# taz.de -- Die afrobolivianische Community: Boliviens schwarzer König | |
> Schwarze Menschen sind im Stadtbild der großen Städte Boliviens selten. | |
> In Kolumbien, Brasilien oder Venezuela ist das anders. | |
Bild: Beschädigte Gräber des afrobolivianischen Friedhofs | |
An der Bushaltestelle von Coroico baumelt das aus Holz geschnitzte Schild | |
mit der Aufschrift Yolosa und Yolosita an einer Kette. Langsam pendelt es | |
im lauen Lüftchen hin und her. Unter dem Schild sitzt Julia Pineda in ihrem | |
Kleinbus, unterhält sich mit einem entfernten Verwandten, während sie auf | |
Kundschaft wartet. Die 53-jährige Afrobolivianerin fährt jeden Tag zwei-, | |
dreimal die Strecke runter von Coroico ins Tal und manchmal auf die andere | |
Seite nach Mururata und Tocaña. | |
„Vor allem wenn am Samstag und Sonntag Markt in Coroico ist, dann kommen | |
die Leute aus den umliegenden Dörfern, um ihre Produkte zu verkaufen: Coca, | |
Früchte, Kartoffeln und Gemüse, aber auch Kunsthandwerk“, erzählt die Frau | |
mit den mit bunten Holzkugeln verzierten Dreadlocks. „Danach müssen sie | |
natürlich zurück in die Dörfer auf der anderen Seite des Tales“, lacht sie | |
und deutet auf die Brüstung hinter der Haltestelle, von wo man einen guten | |
Überblick über das Tal hat. | |
Coroico liegt 1.752 Meter über dem Meeresspiegel und wurde per Gesetz zur | |
ersten Tourismusgemeinde Boliviens deklariert. Hier sitzt die Verwaltung | |
für die umliegenden Gemeinden und hier befindet sich auch die | |
weiterführende Schule für die Kinder aus der Gegend. Auch Julia Pineda hat | |
in Coroico ihr Abitur gemacht. „1982 war das, und als wir uns damals | |
überlegten, was wir zum Abschluss machen könnten, sind wir schließlich auf | |
die Idee gekommen, einen alten Tanz aufzuführen – La Saya.“ Der hat | |
afrikanische Wurzeln, ist mittlerweile landesweit bekannt und in Bolivien | |
heute das Synonym für die afrobolivianische Kultur. | |
Doch in Coroico war der Tanz zu Beginn der 1980er Jahre weitgehend | |
vergessen. Julia Pineda weiß noch genau, dass sie mit ihrer Mutter und | |
ihrer Schwester die Schritte mühsam rekonstruieren und einüben musste. | |
„Auch die Musiker mussten wir erst einmal auftreiben, um La Saya auch | |
wirklich aufführen zu können“, erklärt sie amüsiert, denn die Performance | |
wurde zu einem vollen Erfolg. „Wir waren die Sensation in Coroico, etliche | |
Leute im Publikum erinnerten sich an die Tanzschritte, drängten sich auf | |
der Tanzfläche, und so hatten wir eine klasse Party.“ Für Julia Pineda und | |
ihre vier, fünf Mitschüler mit afrikanischen Roots war der Abend aber auch | |
so etwas wie die Initialzündung, um sich mit der eigenen Geschichte und | |
Identität zu beschäftigen. | |
## Die Geschichte der Afrobolivianer | |
„Hier im tropischen Tiefland von La Paz, in den Nor Yungas, wurde ein Teil | |
der afrobolivianischen Geschichte geschrieben. Mein Großvater hat noch als | |
Sklave auf einem Landgut geschuftet“, gibt Pineda Einblick in ihre | |
Familiengeschichte. Sie ist alles andere als begeistert, dass sich die | |
Politik in Bolivien so lange Zeit gelassen hat, bis die kleine | |
afrobolivianische Gemeinde die gleichen Rechte erhielt wie der Rest der | |
Bevölkerung. „De facto ist die Sklaverei in Bolivien erst am 2. August 1953 | |
beendet worden. Damals wurde die unentgeltliche Arbeit für die | |
Großgrundbesitzer per Gesetz beendet. Bis dahin hat mein Großvater jedoch | |
als Leibeigener auf einem Gut auf dem Weg nach Mururata geschuftet.“ | |
Die Geschichte der Afrobolivianer begann in der Silberstadt Potosi. Cerro | |
Rico heißt der mächtige Felsen, der so ziemlich von jeder Straße in Potosí | |
zu sehen ist. Aus dem reichen Berg wird auch heute noch Silber gekratzt und | |
der Abraum bildet kleine Hügel draußen rund um den Berg. Der ist Fluch und | |
Segen von Potosí. Vom Segen lässt sich allerdings nicht mehr viel sehen, | |
denn die Pracht von einst ist dahin. Der Reichtum wurde weggekarrt, auf die | |
spanischen Galeonen verfrachtet, die die Reichtümer aus der Neuen Welt in | |
die Alte schafften. Geblieben sind die Sklaven, die die Kolonialherren in | |
den mächtigen Berg schickten, um die indigenen Ureinwohner zu ersetzen. | |
Als das nicht funktionierte, wurden die aus dem Kongo, dem Senegal und | |
Angola zu Beginn des 17. Jahrhunderts nach Bolivien entführten Afrikaner | |
auf die Plantagen im Tiefland, den Yungas, eingesetzt. Die spanischen | |
Kolonisatoren begriffen, dass die afrikanischen Sklaven weder der Kälte des | |
Hochlands noch den Anstrengungen und giftigen Gasen im Silberberg von | |
Potosí gewachsen waren, und schickten die Sklaven auf ihre Plantagen in | |
tiefer gelegenen Regionen. Dort bauten die Spanier Zitrusfrüchte, etwas | |
Zuckerrohr, später auch Mais, Kaffee und Reis an im milden sonnigen Klima. | |
Rund 16.000 Afrobolivianer leben laut dem statistischen Amt in Bolivien, | |
doch längst nicht alle geben ihre Identität beim Zensus preis. Experten | |
schätzen die Zahl der Afrobolivianer daher auf mindestens 25.000. Die haben | |
Spuren im Land hinterlassen, denn nicht nur Tänze wie die Saya sind | |
mittlerweile als nationales Kulturgut respektiert, auch die Küche Boliviens | |
haben die ehemaligen Sklaven mit ihren Gerichten bereichert. Dazu gehört | |
Jakonta de Platano, ein Eintopf, genauso wie Sardinen mit Reis oder das | |
Fricasé vom Schwein, Yucca, Kochbananen und verschiedene Früchte. | |
## Wanderwege und Tourismus | |
Die Yungas im Tiefland von La Paz sind die Wiege der afrobolivianischen | |
Kultur. Hier wurden viele der prominenten Afrobolivianer geboren. Darunter | |
eine ganze Reihe erfolgreicher Fußballspieler, aber auch Schauspieler wie | |
Paola Menacho oder die Anthropologin Mónica Rey Gutiérrez. Letztere nahm | |
auch an der verfassunggebenden Versammlung 2009 teil. Seitdem ist Bolivien | |
ein plurinationaler Staat. | |
Mururata ist eines jener afrobolivianischen Dörfer, deren Besuch | |
Fremdenführern aus Coroico anbieten. Nicht nur weil die Uhren dort noch mal | |
deutlich langsamer gehen als im umtriebigen und touristisch geprägten | |
Coroico, sondern auch weil in Mururata Boliviens einziger König residiert: | |
Julio Pinedo alias Julio I. Der 75-Jährige repräsentiert die | |
afrobolivianische Minderheit. „Seine Frau, Doña Angélica, habe ich gestern | |
erst nach dem Markt zurück nach Mururata kutschiert“, sagt Julia Pineda. | |
„Wir können nachher gleich mal rüber fahren“, bietet sie an, bevor sie ei… | |
schwarze Frau, die mit Bombín, Pollera und dem bunten Umhängetuch ganz wie | |
die Aymara-Frauen gekleidet ist, begrüßt. | |
Keck sitzt die graue Melone auf den hochgesteckten Haaren, dazu trägt sie | |
das bunte, gewebte Umhängetuch, wo die Einkäufe drin verschwinden, und den | |
Faltenrock, die Pollera. Doña Antonia wie sie respektvoll von Julia Pineda | |
genannt, ist eine Cousine vom König, lebt auch in Mururata und ist froh, | |
dass sie heute ohne viel Warterei nach Hause kommt. Das ist keine | |
Selbstverständlichkeit, denn in dem verschlafenen Dorf leben nur | |
sechshundert Einwohner. Schon am Ortseingang ist kaum zu übersehen, womit | |
die Menschen ihr Geld verdienen. | |
Auf großen Planen liegen die grünen Kokablätter zum Trocknen aus, die in | |
blauen Plastiksäcken nach Coroico geschafft werden. Dort werden die Blätter | |
für 25 bis 30 Bolivianos (3,05 bis 3,66 Euro) pro Pfund verkauft. „Früher | |
haben die meisten Bauern Kaffee angebaut, dann kam der Kaffeerost und hat | |
die Erträge um bis zu 90 Prozent schmelzen lassen. Seit dem verdienen wir | |
Bauern unseren Lebensunterhalt in erster Linie mit Koka“, erklärt Doña | |
Antonia. | |
## Anerkennung durch die Regierung | |
Der Kaffeerost ist ein Pilz, der die Blätter der Kaffeesträucher befällt | |
und in Lateinamerika viele Betriebe in den Konkurs getrieben hat. So auch | |
in den Yungas, der wichtigsten Kaffeeregion Boliviens. Dort steht Doña | |
Antonia mit ihrem Mann fast täglich auf dem Feld, um Grundnahrungsmittel | |
wie Yucca und Gemüse sowie Zitrusfrüchte und Koka für den Verkauf | |
anzubauen. | |
Es ist Sonntag, der einzige Tag der Woche, wo auch König Julio I. nicht auf | |
seiner Chacra, dem Feld, steht, sondern zu Hause sitzt. „Für meinen Titel | |
kann ich mir nichts kaufen. Als König bin ich zwar Sprecher der | |
afrobolivianischen Gemeinde, aber meinen Lebensunterhalt verdiene ich auf | |
dem Feld“, erklärt er lächelnd. Als wortkarg gilt Julio Pinedo eigentlich, | |
doch heute wirkt er aufgeräumt und erzählt freimütig über sein Leben und | |
die einzige Auslandsreise, die ihn mit Königin Angélica einst nach | |
Südafrika führte. Das war zu Beginn des Jahrtausends und dort nahm er als | |
afrobolivianischer Vertreter an einer Konferenz über kulturelle Identität | |
und deren Erhalt teil. Nur zu gern wäre das Königspaar damals weiter in den | |
Senegal gefahren, wo Pinedos Familie herkommt. | |
„Ich bin ein direkter Nachkomme von Prinz Uchicho. Er wurde um 1820 nach | |
Bolivien entführt und versklavt“, erklärt er und rückt die dunkelblaue | |
Baseballkappe der Chicago White Sox zurecht. Elegant sieht der schlanke | |
Mann in seinem weißen Hemd mit dem grauen Pullunder darüber aus. 1992 wurde | |
er als Nachfolger seines Großvaters Bonifacio I., bei dem er auch aufwuchs, | |
gekrönt. Und seit 2007 wird er auch von der bolivianischen Regierung | |
anerkannt. | |
Kein Zufall, denn die Generation von Julia Pineda hat Anfangs der 1980er | |
Jahre begonnen nachzufragen, ihr Recht auf Bildung in Anspruch genommen und | |
sich schließlich für die Rechte der Minderheit engagiert. Bekanntester | |
Protagonist dieser Generation ist Jorge Medina, der als erster schwarzer | |
Politiker 2010 ins Parlament gewählt wurde. Da war der schlaksige Mann, | |
Jahrgang 1968, bereits ziemlich populär, denn Medina hat „Radio | |
Afrobolivia“ mitinitiiert, wo er bis heute Sendungen moderiert. | |
Als er aus dem kleinen Dorf Chijchipa, was nur ein paar Kilometer unterhalb | |
von Mururata liegt, nach La Paz zog, war er komplett überrascht, wie die | |
anderen Studenten auf ihn reagierten: „Mit großen Augen wurde ich ungläubig | |
bestaunt. Damals wurden wir Schwarzen offen diskriminiert. Für die Leute | |
war es undenkbar, dass auch wir Bolivianer sind“, erinnert sich Medina, der | |
heute für die Regierung im Ministerium für Landverteilung arbeitet. | |
Ähnliche Erfahrungen hat Julia Pineda gemacht als sie 1988 nach La Paz | |
ging. „Damals gab es viele Bolivianer mit afrikanischen Roots, die sich | |
nicht outen wollten. Sie haben sich lieber als Mischlinge bezeichnet – | |
nicht als Afrobolivianer.“ Das ist Geschichte, seitdem die Minderheit dank | |
der Aktivitäten von Jorge Medina oder der Anthropologin Mónica Rey | |
Gutiérrez sichtbar wurde. Mit der großen und der kleinen Trommel, die beide | |
bei der Saya gespielt werden, zog Medina gegen Rassismus durch Bolivien und | |
warb für progressive Gesetze. | |
Im Zuge dieser langsamen Öffnung hat sich Julio Pinedo 1992 krönen lassen. | |
Davon hatte er sich auch etwas ökonomischen Auftrieb für Mururata | |
versprochen. Doch das blieb ein frommer Wunsch. „Darum müssen wir uns | |
selbst kümmern und deshalb arbeiten wir gerade an einem Konzept, um die | |
alte Hacienda zum Ausgangspunkt für Wanderungen zum Friedhof und auf unsere | |
Felder zu machen“, erklärt Pinedo und räumt die Pläne etwas beiseite, die | |
er gerade mit Javier Aguilar studiert hat. | |
Die Hacienda war so etwas wie die Keimzelle für das Dorf Mururata. Um die | |
Landgüter entstanden später Dörfer wie Mururata, Tocaña oder Chijchipa. | |
„Rund neunzig Prozent der Einwohner dort haben afrikanische Wurzeln“, | |
erklärt Julio Pinedo, und Javier Aguilar nickt zustimmend. „Aber es fehlt | |
uns an Perspektiven, in den Dörfern, aber auch in den Städten“, sagt | |
Letzterer und zeichnet die Route für den Wanderweg in einer detaillierten | |
Karte der Region ein. | |
Aguilar arbeitet ehrenamtlich für eine der wenigen afrobolivianischen | |
Organisationen, lebt in La Paz, ist aber regelmäßig in Mururata, um mit | |
König Julio I. an neuen Konzepten wie dem Wanderweg zu arbeiten. Dafür | |
wollen die beiden Männer Mittel in La Paz beantragen, denn das Grab von | |
König Bonifacio I., welches sich gemeinsam mit einigen anderen Gräbern | |
schwarzer Würdenträger außerhalb von Mururata auf einem Hochplateau | |
befindet, ist lange sich selbst überlassen gewesen. Diebe haben das goldene | |
Kreuz aus der Grababdeckung herausgebrochen. Mehrere Grabnischen sind | |
aufgebrochen, Grabsteine umgestürzt. Ein tristes Bild, das im Kontrast zu | |
dem prächtigen Ausblick ins Tal und rüber nach Coroico steht. Das will | |
König Julio I. ändern. | |
„Wir brauchen eine positive Identität, müssen mehr für unsere Jugend tun. | |
Das ist auch im Interesse der Regierung in La Paz“, sagt der 75-Jährige und | |
unterschreibt den fertigen Antrag, den Javier Aguilar nachher mitnehmen | |
soll. Dann verabschiedet er sich. Angetan von ihrem König, der als | |
schüchtern und zögerlich gilt, ist Julia Pineda. „Solche Initiativen sind | |
wichtig, denn Arbeit ist in den Yungas ein echtes Problem und selbst gut | |
ausgebildete Afrobolivianer haben es schwer“, sagt sie, nimmt am Lenkrad | |
Platz und startet den Kleinbus für den Rückweg nach Coroico. | |
8 Dec 2018 | |
## AUTOREN | |
Knut Henkel | |
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