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# taz.de -- Ein Jahr nach dem Mord in Kandel: Wenn der Mob sich durchsetzt
> Ein Mordfall in Kandel vor einem Jahr rüttelte die Medienlandschaft auf.
> Es zeigte sich, dass Redaktionen sich von Rassist*innen beeinflussen
> lassen.
Bild: Immer wieder gab es in Kandel Demonstrationen und Gegenkundgebungen. So a…
In einer kleinen Gemeinde im Südwesten soll am Donnerstag eines
schrecklichen Verbrechens gedacht werden. Im pfälzischen Kandel wollen sich
Rechtsextreme, Linke, Unpolitische und jene versammeln, die einfach nur
trauern wollen. Die Realität ist kompliziert, selbst in einer Kleinstadt.
Aber als der Mord in Kandel vor einem Jahr passierte, musste die Realität
für alle plötzlich ganz einfach sein.
Am 27. Dezember 2017 verschickte das Polizeipräsidium Rheinpfalz eine
Meldung über ein Tötungsdelikt in Kandel. Dort hatte offenbar ein
15-Jähriger eine Gleichaltrige in einem Supermarkt erstochen. Auf
juristischer Ebene ist der Fall seit September abgeschlossen: [1][Der Täter
wurde zu achteinhalb Jahren Haft wegen Mordes verurteilt], das Urteil ist
rechtskräftig. Für die öffentliche Debatte aber hatte das Ereignis
Auswirkungen, die ein Jahr später nicht zu den Akten gelegt werden können –
weil sie subtiler sind.
Denn die Ereignisse in Kandel markierten den Tag, an dem die Tagesschau
sich gegenüber einer wütenden Masse an Social-Media-Nutzerinnen
[2][rechtfertigte] – dafür, dass sie das Thema nicht aufgegriffen hatte.
Und das, obwohl es sich erstens um ein Thema handelte, das in die regionale
Polizeiberichterstattung gehörte, und zweitens, weil die Hauptsendung der
Tagesschau zu diesem Zeitpunkt noch nicht einmal ausgestrahlt worden war.
Doch die anonymen Stimmen im Netz forderten Schlagzeilen, weil der
Tatverdächtige Afghane war.
Es war das Ereignis, das zeigte, dass Redaktionen in Deutschland sich in
ihrer Arbeit von Rassist*innen beeinflussen lassen. Denn Kandel wurde zum
überregionalen Thema. Und das, obwohl viele andere sogenannte
„Beziehungstaten“ zur gleichen Zeit in den Spaltenmeldungen der
Lokalblätter verblieben waren. Als Beziehungstaten werden Gewalttaten
bezeichnet, deren Motiv mit einer Beziehung zusammenhängt, etwa Eifersucht
oder Demütigung – in Abgrenzung zu politisch motivierten Taten oder etwa
Raubmorden. Beziehungstaten werden in der Berichterstattung in der Regel
als weniger relevant eingestuft.
Kandel bestätigte, dass das Gespenst der „Willkommenskultur“ Redaktionen in
die Defensive gerückt hat. „Wir waren 2015 zu einseitig frohgemut“, lautet
rückblickend die Bewertung. [3][Auch Studien behaupten das], wenngleich mit
Einschränkung. Medien hätten das Narrativ „Wir schaffen das“ unkritisch
übernommen, hätten zu sehr an Geschichten von klatschenden
Begrüßungskommitees und interkulturellen Nachbarschaften gehangen und zu
wenig die Schwierigkeiten steigender Geflüchtetenzahlen betont.
Ob das so pauschal stimmt, darf bezweifelt werden und lässt sich nicht
belegen. Natürlich gab es von Anfang an die zweifelnden Stücke, die Texte,
die die Integrationsfrage stellten oder anmerkten, dass ein Sozialstaat,
der längst dabei ist, sich dramatisch zu verkleinern, sicher nicht einfach
so tausende Geflüchtete versorgen kann, jedenfalls nicht ohne eine
politische Vision. Aber war die Gesamt-„Stimmung“ der Berichterstatung
dennoch zu optimistisch? Das liegt letztlich in der Wahrnehmung jeder
Einzelnen.
Und doch hat die Angst, man konstruiere vom Newsdesk aus eine liberale
Multikulti-Scheinrealität, sich festgesetzt. Der Vorwurf, man schwinge sich
dazu auf, das Volk zu einem besseren zu erziehen, verunsichert. Also
begegnen Redaktionen dem durch die Konstruktion einer Gegenrealität.
Nachrichtenagenturen und einzelne Zeitungen bedienen das Bedürfnis nach
nationalistischer Einordnung damit, dass sie neuerdings die Herkunft von
[4][Tatverdächtigen immer nennen], was früher wegen des
Minderheitenschutzes unüblich war. Die Polizeidienste verfahren ähnlich,
wie die Badische Zeitung neulich recherchierte. Die Polizeidirektion Weil
am Rhein publiziert nämlich auf einmal [5][viel mehr Meldungen über
illegale Grenzübertritte], obwohl diese zurückgehen. Begründung: „Die
Anzahl der Pressemitteilungen wurde dem öffentlichen Interesse angepasst“.
Gegenrealität.
Das theoretische Argument, dass Medien immer ein Stück weit subjektiv
arbeiten und nicht erst seit drei Jahren, dass nicht eine Redaktion alleine
für Objektivität sorgen kann, sondern nur alle im Zusammenspiel miteinander
– dieses Argument ist wenig hilfreich, weil es denen in die Hände spielt,
die Realitätskonstruktion vorwerfen. Jenen gut organisierten Rassist*innen
also, die ihre Wunschrealität im Netz durchboxen.
Ähnliche Fälle wie Kandel hat es längst gegeben und wird es vielleicht
wieder geben. Niemand behauptet, dass nicht berichtet werden darf. Aber
groß? Wie überstürzt? Und für welches Publikum? Für Kandel braucht man sich
diese Fragen nicht mehr zu stellen. Kandel hat längst die Bedeutung, die es
nicht verdient.
27 Dec 2018
## LINKS
[1] /Urteil-wegen-Mordes-an-Ex-Freundin/!5529922
[2] /Berichterstattung-zum-Totschlag-in-Kandel/!5473781
[3] /Berichterstattung-ueber-Fluechtlingskrise/!5434399
[4] /Kolumne-Gehts-noch/!5470616
[5] https://www.badische-zeitung.de/die-weiler-bundespolizei-hat-anfang-2018-il…
## AUTOREN
Peter Weissenburger
## TAGS
Kandel
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Schwerpunkt Femizide
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