| # taz.de -- Neues Buch „Kanaillen-Kapitalismus“: Kleinode der Erkenntnis au… | |
| > Literatur und Katastrophen: César Rendueles nimmt uns mit auf einen | |
| > Assoziationstrip ins Herz des mörderischen Kapitalismus. | |
| Bild: Kongo, 1892. Bau der Eisenbahn unter belgischer Herrschaft. Joseph Conrad… | |
| Das Buch mit dem Titel „Kanaillen-Kapitalismus“, der Beschimpfung, Anklage | |
| und Kampfansage anklingen lässt, ist ein Werk, das sich nicht so ohne | |
| Weiteres dem Leser erschließt. Schon im Prolog des spanischen Soziologen | |
| César Rendueles erfährt man zwar viele interessante Dinge, aber wie sich | |
| diese in die eher assoziative Vorgehensweise des Autors einfügen lassen, | |
| wie er sein Buch gerne verstanden wissen will, worauf er hinaus will, was | |
| seine These ist, all das also, was man vom Autor in der Vorbemerkung | |
| erwartet, wird man nicht wirklich finden. Stattdessen die im Hintergrund | |
| mitschwingende Ansage, dass eine ausgefeilte theoretische Kritik am | |
| Kasinokapitalismus nutzlos ist, wenn wir uns nicht von der uns „lähmenden | |
| Unterwürfigkeit befreien“. | |
| Vielleicht weil die Bedingung der Nützlichkeit nur unzureichend gegeben | |
| ist, wendet er sich einer Art Experiment zu, nämlich „mit Fragmenten der | |
| Fiktion die Spuren realer Prozesse zu rekonstruieren, die sich im | |
| LSD-Rausch des zeitgenössischen Kapitalismus verflüchtigt haben“. Aber | |
| nicht nur die Wortwahl (Fragmente, Spuren, verflüchtigen) weist darauf hin, | |
| dass hier etwas verhandelt wird, das alles andere als gesicherte Erkenntnis | |
| ist, auch die Interpretation der benutzten literarischen Texte ist „rein | |
| subjektiv“ und die autobiografischen Fakten spiegeln laut Autor nur das | |
| wider, was sich in seinem Kopf zugetragen hat. | |
| Damit zumindest gaukelt der Autor mit Sicherheit nichts vor, was er | |
| möglicherweise nicht einhalten könnte, und tatsächlich bleibt manchmal | |
| unklar, wie sich seine autobiografischen Anekdoten in die „fiktive Chronik | |
| der politischen Dilemmata unserer Zeit“ einfügen lassen. | |
| Dennoch ist sein Ansatz, wie sich in Romanen, Lyrik und Theaterstücken – | |
| wenngleich die Auswahl willkürlich und subjektiv ist – die kapitalistische | |
| Evolution widerspiegelt, nicht nur aufschlussreich und spannend, sondern | |
| man entdeckt immer wieder verstreut umherliegende Kleinode der Erkenntnis, | |
| und das ist manchmal ja vielversprechender als eine kohärente Theorie. | |
| ## „Herz der Finsternis“ | |
| Rendueles versteht es immer wieder, den Blick auf brisante und unerwartete | |
| Zusammenhänge zu lenken, wobei er nie den geringsten Zweifel daran | |
| aufkommen lässt, dass er leidenschaftlich einen Kapitalismus ablehnt, der | |
| in all seinen diversen Ausformungen Elend und Mord hervorgerufen hat, | |
| verantwortet häufig von Herrschenden, die sich nicht nur von Habgier und | |
| Macht leiten ließen, sondern die mit einem gewissen historischen Abstand | |
| nur als schwachsinnig eingestuft werden konnten. | |
| Das klassische und gut dokumentierte Beispiel ist Leopold II., dessen | |
| Herrschaft mehr als zehn Millionen Kongolesen das Leben kostete, weil die | |
| imperialen Mächte 1884 auf der Berliner Konferenz Afrika unter sich | |
| aufteilten und der Freistaat Kongo als persönliches Eigentum des belgischen | |
| Königs anerkannt wurde. Und die zunächst harmlose Anekdote von einem | |
| schottischen Tierarzt, der für das Dreirad seines Sohnes luftgefüllte | |
| Gummischläuche erfand, damit das Gefährt nicht so einen Krach machte, | |
| ebnete den Weg in die Katastrophe. | |
| Der Name des Erfinders war John Dunlop und seine Schläuche lösten einen | |
| Kautschukboom aus mit dramatischen Folgen für Millionen Menschen nicht nur | |
| im Kongo, wo Leopold II. das Land in eine Monokultur verwandelte, und das | |
| auf äußerst brutale Weise. | |
| Die Saturday Review berichtete damals unter Berufung auf Augenzeugen von | |
| einem „System der Peinigung“ und davon, wie ein „gewisser Kapitän Rom … | |
| seine Blumenbeete mit Köpfen ermordeter und enthaupteter Eingeborener zu | |
| schmücken pflegte“. Für den polnischen Schiffskapitän Józef Korzeniowski | |
| war das nichts Neues, denn er hatte zehn Jahre zuvor bei einem auf die | |
| Förderung von Kautschuk und Elfenbein spezialisierten Unternehmen | |
| angeheuert. Acht Monate lang war er mit einem Boot auf dem Kongo gefahren | |
| und im Urwald mit einer gespenstischen, irrealen Welt konfrontiert, die er | |
| dann unter dem Namen Joseph Conrad in dem Roman „Herz der Finsternis“ | |
| beschrieb. Er machte in Europa eine Geisteshaltung aus, wie sie in Mr. | |
| Kurtz zum Ausdruck kam: „Rottet sie alle aus, die Tiere!“ | |
| ## Erkennen, was uns quält | |
| Auf ähnliche Weise spürt Rendueles der Realität in Célines „Reise ans Ende | |
| der Nacht“ nach, er lässt Ilja Ehrenburg in seinem Roman „Die | |
| ungewöhnlichen Abenteuer des Julio Jurenito“ die wachsende Unordnung in | |
| Europa erzählen, es tauchen Ernst Jüngers „In Stahlgewittern“ auf, | |
| Remarques „Im Westen nichts Neues“ (es fehlt allerdings Amblers „Die Maske | |
| des Dimitrios“) und er geht der Frage nach, warum der unglaublich dröge | |
| Roman „On the Road“ von Jack Kerouac so großen Erfolg hatte. | |
| Auch Sue Townsends „Adrian Mole“ kommt vor, der uns deshalb so komisch | |
| erscheint, weil er sich als Versager auf absurd lächerliche Weise die | |
| Anforderungen des im Thatcher-England gepflegten neoliberalen Lebensstils | |
| anzueignen versucht. Und hier wird vielleicht besonders deutlich, wie im | |
| Prozess der neoliberalen Globalisierung „99 Prozent von uns freiwillig die | |
| Kontrolle über unser Leben an Fanatiker abgetreten haben, die einer | |
| wahnhaften Wahrnehmung der sozialen Realität unterliegen“. | |
| Angesichts des Klimawandels und der Flüchtlingsströme fällt es einem | |
| schwer, dieser Diagnose zu widersprechen. Was große Literatur, die hier von | |
| Rendueles verhandelt wird, von den im üblichen Strickmuster fabrizierten | |
| Bestsellern unterscheidet: dass wir in ihr mehr oder weniger bewusst | |
| erkennen, was uns quält, weil sie beim Leser eine Saite zum Schwingen | |
| bringt, deren Klang wir so schnell nicht vergessen. | |
| 23 Dec 2018 | |
| ## AUTOREN | |
| Klaus Bittermann | |
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