# taz.de -- Experten-Experte über Experten: „Spezialwissen übersetzen“ | |
> In unübersichtlichen Zeiten vertrauen wir gern auf Experten. Nur: Wie | |
> wird man überhaupt einer? Wir haben beim Historiker Caspar Hirschi | |
> nachgefragt. | |
Bild: Mit Superman-Cap und kurzen Hosen neben der Bundeskanzlerin: Ijad Madisch… | |
taz am wochenende: Herr Hirschi, Sie sind Experte für Experten. Was macht | |
jemanden zum Experten? | |
Caspar Hirschi: Fachkompetenz und Unabhängigkeit. Außerdem sind Experten | |
Antwortgeber. | |
Was ist der Unterschied zwischen einer Spezialistin und einer Expertin? | |
Jede Expertin muss Spezialistin sein, aber nicht jede Spezialistin ist | |
Expertin. Expertin wird man erst, wenn man von Laien gebeten wird, sein | |
Spezialwissen zur Verfügung zu stellen. Experten übersetzen Spezialwissen | |
für Nichtspezialisten. | |
Wie wird die Unabhängigkeit und Kompetenz eines Experten gewährleistet? | |
Das hängt davon ab, wo Experten auftreten. Historisch wegweisend war das | |
Gericht. Gerichte waren angewiesen auf Sachverständige, um | |
prozessrelevantes Wissen zu erhalten. Als expertus galt, wer praktische | |
Erfahrung in einem Beruf gesammelt hatte, sei es als Hebamme oder als | |
Dachdecker. Wurde etwa ein Passant von einem herunterfallenden Ziegel | |
erschlagen, ließ das Gericht einen Dachdecker-Experten klären, ob die | |
Ziegel sachgemäß fixiert waren. Um 1700 jedoch kam die Kritik auf, eine | |
praktische Berufstätigkeit verhindere die Unabhängigkeit von Experten. | |
Warum? | |
Nehmen wir an, der Dachdecker-Experte entdeckte, dass ein Zunftgenosse | |
gepfuscht hatte. Stand er dann nicht unter Druck, den Schuldigen vor | |
Gericht zu decken, um die Ehre des eigenen Berufsstands zu schützen? Diese | |
Kritik kam aus den Reihen von Aufsteigern, die für sich selbst mehr | |
Kompetenz und Unabhängigkeit beanspruchten: von wissenschaftlichen | |
Spezialisten in staatlichem Sold. Allmählich galten akademische Fachtitel | |
als wichtigster Ausweis von Experten. | |
Ist das heute anders? | |
Nicht wesentlich. Wenn von Wissenschaftlern erwartet wird, dass sie mit | |
ihrer Forschung in die Praxis gehen, stehen sie nicht viel besser da als | |
die Handwerker-Experten der Vormoderne. Kommt hinzu, dass Unabhängigkeit | |
und Kompetenz nicht überall so geprüft werden wie im Gericht. In der | |
Politik ist der Übergang vom Experten zum Lobbyisten und Propagandisten | |
fließend. Noch stärker ist der Wildwuchs in den Medien, wo man sich einen | |
Experten zimmert, wenn man keinen findet. | |
Zum Beispiel? | |
Es gibt einschlägige Fälle von Fake-Experten im amerikanischen und | |
russischen Fernsehen. Bei uns tummeln sich mittlerweile auch Firmen, die | |
Experten an Medien vermitteln und dabei nicht klären, was sie wissen. Ich | |
wurde kürzlich von einer Vermittlungsfirma eingeladen, als Experte zum | |
Versailler Frieden und zur Reichspogromnacht Auskunft zu geben, obwohl ich | |
dazu nichts an Forschung vorzuweisen habe. | |
[1][In Ihrem Buch „Skandalexperten. Expertenskandale“] warten Sie mit der | |
These auf, dass die Medien mitschuldig daran sind, dass wir nicht im | |
prognostizierten Zeitalter des Wissens, [2][sondern dem der Fake News | |
gelandet sind.] | |
Massenmedien haben bei zwei Skandalen, die ich in dem Buch untersuche, eine | |
Skandalisierungsstrategie gefahren, auf Kosten der Aufklärung: beim Sturz | |
des englischen Drogenexperten David Nutt und der Verurteilung | |
italienischer Seismologen nach dem Erdbeben von L’Aquila. Die Medien | |
wollten den Konflikt um die Experten auf die Spitze treiben, um maximale | |
Aufmerksamkeit zu erzielen. Dabei half ihnen natürlich, dass Experten in | |
den Medien allgegenwärtig sind. | |
Entwerten die inflationären Auftritte von Experten ihre Rolle? | |
Die Inflation ist zuerst ein Zeichen der Überbewertung. Viele glauben, es | |
brauche zwingend Experten, um einer Aussage Glaubwürdigkeit zu geben. Damit | |
wird der Expertenauftritt zu einem Privilegierungsritual für | |
Wissenschaftler. Aber auch zu einem Einfallstor für Populisten und | |
Verschwörungstheoretiker, die darin den faulen Zauber einer Expertokratie | |
sehen. Sie stürzen sich dann auf Falschaussagen von Experten. | |
Wenn Experten über Dinge reden, von denen sie keine Ahnung haben, machen | |
sie sich aber auch schnell unglaubwürdig. | |
Ja, aber häufig sind sie dafür nicht allein verantwortlich. Experten | |
befinden sich oft in der Situation, Fragen zu Dingen gestellt zu bekommen, | |
über die sie kein gesichertes Wissen haben. Die Obsession für Prognosen hat | |
diese Situation chronisch gemacht. Hat ein Experte keine Antwort, | |
enttäuscht er. Experten, die strikt innerhalb der Grenzen ihres Wissens | |
bleiben, sind für Medien uninteressant. Es kann ihnen passieren, dass vage | |
Prognosen nachträglich als Gewissheiten präsentiert werden und sie selbst, | |
wenn die Prognose nicht eintrifft, als falsche Propheten dastehen. | |
Also sind letztlich doch die Medien schuld? | |
Nur teilweise. Für Experten wird es stets heikel, wenn Fragesteller im | |
Vornherein festlegen, was sie hören wollen. Das Problem betrifft nicht nur | |
die Medien. Es ist in der Politik noch gravierender. | |
Sie spielen auf die Expertenkommissionen im Bundestag an? | |
Nicht nur, aber tatsächlich hat die Regierung Merkel Expertenkommissionen | |
eingesetzt, um heiklen Entscheidungen nachträglich den Anschein eines | |
Sachzwangs zu geben. Beim Atomausstieg nach der Reaktorkatastrophe von | |
Fukushima war es so. Der Entscheid war rein politisch motiviert, hatte die | |
Regierung doch kurz zuvor den Ausstieg vom Ausstieg verkündet, und ein | |
Tsunami-Szenario für Deutschland war völlig unrealistisch. Dennoch wurden | |
gleich zwei Expertengremien eingesetzt, um den Entscheid nachträglich als | |
wissenschaftliche Notwendigkeit hinzustellen. Eine gewisse Tragik liegt | |
darin, dass Merkels Politik der Alternativlosigkeit gerade dann nicht mehr | |
glaubwürdig wirkte, als mit den Flüchtlingen an der Grenze eine | |
alternativlose Situation bestand. | |
Ist das nur Merkels Tragik? | |
Nein. In jüngerer Zeit haben Regierungen wiederholt Experten vorgeschickt, | |
um für sie Überzeugungsarbeit zu leisten. Die noch größere Tragik ist, dass | |
es meist wissenschaftsfreundliche Regierungen waren, die zu spät gemerkt | |
haben, dass sie Populisten geradezu einluden, die Unabhängigkeit der | |
Wissenschaft in Zweifel zu ziehen. Als Obama für das Atomabkommen mit dem | |
Iran warb, hat er ein ganzes Expertenaufgebot eingesetzt, sodass es Trump | |
später ein Leichtes war, das Abkommen als Machwerk „schrecklicher“ Experten | |
abzuschießen. Damit verhinderte Trump seinerseits, dass sich | |
Iran-Spezialisten als unabhängige Autoritäten in die Debatte einmischten, | |
konnte er sie doch als Obama-Lakaien hinstellen. | |
Die Einmischung von Wissenschaftlern in gesellschaftliche Debatten hat | |
nachgelassen, oder? | |
Ich teile diese Einschätzung. Das hat politische und wissenschaftliche | |
Gründe. Mit dem Ausbau von Expertengremien in der Politik wurde die | |
Expertenrolle in der Wissenschaft massiv aufgewertet. Heute wird jeder | |
gewichtige Entscheid durch Expertengutachten abgestützt, die meisten | |
anonymisiert. Dringt vom wissenschaftlichen Ringen um Wahrheit kaum etwas | |
nach außen, erscheint die Forschung als Blackbox. Als solche kann ihr nur | |
blind vertraut oder misstraut werden. | |
Kommt der Vorwurf, Experten seien mit der politischen Elite verbandelt, | |
eher von rechts? | |
Er ist in den letzten fünfzig Jahren von links nach rechts gewandert. Viele | |
Achtundsechziger lehnten Experten leidenschaftlich ab und konnten sich | |
dabei auf Kapazitäten wie Herbert Marcuse berufen. Experten galten als | |
Erfüllungsgehilfen der kapitalistischen Technokratie, die man bekämpfen | |
musste. Heutige Rechtspopulisten bedienen sich aus der Mottenkiste der | |
linken Expertenkritik. Der Unterschied: Sie greifen Experten an, um die | |
Unabhängigkeit der Wissenschaft zu schwächen. Den Linken ging es darum, die | |
Unabhängigkeit der Wissenschaft zu stärken. | |
Warum finden Sie den Begriff „Expertokratie“ trotzdem falsch? | |
Weil er die Machtverhältnisse im politischen Spiel auf den Kopf stellt. Es | |
ist nicht die Wissenschaft, die sich die Politik dienstbar macht, sondern | |
umgekehrt. Die Eurokrise hat es gezeigt: Die technokratischen Regime in | |
Italien und Griechenland waren Notfallübungen, die abgebrochen wurden, | |
sobald die Luft für Politiker rein war. Die zentrale Rolle der EZB hatte | |
damit zu tun, dass die gewählten Regierungen – an erster Stelle die | |
deutsche – ihren politischen Spielraum nicht nutzen wollte, weil das Risiko | |
unpopulärer Maßnahmen zu groß erschien. Wenn politische Eliten aus Angst | |
vor den eigenen Wählern heiße Kartoffeln den Experten zuwerfen, hat nicht | |
nur die Wissenschaft den Schaden: Auch die Demokratie leidet. | |
1 Jan 2019 | |
## LINKS | |
[1] https://www.deutschlandfunkkultur.de/caspar-hirschi-skandalexperten-experte… | |
[2] /Fake-News-Kampagnen-von-Rechts/!5533521 | |
## AUTOREN | |
Doris Akrap | |
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