# taz.de -- Die Wahrheit: Eine Küchenradio-Epiphanie | |
> Ich könnte behaupten, eine Art Hippness-Avantgarde gewesen zu sein, | |
> meistens war ich jedoch nur anachronistisch, hinterher und uncool. | |
Bild: „Happy“? Lieder wie das von Pharrell Williams sind schon eher außerg… | |
Seit Jahrzehnten versuchen Menschen, mir zu vermitteln, ich müsse mich für | |
meinen Musikgeschmack schämen. Aus ihrer Sicht zu Recht. Als man sich auf | |
der Höhe der Zeit befand, wenn man Genesis und Pink Floyd hörte, stand ich | |
auf Chuck Berry und Sixties-Beat. Ich interessierte mich für englischen | |
Folk, als Punk angesagt war, der mir erst reizvoll erschien, als Techno in | |
Mode kam. Und ich hörte Country, als man mit dieser Vorliebe noch kurz vor | |
der Entmündigung und Einweisung stand. Ich könnte behaupten, eine Art | |
Hippness-Avantgarde gewesen zu sein, meistens war ich jedoch nur | |
anachronistisch, hinterher und uncool. | |
Mir leuchtete noch nie ein, warum irgendein angesagtes | |
Indie-Noise-Geschrammel hörenswerter sein sollte als ein eingängiger | |
Popsong. Oder andersrum. Manchmal aber mache ich mir selbst Angst. Ich | |
erinnere mich an einen Morgen im Sommer 1982. Ich wollte gerade zur Schule | |
zu gehen, da tönte aus unserem Küchenradio eine Lied, das mich | |
augenblicklich mesmerisierte. Wie von Geisterhand wurde ich zurück vors | |
Radio gezogen. Wow! Was war das? | |
Musikalisch konnte ich es nicht einordnen: Ein bisschen Elektronik-Gedudel, | |
ein schleppender Discobeat, orientalische Anmutungen, jemand sang einen | |
deutschen Text, den ich nur halb verstand, irgendwas mit „Neutronen“. Der | |
Song hatte etwas Schwebendes, Zwischenweltliches. Gegen Ende überlagerten | |
sich Sitar-, Tabla- und Flötenklänge im ausfransenden Musik-Nirwana … | |
In meiner Erinnerung dauerte das Ganze zehn Minuten. Ich war tief berührt | |
und ging wie in Trance in die Schule. Niemandem, dem ich davon erzählte, | |
fiel etwas dazu ein. So sehr ich mich auch bemühte: Ich konnte nicht | |
herausfinden, von wem der Song war. Ich hörte ihn nie wieder. Er blieb ein | |
Phantom. Ein Schatten. | |
Bis ich vor einigen Jahren in einer MDR-Ostalgie-Sendung zufällig einen | |
Auftritt der inzwischen enorm angedickten DDR-Rockband Karat sah. Dazu muss | |
ich sagen, dass es durchaus DDR-Bands gab, die mich interessierten: Pankow | |
zum Beispiel oder die Bluesband Engerling. Aber immer wenn mir der | |
Ost-Mainstream-Rock begegnet war, mit seiner schwurbeligen, bemühten | |
Gymnasiasten-Lyrik hatte ich aus guten Gründen weggehört. Und nun spielten | |
die alten Männer von Karat plötzlich „unser Lied“. Das Lied, das mich als | |
17-Jährigen einmal für zehn Minuten – tatsächlich waren es nur 5:25 – | |
verzaubert hatte. Es hieß „Der blaue Planet“, und ich erkannte es sofort | |
wieder. | |
Leider musste ich nun feststellen, dass es sich dabei um ein typisches | |
Karat-Lied handelte. Verstörenderweise konnte ich trotzdem meine damalige | |
Faszination verstehen. Ein Lied direkt aus der Ostrockhölle, und doch hatte | |
es etwas. Immer noch. Und deswegen muss ich hier, mit Stolz, Scham und | |
leichtem Würgen gestehen: Karat hat mein Herz berührt. | |
30 Jan 2019 | |
## AUTOREN | |
Hartmut El Kurdi | |
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