# taz.de -- Essay Folgen des Ersten Weltkriegs: Hundert Jahre nach Versailles | |
> 1919 scheiterte in Versailles die Vision einer demokratischen, gerechten | |
> Welt. Liberalismus und Rassismus gingen einher. Und heute? | |
Bild: Wahrzeichen der USA und Sinnbild der Freiheit | |
Ein junger Mann, der Blick forschend. Er trägt eine Melone, um den Hals | |
locker einen Schal geworfen. Eine urbane Figur, fast ein Dandy. Die | |
Fotografie, 1919 in Paris aufgenommen, zeigt Nguyen Sinh Cung, Ende | |
zwanzig, geboren in dem französisch besetzten Indochina, dem heutigen | |
Vietnam. Er hat als Matrose, Koch, Gärtner und Fotograf gearbeitet. | |
Im Juni 1919 beginnt seine Karriere als Politiker. Er ist Mitverfasser von | |
acht vorsichtigen Forderungen an die französischen Kolonialherren: mehr | |
Rechte für die Vietnamesen, das Ende willkürlicher Strafen, Amnestie für | |
politische Gefangene. Die Unabhängigkeit von Frankreich steht nicht auf der | |
Agenda. | |
Nguyen Sinh Cung, damals Tellerwäscher, soll es mit Tricks bis in das | |
Vorzimmer des US-Präsidenten Woodrow Wilson geschafft haben, der 1919 in | |
Paris an den Friedensverhandlungen teilnimmt. | |
Im deutschen Gedächtnis markiert [1][Versailles] eine Station auf dem Weg | |
in die Katastrophe von 1933. Aber Versailles war mehr: ein euphorischer | |
Aufbruch. Die feudalen Imperien, Habsburg, das Kaiserreich, das Osmanische | |
Reich und der Zarismus waren zusammengebrochen. | |
Die Zukunft schien den liberalen Demokratien zu gehören. Im Frühjahr 1919 | |
glaubten viele an eine Zeitenwende, so wie 1989, als Francis Fukujama den | |
globalen Sieg der liberalen Marktgesellschaften analysierte. | |
## Der erste globale Gipfel | |
Die Hoffnungen fokussierten sich 1919 auf Wilson, den ersten amtierenden | |
US-Präsidenten, der ins Ausland reiste und nicht nur in Europa wie ein | |
Heilsbringer gefeiert wurde. Denn Wilson versprach die Selbstbestimmung der | |
Völker, „ein unerlässliches Handlungsprinzip, das die Staatsmänner von | |
jetzt an nur zu ihrem Verderben ignorieren werden“. | |
Diese Ansage elektrisierte die Klugen, Wachen am Rand der Imperien. Aus | |
Korea und Indien, China und arabischen Ländern, aus Afrika und dem britisch | |
besetzten Irland strömten Aktivisten nach Paris. | |
Das kaum Denkbare, das Ende der kolonialen Regime, schien plötzlich in | |
Reichweite. Wilsons Formel vom Recht auf Selbstbestimmung wurde in | |
Tausenden von Petitionen, Erklärungen, Manifesten und Memoranden zitiert. | |
Auch die Zeit der klandestinen imperialen Geheimdiplomatie des 19. | |
Jahrhunderts schien vorbei zu sein. Versailles war der erste globale | |
Gipfel, der in Schanghai, Bombay, Kairo und Seoul verfolgt wurde. Fast eine | |
Million indische Soldaten und fast eine halbe Million aus französischen | |
Kolonien hatten für die Entente auf den Schlachtfeldern des Weltkrieges | |
gekämpft. | |
## US-Präsident enttäuschte alle Erwartungen | |
Auch das signalisierte eine Zeitenwende. Die imperialen Zentren waren | |
auf die Peripherie angewiesen – die betonierten Machtverhältnisse bekamen | |
Risse. Die USA waren selbst aus einer antikolonialen Revolte entstanden und | |
symbolisierten, anders als die europäische Kolonialmächte, den guten, | |
freien Westen. | |
Der Versailler Vertrag, beteuerte Wilson, würde „garantieren, dass kein | |
Volk mehr von einer stärkeren Macht beherrscht und ausgebeutet wird“. Der | |
US Präsident verkörperte, so der ägyptische Intellektuelle Mohammed Hussein | |
Heikal 1924, die „Hoffnung auf das Ende des Konflikts zwischen dem | |
Imperialismus und dem Selbstbestimmungsrecht der Völker“. | |
Einem 25-jährigen Intellektuellen in der chinesischen Provinz Huan kamen im | |
Frühjahr 1919 Zweifel. Wilson in Versailles, schrieb so Mao Tse-tung, | |
erinnere „an eine Ameise in einer heißen Bratpfanne“. | |
Die USA stiegen in Versailles zur globalen Macht auf. Sie proklamierten | |
Gleichheit und die universelle Geltung der Menschenrechte – und demontieren | |
diese im gleichen Moment. Wilson enttäuschte alle Erwartungen. | |
## Versailles „wird Geschichte der Welt verändern“ | |
Jawaharlal Nehru, später indischer Premierminister, notierte 1919, dass | |
„Wilsons Worte nur Worte geblieben sind“. Der Ägypter Saad Zaghlul, später | |
Premierminister in Kairo, wollte nach Versailles reisen, um für die | |
Unabhängigkeit Ägyptens zu werben. Die Briten verboten es, unterstützt von | |
den USA. In Kairo brach deshalb die Revolution von 1919 gegen die Briten | |
aus. | |
In Korea rebellierten Tausende gegen die japanischen Kolonialherren, die | |
den Aufstand blutig nieder schlugen. Die Briten richteten im April 1919 in | |
Indien ein Massaker an, um Proteste gegen das Kriegsrecht, die | |
Rowlatt-Gesetze, zu ersticken. | |
In China brachen am 4. Mai 1919 Proteste los, weil die Siegermächte die | |
bislang von den Deutschen besetzte Kolonie Shandong nicht an China | |
zurückgaben, sondern Japan, der imperialen Macht in Asien, zuschlugen. | |
Die 4.-Mai-Bewegung, ein impulsiver Aufstand, an dem sich Angestellte, | |
Studenten und Arbeiter beteiligten, markierte für China den Beginn einer | |
neuen Erzählung. Die gebildeten Städter wandten sich vom Westen als Ideal | |
ab. Der Intellektuelle Liang Qichao urteilte 1919 scharfsinnig, dass die | |
Demütigung Chinas in Versailles „die Geschichte des asiatischen Kontinents | |
und vielleicht der gesamten Welt verändern wird“. | |
## Die Entdeckung des Marxismus | |
Ägypten, Korea, Indien, China: Es war überall das gleiche Bild. Versailles | |
führte den Selbstwiderspruch des liberalen, progressiven Westens vor Augen, | |
der sich nur rhetorisch vom Kolonialismus unterschied. Die USA führten den | |
Universalismus im Mund, der sich von dem europäischen Imperialismus | |
abzugrenzen schien. | |
Doch Wilson war ein Anhänger der White Supremacy, der beim | |
Selbstbestimmungsrecht Tschechen oder Polen im Auge hatte – nicht Koreaner | |
oder Senegalesen, die aus seiner Sicht minderwertige oder zumindest von den | |
überlegenen Weißen noch zu erziehenden Kulturen waren. Der liberale | |
Globalismus war mit dem Rassismus verschwägert. | |
Aus der Verbitterung über die Bigotterie des Westens wuchs in Asien etwas | |
heran, was noch 1917 ausgeschlossen schien. Städtische Intellektuelle | |
begeisterten sich für eine linkshegelianische, in jüdischer Eschatologie | |
wurzelnde Erlösungsutopie, die für den europäischen Kapitalismus entworfen | |
worden war und mit der sozialen Realität im bäuerlichen China und den | |
geistigen Traditionen Asiens denkbar wenig zu tun hatte: [2][den | |
Marxismus]. | |
Chen Duxiu, Dekan an der Universität in Peking, war vor Versailles ein | |
überzeugter Anhänger der Idee, dass China dem Westen nacheifern und ein | |
weltoffenes, liberales Land werden müsse. „Mr Democrazy'“ und „Mr Scienc… | |
waren Leuchtfiguren seines Denkens. | |
Duxiu war in der 4.-Mai-Bewegung aktiv und wurde, abgestoßen vom Westen, | |
1921 der erste Generalsekretär der KP Chinas. Nicht nur Mao Tse-tung, der | |
1919 noch westlichen Ideen zugeneigt war, erschien der Marxismus als das | |
attraktivere Modell, das der Peripherie einen eigenständigen Weg in die | |
Moderne versprach. | |
## Der Anfang vom Ende der USA | |
Der US-Historiker Erez Manela hat in „The Wilsonian Moment“ die Wellen der | |
Enttäuschung beschrieben, die Versailles auslöste. „Die ‚Revolte gegen den | |
Westen‘, die nach 1919 entstand, entstand aus den Fehlern des Friedens, aus | |
der Unfähigkeit, den Imperialismus zu beseitigen und die Kolonisierten zu | |
gleichberechtigten Mitgliedern der internationalen Gesellschaft zu machen.“ | |
Der globale Liberalismus ging in dem Augenblick, in dem er in der Gestalt | |
von Woodrow Wilson die Bühne betrat, moralisch bankrott. | |
Auch Nguyen Sinh Cung, der 1919 vergeblich versucht hatte, Wilson für | |
Indochina zu interessieren, wandte sich nach Versailles der einzigen Macht | |
zu, die es mit dem Antikolonialismus ernst meinte: der Sowjetunion. Bekannt | |
wurde er unter dem Pseudonym Ho Chi Minh. „Es war der Patriotismus, nicht | |
der Kommunismus, der mich veranlasste, an Lenin zu glauben“, erklärte er | |
später. | |
Es ist eine ironische Pointe, dass Ho Chi Minh und der Vietnamkrieg fünfzig | |
Jahre nach Versailles zum Symbol für den Anfang vom Ende der USA als global | |
dominanter Macht wurden. | |
Die USA waren 1919 und auch 1969 unfähig, zu begreifen, dass die nationalen | |
Befreiungsbewegungen weniger von einem antikapitalistischen als von einem | |
antikolonialen Impuls angetrieben wurden – dem fiebrigen Wunsch nach | |
Unabhängigkeit und einer Existenz, die mehr war als nur Peripherie des | |
Westens. | |
## Zutritt zur Arena der Weltpolitik | |
Versailles war ein weltumspannendes diplomatisches Ereignis – ein Vorschein | |
des globalen Dorfs, in dem wir 2019 leben. Der Verrat des Westens 1919 | |
hatte zwei Effekte. Nach Versailles schwand in den antikolonialen | |
Bewegungen der Einfluss liberaler Kräfte, die den Kolonialismus durch | |
beharrliche Reformen beenden wollten. Der Antikolonialismus nach Versailles | |
war nationalistischer, antiwestlicher, radikaler. | |
Der Aufschwung der doktrinären kommunistischen Bewegungen in Asien, | |
deren spätere Verbrechen denen des Kolonialismus nicht nachstanden, wäre | |
ohne die Doppelmoral der USA in Versailles weniger eruptiv verlaufen. Nehru | |
war sogar der Überzeugung, dass erst Wilsons Desaster „das Gespenst des | |
Kommunismus“ in Asien populär gemacht hatte. | |
Der zweite Effekt war: Die Unterdrückten scheiterten 1919 in Versailles | |
zwar auf ganzer Linie – aber sie hatten die Arena der Weltpolitik betreten. | |
Das Bewusstsein, dass die Kolonisierten Rechte hatten, war nicht mehr aus | |
der Welt zu schaffen. Durch Versailles entstand, katalysiert durch den | |
Völkerbund, jene Weltöffentlichkeit, an die Unterdrückte moralische und | |
politische Appelle adressieren konnten. | |
Hundert Jahre später sind die Forderungen von damals erfüllt. Rassismus ist | |
weltweit geächtet. In den UN sind formal alle Staaten gleichberechtigte | |
Mitglieder der internationalen Gemeinschaft. Das Selbstbestimmungsrecht der | |
Völker ist ein Axiom der UN und ein zwar nicht überall durchgesetztes, aber | |
allgemein anerkanntes Recht. | |
## Heute so ungelöst wie 1919 | |
Doch im Rückblick erkennt man nicht nur Erledigtes. Die westlichen | |
Metropolen verfügen heute, nicht viel anders als vor hundert Jahren, über | |
die (Markt-)Macht, Rohstoffe von den Rändern her zu importieren und | |
Umweltschäden zu exportieren. Die Weltökonomie ist liberalisiert, so wie es | |
Wilson 1919 gefordert hatte – und sie ist extrem produktiv. Den Bonus aber | |
streichen die Metropolen und die Mittelschichten in einigen aufstrebenden | |
Staaten ein. | |
Den Preis zahlt, trotz Chinas ökonomischen Aufstiegs, nach wie vor die | |
Mehrheit der Weltbevölkerung, die von den Gewinnströmen abgeschnitten ist, | |
der der Zugang zu den Metropolen versperrt ist und die umso heftiger von | |
Kosten des globalen Liberalismus wie dem Klimawandel betroffen ist. | |
Der liberale Globalismus war 1919 das Versprechen, dass der Fortschritt | |
allen zugutekommen würde. In der Praxis ist auch 100 Jahre später ein | |
Großteil von diesem Fortschritt ausgeschlossen. Nicht zeitweise, nicht, | |
weil noch Entwicklungsschritte zu absolvieren wären, sondern strukturell | |
und dauerhaft. | |
Wir müssen die liberalen Demokratien, Gewaltenteilung und Rechtsstaat | |
verteidigen. Denn sie schützen vor Barbarei und Diktatur. Doch ein | |
zentraler Widerspruch des liberalen Globalismus ist heute so ungelöst wie | |
1919. Seine Versprechen sind an alle adressiert, aber nur für eine | |
Minderheit einlösbar. Das ist der blinde Fleck des Westens. | |
6 May 2019 | |
## LINKS | |
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## AUTOREN | |
Stefan Reinecke | |
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