| # taz.de -- 100 Jahre Friedenskonferenz 1919: Die zähe Neuordnung der Welt | |
| > Kampf für Gleichstellung: Als 1919 in Paris über den Frieden verhandelt | |
| > wurde, ging es um globale Fragen, die uns noch heute beschäftigen. | |
| Bild: Dass mit dem Völkerbund eine internationale Staatengemeinschaft geschaff… | |
| Anfang 1919 wurde Paris zur Hauptstadt der Welt. Die 27 Siegermächte | |
| reisten mit 1.000 Delegierten zur Friedenskonferenz an, dazu kamen, alles | |
| in allem, 10.000 Experten. Der britische Diplomat Harold Nicolson schrieb | |
| euphorisch, man fahre nach Paris, um „ewigen Frieden“ zu schaffen. | |
| Auch ohne diese pathetische Aufladung handelte es sich bei der | |
| Friedenskonferenz um eine Mammutaufgabe, denn unter hohem Zeitdruck und vor | |
| dem Hintergrund von Interessenkonflikten zwischen den vier | |
| Hauptsiegermächten Frankreich, Großbritannien, Italien und den Vereinigten | |
| Staaten [1][sollte der Krieg beendet], Europa neu geordnet und der Frieden | |
| dauerhaft gesichert werden. | |
| Vor allem drei Verhandlungspunkte machten die Pariser Konferenz zu einem | |
| globalen Ereignis: die Gründung des Völkerbundes, die Einrichtung der | |
| Internationalen Arbeiterorganisation (ILO) und die Aufteilung des deutschen | |
| Kolonialbesitzes in Afrika und Asien. Damit berührte die Friedenskonferenz | |
| Fragen, die bis in unsere Gegenwart hineinreichen – von globalen | |
| Arbeitsrechten, der Handlungsfähigkeit der Vereinten Nationen bis zum Erbe | |
| des europäischen Kolonialismus. | |
| In Paris sollte 1919 die Welt neu geordnet werden, doch am | |
| Verhandlungstisch saßen nur die Abgesandten souveräner Siegermächte. Dabei | |
| hoffte auch die Bevölkerung der Kolonien auf das von Woodrow Wilson | |
| geforderte „Selbstbestimmungsrecht der Völker“ und verlangte, die eigenen | |
| Geschicke mitbestimmen zu können. | |
| Dass mit dem Völkerbund eine internationale Staatengemeinschaft geschaffen | |
| wurde, war ein herausragendes Novum. Hauptziel der Organisation war es, | |
| Konflikte künftig nicht Waffengewalt zu lösen, sondern sie zu | |
| entschleunigen und im besten Fall durch Vermittlung zu beseitigen. | |
| Streitigkeiten mit anderen Mitgliedstaaten sollten künftig vor dem | |
| Völkerbund verhandelt werden, und bevor ein Staat in den Krieg ziehen | |
| konnte, war ein Schiedsspruch einzuholen und eine Frist zu wahren. Hielt | |
| ein Mitglied sich nicht daran, wurde dies als Aggression gegen den gesamten | |
| Bund verstanden, Maßnahmen wie wirtschaftlicher Boykott oder militärische | |
| Intervention wurden möglich. | |
| ## Machtloser Völkerbund | |
| Doch vor allem zwei Begebenheiten schwächten die neue internationale | |
| Organisation von Beginn an: Erstens wurde den besiegten Ländern eine | |
| Mitgliedschaft zunächst verweigert, zweitens traten die Vereinigten Staaten | |
| dem Bund gar nicht erst bei. Dieser wurde so zu einem Bund der europäischen | |
| Siegerstaaten von geringer Schlagkraft. Das hehre Ansinnen, Krieg dauerhaft | |
| zu kriminalisieren und die territoriale Integrität sowie die politische | |
| Unabhängigkeit der Mitgliedstaaten zu sichern, war nicht durchsetzbar. | |
| Bereits unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg kam es zu kriegerischen | |
| Konflikten in Ost- und Südosteuropa, 1922 sanktionierte der Völkerbund im | |
| Vertrag von Lausanne Zwangsmigration und ethnische Säuberung. Und weder | |
| gegen die Besetzung der Mandschurei durch sein Mitglied Japan im Jahr 1931 | |
| noch gegen die Annexion Abessiniens durch das faschistische Italien konnte | |
| der Völkerbund erfolgreich vorgehen. | |
| Auch die Zukunft der deutschen Kolonien und des zerfallenden Osmanischen | |
| Reiches wurde in der Völkerbundakte geregelt. Deutschland sollte seine im | |
| Krieg von den Alliierten besetzten Kolonien nicht zurückerhalten. Japan und | |
| die Siegermächte erhoben Anspruch auf diese Gebiete, doch Wilson setzte | |
| durch, sie der Aufsicht des Völkerbundes zu unterstellen. Der | |
| südafrikanische Ministerpräsident Jan Smuts erkannte allerdings in der | |
| Mandatsträgerschaft des Völkerbundes eine Möglichkeit, die weitere | |
| Beherrschung vor allem der afrikanischen Kolonien sicherzustellen, und | |
| ersann die Einteilung der Territorien in A-, B- und C-Mandate, die den | |
| „Entwicklungsstand“ des jeweiligen Gebiets und die Fähigkeit zur | |
| Selbstregierung abbilden sollten. | |
| Welcher Kategorie ein Gebiet zugeordnet wurde, war entscheidend für die | |
| qualitative Veränderung von der Kolonialherrschaft zur Treuhänderschaft. So | |
| wurde Namibia, das Südafrika gern annektieren wollte, in Paris zu einem | |
| C-Mandat und damit als unfähig zur Selbstregierung eingestuft – mit lange | |
| andauernden Folgen: Erst 1990 wurde das Land ein unabhängiger Staat, und | |
| damit endete zugleich sein Apartheidregime. | |
| ## Aufmerksamkeit für die Lage der Schwarzen | |
| Mit der Einführung der Mandate änderte sich die Kolonialherrschaft eher | |
| ideell als konkret. Zumindest auf dem Papier war es nun die Aufgabe der | |
| Mandatsträger, sich um das Wohlergehen und die „Entwicklung“ der | |
| Bevölkerung zu kümmern. Darüber mussten sie der Mandatskommission des | |
| Völkerbundes regelmäßig Bericht erstatten. Sie trugen somit eine | |
| vertraglich festgeschriebene Verantwortung, an der sie sich theoretisch | |
| messen lassen mussten. Bewohner*innen der Mandatsgebiete konnten außerdem | |
| Petitionen und Beschwerden über Missstände an dieses Gremium senden. | |
| Dennoch hatte die Kommission kaum Möglichkeiten, auf die tatsächliche | |
| Regierung der Mandatsgebiete Einfluss zu nehmen. Als es 1922 im heutigen | |
| Namibia zu Aufständen kam, die von Südafrika gewaltsam niedergeschlagen | |
| wurden, konnte weder die Mandatskommission noch der Völkerbundrat das | |
| Minimalziel erreichen, dass Südafrika Fehler im Umgang mit der Rebellion | |
| zugab. Dennoch war diese Regelung der Beginn vom Ende des Kolonialismus. | |
| Denn mit dem Prozess der Verrechtlichung setzte ein Umdenken ein: | |
| Kolonialherrschaft musste nun durch konkrete Projekte wie wirtschaftliche | |
| Entwicklung und bessere Bildungschancen legitimiert werden, eine nebulöse | |
| „Zivilisierungsmission“ reichte nicht länger aus. Die Kolonialherrschaft | |
| galt nun, wenngleich vage, als zeitlich begrenzt, das Thema | |
| Selbstbestimmung war auch aus der kolonialisierten Welt nicht mehr | |
| wegzudenken, vielerorts formierten sich antikoloniale Bewegungen. | |
| Für die Interessen der afrikanischen Bevölkerung gab es allerdings nur | |
| einen Platz am Katzentisch der Friedenskonferenz, in Gestalt des | |
| Panafrikanischen Kongresses, der im Februar 1919 in Paris stattfand. W. E. | |
| B. Du Bois, einer der führenden afroamerikanischen Intellektuellen, wollte | |
| mit diesem Forum Aufmerksamkeit für die Lage der Schwarzen in aller Welt | |
| wecken. | |
| Den Kongress erklärte er zur Stimme Afrikas auf der Pariser | |
| Friedenskonferenz. Im Namen von „Gerechtigkeit und Menschlichkeit“ | |
| forderten die Delegierten eine bessere Rechtsstellung der Bevölkerung der | |
| Kolonien, und sie verlangten Maßnahmen gegen Ausbeutung, Enteignung, | |
| Zwangsarbeit ebenso wie die Abschaffung von Körperstrafen. Kinder sollten | |
| das Recht auf Schulbildung bekommen. | |
| ## Eine Kommission für Frauenfragen? | |
| Die afroamerikanische Frauenrechtlerin Addie Waites Hunton forderte zudem, | |
| an der Umgestaltung der Welt müssten Frauen ihren Anteil haben. Frauen, die | |
| in vielen europäischen Ländern seit Kurzem das Wahlrecht besaßen, hatten | |
| andererseits vergeblich auf einen Platz am Verhandlungstisch gedrängt; auch | |
| sie wurden an der Neuordnung der Welt nicht beteiligt. Die Internationale | |
| Frauenwahlrechtsorganisation wollte das Frauenwahlrecht in den Pariser | |
| Verträgen verankert wissen, doch der amerikanische Präsident erklärte das | |
| Wahlrecht zum nationalen Thema – das bedeutete das Aus für eine Diskussion | |
| in Paris. | |
| Nicht einmal auf Wilsons Vorschlag, eine Kommission für Frauenfragen | |
| einzurichten, die den Frauenvereinen beratend zur Seite hätten stehen | |
| können, wollten sich seine Konferenzpartner einlassen: Frieden zu | |
| verhandeln sei nicht die Angelegenheit von Frauen, befand der britische | |
| Außenminister Balfour. Und dabei blieb es. | |
| Die international organisierten Pazifistinnen wollten sich damit nicht | |
| abfinden. Im Mai 1919 luden sie nach Zürich zum Frauenfriedenskongress. Für | |
| die Mitglieder der Internationalen Frauenliga für Frieden und Freiheit | |
| (IFFF) war klar: Ohne die Beteiligung von Frauen sei ein dauerhafter Friede | |
| nicht möglich. Der Kongress unter Vorsitz der späteren | |
| Friedensnobelpreisträgerin Jane Addams forderte umfassende | |
| gesellschaftliche Reformen im Rahmen der Friedensverhandlungen: Die | |
| rechtliche und staatsbürgerliche Gleichstellung von Mann und Frau sollte in | |
| Paris gesichert werden, Ehefrauen sollten Rechtspersonen bleiben und die | |
| Verfügungsgewalt über ihr Vermögen behalten, Mütter das Recht auf | |
| Vormundschaft erhalten, Familienarbeit sollte anerkannt werden und gleicher | |
| Lohn für gleiche Arbeit gelten. | |
| Um den Frieden dauerhaft zu sichern, sollten alle Staaten Mitglied des | |
| Völkerbundes werden können. Scharf kritisierten die Delegierten den Vertrag | |
| von Versailles, denn er sei nicht dazu geeignet, den Frieden dauerhaft zu | |
| sichern. Sie hielten Abrüstung für den besseren Weg als wirtschaftliche | |
| Destabilisierung und Gebietsabtretungen, denn beides würde vor allem eines | |
| bedeuten: künftige Kriege. Auch der Kolonialpolitik wollten sie ein | |
| baldiges Ende bereiten. Alle Kolonien sollten Mandatsgebiete des | |
| Völkerbundes und damit auf absehbare Zeit unabhängig werden. | |
| ## Kampf für universale Rechte | |
| Die Forderung nach „Rassengleichheit“, die ihnen die einzige | |
| afroamerikanische Teilnehmerin, Mary Church Terrell, ins Stammbuch schrieb, | |
| sollte Arbeitsgrundlage der nationalen Zweige der IFFF werden. Erst wenn | |
| Menschen nach ihren inneren Werten beurteilt würden, wenn „Rasse, Klasse, | |
| Religion“ bedeutungslos wären, sei ein dauerhafter Friede möglich, betonte | |
| Church Terrell. | |
| Damit formulierte sie nicht nur das Programm eines intersektionalen | |
| Feminismus avant la lettre. Bereits in der Zwischenkriegszeit bildeten die | |
| Aktivistinnen der IFFF eine Identität aus, die sich auf den Kampf für | |
| universale Rechte stützte. Das hatte 1919 geringe Auswirkungen, doch ihr | |
| hartnäckiges Bestreben, Nationalismus zu überwinden und eine globale | |
| Sichtweise einzufordern, war wegweisend für die Weltordnung nach dem | |
| Zweiten Weltkrieg und ist es bis heute. | |
| Kaum eine Forderung der Außenseiter*innen der Pariser Friedenskonferenz hat | |
| an Gültigkeit verloren. Für die meisten von ihnen gab es einen Zusammenhang | |
| von Gerechtigkeit und Friedenssicherung. Geblieben ist der Kampf um gleiche | |
| und gerechte Teilhabe und Repräsentation für Frauen, People of Color und | |
| LGBTQ, geblieben ist die Forderung nach Equal Pay, geblieben ist die | |
| globale Dimension dieser Themen. Blickt man zurück auf 1919, wird deutlich: | |
| Der Kampf für Gerechtigkeit und um Gleichberechtigung war immer zäh. Auch | |
| im Jahr 2019 erfordert er noch einen langen Atem. | |
| 6 Jan 2019 | |
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| ## AUTOREN | |
| Birte Förster | |
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