# taz.de -- Vor der Brexit-Abstimmung: Die (Un-)Einigkeit vor Westminster | |
> Seit Monaten stehen sich Befürworter und Gegner des Brexit am Rande des | |
> Parlaments die Füße platt. Sie wollen ins Fernsehen – jetzt erst recht. | |
Bild: Auf den Beinen, um Haltung zu zeigen: Brexit-Befürworter und ein in eine… | |
London taz | „Hupt einfach!“, so steht es auf dem Plakat von Beverly | |
DeLucy, Mutter vierer Kinder, die vor der Kreuzung nahe des britischen | |
Parlaments steht. Die dynamisch wirkende 42-Jährige mit weißer Wollmütze, | |
Sportanorak und Union-Jack-Handschuhen ist eine der Freiwilligen, die hier | |
für die Brexit befürwortende „Leave-Means-Leave“-Kampagne im Einsatz sind. | |
[1][Am Dienstag den 15. Januar entscheidet sich], ob das Parlament dem von | |
Premierministerin Theresa May und der EU ausgehandelten Austrittsvertrag | |
zustimmen wird. Im Vorfeld dieser Entscheidung, die eigentlich schon am 11. | |
Dezember hätte fallen sollen und die dann [2][von May verschoben wurde], | |
hat sich die Debatte in Großbritannien noch einmal stark polarisiert. Beide | |
Seiten, Menschen, die sich für den Verbleib in der EU einsetzen, und jene, | |
die einen harten Brexit fordern, machen mobil. Mit Plakaten stehen sie | |
überall im Land auf Marktplätzen, Fußgängerzonen – und vor dem britischen | |
Parlament. | |
Waren es bis vor Kurzem nur zwei große Gruppen, „Leave Means Leave“ auf | |
der Brexit-Seite und „People’s Vote“ auf der anderen, haben sich seit | |
Dezember britische „Gelbwesten“ dazugesellt. Sie füllen das Vakuum, das | |
Ukip hinterlassen hat. Jener Partei, die erfolgreich zum Brexit gedrängt | |
hatte und sich nach dem Referendum selbst zerlegte. | |
Anfang der vergangenen Woche kam es nun zu einem Zwischenfall im Bereich | |
zwischen dem College Green, einer kleinen Rasenfläche, die von TV-Sendern | |
für ihre Kameraaufbauten genutzt wird und dem Parlament auf der anderen | |
Straßenseite: Anna Soubry, eine bekannte konservative Abgeordnete und | |
EU-Befürworterin, wurde von einer Gruppe Männer bedrängt, als Nazi | |
beschimpft und dabei mit dem Handy gefilmt. Was eine Debatte sowohl über | |
Sicherheit als auch über Meinungsfreiheit zur Folge hatte. Mancher fühlte | |
sich an die Ermordung der Labour-Abgeordneten Jo Cox [3][durch einen | |
rechtsradikalen Brexit-Befürworter] wenige Tage vor dem Referendum | |
erinnert. | |
## Seit Anfang der Woche läuft die Aktion „Outrage“ | |
„Mit solchen Leuten habe ich nichts am Hut“, versichert DeLucy. Sie | |
versteht ihren Einsatz hier als „Einsatz zur Rettung der demokratischen | |
Werte des Landes“. Das ist der Londonerin sogar so wichtig, dass sie trotz | |
ihrer Kinder, ihres Magisterstudiums in europäischem Recht und ihres Jobs | |
als Leiterin einer Stiftung fast jeden Tag hier ist, und das seit Dezember: | |
„Verstehen Sie mich nicht falsch“, informiert sie ungefragt, „ich bin fü… | |
ja, ich liebe sogar Europa. Die Union war so lange hervorragend bis | |
Maastricht begann, die Nationen zu zerstören.“ | |
Die Abgeordneten im Haus hinter ihr bezeichnet sie als „knaves“, ein eher | |
altmodisches englische Wort, dass so viel wie Halunken bedeutet. Ein | |
„Brexit nur dem Namen nach“, das würde ihr und denen, die sie vertritt, | |
nicht zusagen, denn „das sei nicht das, wofür die Mehrheit des Volks | |
gestimmt hat“. Sie behauptet, dass normalerweise auch andere Europäer hier | |
mit ihr stünden, auch wenn gerade keine da seien. Endlich hupt auch ein | |
Auto. | |
An einer anderen Stelle steht Harry Todd, 27, bebrillt, übergewichtig und | |
mit blauer original „Leave-Means-Leave“-Jacke sowie entsprechender Fahne | |
ausstaffiert. Jemand macht neben ihm ein Selfie. Todd gibt sich als | |
Organisationsleiter für „Leave-Means-Leave“-Kampagnen zu erkennen. Seit | |
Anfang der Woche läuft die Aktion „Outrage“, ein Spiel mit dem Wort out, | |
das symbolisch für den Brexit steht, zugleich kann aber Outrage auch Frevel | |
bedeuten. | |
Mit Hilfe von Outrage sollen vor der Abstimmung im Parlament alle | |
Brexit-Befürworter so sichtbar wie möglich werden. Todd allerdings | |
überrascht nun mit dem Bekenntnis: „Ich wählte eigentlich ‚Remain‘.“ … | |
das, obwohl er aus Sunderland stammt, dem tiefsten Nordosten Englands, wo | |
61 Prozent der Bevölkerung „Leave“ wählten. Heute aber ist Todd für einen | |
extremen Brexit. Und wenn der nicht stattfindet? Dann drohe „die größte | |
konstitutionelle Krise aller Zeiten“, warnt er, bevor seine Stimme hinter | |
lautem Getrommel und Glockengeläut verschwindet. | |
## „No Deal, No Problem“ | |
Der Lärm entstammt einem alten, über 100 Jahre alten Holzwagen, den der | |
Ökonom David Waller und seine Frau Nancy heute aus Shropshire im Nordwesten | |
Englands hierher an den Rand des College Green gebracht haben. Am Wagen | |
sind eine Glocke und eine Trommel befestigt: „Die Glocke ist eine | |
symbolische Freiheitsglocke“, erklärt David Waller. „No Deal, No Problem�… | |
steht am Wagen, während Waller vom ehemaligen industriellen Glanz des | |
Landes schwärmt und an die Gefallenen der Weltkriege erinnert, die für die | |
Freiheit gekämpft hätten. | |
Die beiden sind erst zum zweiten Mal in London, um zu protestieren. Beim | |
ersten Mal, einem Brexit-Marsch, fanden sie sich unter Rechtsradikalen | |
wieder: „Das sind wir nicht, wir sind moderat und politisch in der Mitte“, | |
versichert David und blickt in die Richtung einer Gruppe von Leuten in | |
gelben Schutzwesten. | |
„Schaut euch dieses Video an“, fordert eine ältere Frau in der Gruppe die | |
anderen auf. Für ihr Alter hat sie einen harten Look. Sie ist an die 60, | |
trägt kurze Haare, eine Bomberjacke, ihre Stimme ist tief. Auf ihrem Handy | |
läuft die Szene mit Soubry in Zeitlupe. „Es sieht so aus, als ob einer der | |
Männer einem anderen was zusteckt“, sagt sie. „Man hat uns das mit dem | |
Nazizeug angehängt, durch Leute die absichtlich provozierten, um uns einen | |
schlechten Namen zu geben“ ergänzt ein dicklicher Mann, Mitte 50, auf | |
dessen gelber Weste ein großer Union Jack zu sehen ist. | |
Keiner von den etwa zehn Versammelten möchte namentlich in der Presse | |
erwähnt werden: „Wir trauen euch nicht mehr“, sagen sie. Samstag wollen die | |
„Gelbwesten“ sich zum ersten Mal in Tausendschaften vor dem Parlament | |
versammeln. „Es geht uns nicht nur um den Brexit, sondern auch um | |
Gerechtigkeit, um Kumpels, die zu Unrecht im Knast sind, um Wohnungen für | |
Veteranen statt für Flüchtlinge. Aber Sie werden das eh nicht in ihrer | |
Zeitung schreiben.“ | |
## Man grüßt sich | |
Vielleicht zehn Meter von ihnen entfernt steht an der Absperrung zum | |
Medienbereich Steven Bray, 49. Er gehört nicht zu den „Gelbwesten“, sondern | |
trägt einen blauen Zylinderhut mit den Worten „Stop Brexit“ und eine mit | |
gelben Sternen versehene britischen Fahne. | |
Bray ist das bekannteste Gesicht der EU-Befürworter*innen. Bei | |
Fernsehübertragungen stellt sich Bray seit siebzehn Monaten beständig in | |
den Hintergrund. Er stammt aus Devon im Westen Englands. Durch seine | |
Präsenz, er lebt momentan bei Unterstützern in London, entstand die von ihm | |
gegründete Bewegung Sodem (Stand of Defiance European Movement). Warum all | |
die Mühe? „Es war mir einfach sehr wichtig, dass die Stimme der Remainer | |
präsent ist.“ | |
Er bekommt viel Lob, wird aber auch beschimpft. Dennoch kenne er viele von | |
der anderen Seite, man grüße sich. Nur die Neuen hätten für Ärger gesorgt. | |
Er zeigt auf seine kleine Kamera, die an seiner Jacke steckt und alles vor | |
ihm aufnimmt. „Die neuen Rechtsradikalen sind darauf aus, sich mit uns | |
anzulegen.“ | |
Auch Sue, 57, die neben ihm steht und versucht, mit Fahnen und blauen | |
Luftballons in den Hintergrund von TV-Übertragungen am College Green zu | |
gelangen, trägt eine kleine Körperkamera. Die ehemalige Krankenschwester, | |
die aus Sicherheitsgründen ihren Nachnamen nicht nennen möchte, erzählt, | |
wie ihr Vater einst in Frankreich im Sterben lag und der Familie aufgrund | |
der europäischen Abkommen keine Kosten entstanden. Dieser Gedanke bestärke | |
sie – und auch, dass „mein Vater gegen die Nazis im Zweiten Weltkrieg | |
kämpfte und sich in Großbritannien tapfer gegen Faschisten stellte“. Sie | |
ist fast täglich hier, obwohl sie nicht aus London kommt. Auch sie logiert | |
bei Freunden. | |
## „Wir sind oft zu freundlich in England“ | |
So wie Ruth Fryer, 66, eine ehemalige Englischlehrerin, die fast so lange | |
wie Steven Bray hier vor Ort ist. „Das war alles nicht geplant, sondern | |
Zufall. Ich sagte nach dem Referendum: Es ist nicht das ganze verdammte | |
Volk, das für den Brexit gestimmt hat. Deshalb bin ich hier.“ Hat sie hier | |
vor dem Parlament Neues gelernt? „Ja, wir sind oft zu freundlich in | |
England. Es gibt Momente, etwa wenn wir von den Rechtsgerichteten angemacht | |
werden, wo man standhaft und klar sein muss.“ | |
Gegen Nachmittag steigt die Anzahl der Menschen, die vor dem Parlament | |
zusammenkommen. Man muss sehr genau hinschauen, um erkennen zu können, zu | |
welcher Seite sie gehören. Und nur in einer Sache sind sich alle einig: Mit | |
dem Absegnen eines May-Deals wäre am Dienstag kaum jemand zufrieden. | |
11 Jan 2019 | |
## LINKS | |
[1] /Vor-der-Brexit-Abstimmung-im-Unterhaus/!5561208 | |
[2] /Verschobene-Abstimmung-im-Parlament/!5558243 | |
[3] /Moerder-der-britischen-Abgeordneten-Cox/!5356365 | |
## AUTOREN | |
Daniel Zylbersztajn | |
## TAGS | |
Schwerpunkt Brexit | |
Schwerpunkt Brexit | |
Großbritannien | |
EU | |
Theresa May | |
Lesestück Recherche und Reportage | |
Schwerpunkt Brexit | |
Schwerpunkt Brexit | |
Schwerpunkt Brexit | |
Schwerpunkt Brexit | |
Gelbwesten | |
Universal Credit | |
Schwerpunkt Brexit | |
Schwerpunkt Flucht | |
Schwerpunkt Brexit | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Kommentar Brexit-Abstimmung: Der Deal ist faktisch tot | |
Das britische Unterhaus hat Mays Brexit-Deal abgelehnt. Die Botschaft | |
dahinter ist klar: So nicht! Möglicherweise ist ein harter Ausstieg doch | |
die bessere Lösung. | |
Wirtschaftliche Folgen eines harten Brexit: Nebel über dem Ärmelkanal | |
Ein No-Deal würde für deutsche Firmen Milliardenzahlungen an Zöllen | |
bedeuten. EU-Beschäftigte müssten um ihre Absicherung fürchten. | |
Abstimmung im Parlament in London: No Deal? No Brexit? No May! | |
Das Unterhaus kann den Brexit-Vertrag billigen oder beerdigen. Wie nach | |
einer Ablehnung ein Austritt ohne Deal verhindert werden kann, ist offen. | |
EU-Abgeordnete richten Appell an Briten: Bitte bleibt! | |
Mehr als hundert EU-Parlamentarier bitten die Briten in einem Brief, in der | |
Union zu bleiben. Brüssel bereitet sich offenbar auf eine Verschiebung des | |
Austrittsdatums vor. | |
Gelbwesten in Großbritannien: Yellow Vests statt Gilets Jaunes | |
Zwei Ehrengäste der Protestbewegung aus Frankreich sollten eine linke | |
Kundgebung schmücken. Dann kamen Rechte – ebenfalls mit gelben Westen. | |
Staatliche Leistungen und Brexit: Neues Sozialsystem ist lahmgelegt | |
Das kontroverse „Universal Credit“ soll Großbritanniens Sozialleistungen | |
bündeln. Doch es hakt mal wieder an vielen Stellen. | |
Brexit-Debatte im britischen Parlament: Weitere Niederlage für Theresa May | |
Die britischen Abgeordneten verschärfen die Regeln für das Szenario eines | |
No-Deal-Brexits. Es ist eine Machtdemonstration gegenüber Premierministerin | |
May. | |
Flüchtlinge im Ärmelkanal: Britische Regierung will Patrouille | |
Die britische Regierung will Flüchtlinge, die aus Frankreich kommen, an der | |
Einreise hindern. Der Ärmelkanal soll überwacht werden. | |
Britische Atomanlagen nach dem Brexit: Wem gehört das Plutonium? | |
Bislang sind zum Brexit noch fast alle Fragen offen. Auch die nach der | |
Verantwortung für die Nuklaranlagen in Großbritannien. |