenen Familie haben. Ehrenmorde, die in keiner Statistik
auftauchen und juristisch unter Berücksichtigung mildernder Umstände
geahndet werden: ein Jahr Haft für den Täter, es ging schließlich um die
Familienehre. Mildernde Umstände, die für einen Ehrenmord an Frauen in
Kurdistan zumindest offiziell nicht mehr gelten, wohl aber bei
Homosexuellen. Im von der internationalen Gemeinschaft an die Region
herangetragenen Fluss des "Gender-Mainstreamings" sind sie bislang
überhaupt nicht vorgesehen.
Claudia Roth von den Grünen war unlängst auf Stippvisite in Erbil, "nach
Schwulen hat sie nicht gefragt, diese Frage tauchte bislang auch nur
beiläufig im Menschenrechtsbericht auf", erklärt der noch bis vor Kurzem
amtierende Generalkonsul Oliver Schnakenberg: "Es gibt keine Tradition der
Menschenrechte im Irak, auch die Befreier konzentrieren sich in erster
Linie auf die Sicherheit. Die Menschen hier haben vor allem Angst, bei
einem Bombenanschlag zu sterben", erklärt der Konsul. Was soll er auch
sagen. Nicht einmal die USA haben sich bislang zur Situation von Schwulen,
Lesben und Transgender im Irak geäußert. Zu früh? Für viele von ihnen ist
es längst zu spät.
13 Aug 2010
## AUTOREN
Martin Reichert
Martin Reichert
## TAGS
Atheismus
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