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# taz.de -- Die Wahrheit: „Wachtturm“ am Sonntag
> Eine kurze Karriere als Zeitungsbote befördert das Wissen über die
> Kundschaft der Wochenendblätter aus dem Hause Springer.
Meine Karriere in den Printmedien begann ich als Vierzehnjähriger bei der
Bild am Sonntag. Einer der Bewohner in dem Wohnheim für psychisch Kranke,
in dem meine Mutter putzen ging, war als „Sonntagshändler“ der BamS tätig.
Aufgrund eines psychotischen Schubes konnte er seinem Job zeitweise nicht
nachgehen, und so fragte er meine Mutter, ob sie jemanden wüsste, der sich
etwas dazu verdienen wolle.
Sie wusste. Sie ahnte allerdings nicht, wofür ich das Geld benötigte. Ich
plante, mir regelmäßig, aber heimlich, die Bravo oder die etwas günstigere
PopRocky zu kaufen, in der ich hoffte, wichtige Informationen für meine
weitere körperliche und geistige Entwicklung zu finden.
Ein Mann erklärte mir am Telefon den Ablauf: Ich sollte Sonntagfrüh das
Zeitungswägelchen irgendwo abholen, zusammen mit einer Liste mit
Kundennamen. Bei diesen war dann zu klingeln und das Druckwerk gegen
Bargeld zu überreichen.
Super, dachte ich. Genau für diese Aufgabe war ich jahrelang trainiert
worden. Seit ich acht war, ging ich jeden Sonntag mit meiner Mutter von Tür
zu Tür und bot die beiden Zeitschriften Wachtturm und Erwachet an. Seit ein
paar Monaten auch allein mit meinem Kumpel Andy. Wir zwei gestalteten
unseren Predigtdienst jedoch eher flexibel.
Der Wachtturm ist übrigens die inhaltsschwerere theologische Kost der
Zeugen Jehovas, die Erwachet behandelt Alltagsthemen wie aufreizende
Kleidung, Alkoholismus und die Gefahren der Masturbation. Insofern
überraschte es mich nicht, als ich in meinem Wägelchen neben der BamS noch
die WamS vorfand. In geringerer Stückzahl. Klar, auch bei uns ging der
Wachtturm schlechter als die Erwachet.
Nicht gerechnet hatte ich damit, dass die Springer-Kundschaft genau so
bockig, uninteressiert und Nicht-zu-Hause war wie die bekehrungsunwillige
Jehova-Klientel. Nur jeder vierte auf meiner Liste öffnete die Tür, und von
diesen kaufte weniger als die Hälfte eine der beiden Zeitungen. Andere
schimpften: Sie wüssten überhaupt nicht, wie sie auf diese Liste gekommen
wären, sie hätten das nur mal ausprobiert und würden jetzt jeden Sonntag
genervt et cetera pp. Für mich: business as usual.
Am Ende hatte ich einen immer noch vollen Bollerwagen, kaum Geld in der
Tasche und war durch die Zankerei an den Haustüren – als Zeuge hatte ich
gelernt, nicht so schnell klein beizugeben – hoffnungslos verspätet. Die
restlichen Zeitungen kippte ich in den Fluss, statt sie wieder an der
Abholstelle abzuliefern. Ich erinnere mich, dass es deswegen erheblichen
Ärger gab und meine Mutter Geld nachzahlen musste.
Aus Scham, Wut und inhaltlichen Gründen beendete ich meine Laufbahn im
Zeitungswesen. Vorläufig. Nicht ohne kurze Zeit später eine letzte Ladung
Wachttürme in den Fluss geschmissen zu haben – so wie Andy und ich es
bisher jeden Sonntag getan hatten.
27 Mar 2019
## AUTOREN
Hartmut El Kurdi
## TAGS
Bild am Sonntag
Wachtturm
Zeugen Jehovas
Schwerpunkt AfD
Europawahl
Tanzverbot
Sprachkrieg
Musikrezeption
Boris Palmer
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