# taz.de -- Rassistischer Gründungsmythos: Die von den Schiffen kamen | |
> Argentiniens Präsident Fernández sieht seine Landsleute als Nachkommen | |
> europäischer Einwanderer – ausschließlich. Neu sind solche Ideen nicht. | |
Bild: Alberto Fernandez, Präsident von Argentinien | |
Eigentlich wollte Argentiniens Präsident Alberto Fernández seinen Gast | |
literarisch umschmeicheln. „Die Mexikaner stammen von den Indios ab, die | |
Brasilianer kommen aus dem Dschungel, aber wir Argentinier sind mit | |
Schiffen aus Europa gekommen, und so haben wir unsere Gesellschaft | |
aufgebaut“, sagte er dem spanischen Ministerpräsidenten Pedro Sánchez bei | |
dessen Besuch in Buenos Aires am vergangenen Mittwoch. | |
Das habe der mexikanische Literaturnobelpreisträger Octavio Paz einmal | |
geschrieben, fügte er hinzu. Wer wollte, konnte den von allen | |
Nachrichtenkanälen [1][übertragenen Auftritt live erleben]. Tatsächlich | |
hatte der 1998 verstorbene Schriftsteller einmal einen ähnlich lautenden | |
Satz gesagt: „Die Mexikaner stammen von den Azteken ab, die Peruaner von | |
den Inkas und die Argentinier von Schiffen.“ | |
Doch während Paz ironisch auf die Überheblichkeit der Argentinier abzielte, | |
wollte Fernández im Brustton der Überzeugung die Verbundenheit mit Spanien | |
demonstrieren. Die Überzeugung, mit der [2][der linksgemäßigte Präsident] | |
den Satz aussprach, ist nicht nur seiner mitunter oberlehrerhaften und | |
arroganten Art daherzureden geschuldet. Die Erzählung, Argentinien sei von | |
den aus Europa eingewanderten Menschen aufgebaut worden, ist für viele am | |
Río de la Plata unverrückbarer Teil des Gründungsmythos des Landes: | |
Lediglich mit einem Koffer voll Habseligkeiten seien die | |
Einwanderergenerationen in Buenos Aires an Land gegangen, um von dort aus | |
die menschenleere Weite des Landes in harter Arbeit urbar und untertan zu | |
machen. | |
Diese Erzählung haben die weißen Angehörigen der Ober- und Mittelschichten | |
des Landes internalisiert. Wie tief die Erzählung verwurzelt ist, bewies | |
auch Fernández rechter Amtsvorgänger Mauricio Macri. „Ich glaube, dass die | |
Verbindung zwischen der südamerikanischen Wirtschaftsgemeinschaft Mercosur | |
und der Europäischen Union natürlich ist, in Südamerika sind wir alle | |
Nachkommen von Europäern“, sagte Macri im Januar 2018 auf dem Schweizer | |
Weltwirtschaftsforum in Davos vor den Anwesenden. | |
## Sprich spanisch! | |
Damals brach kein Shitstorm los. Wenn sich jetzt die Angehörigen der weißen | |
Ober- und Mittelschichten Mexikos und Brasiliens beleidigt fühlen, dann, | |
weil Fernández sie explizit aus dieser Erzählung ausgeschlossen hatte. Der | |
Rassismus dieser Erzählung richtet sich nicht gegen die Migrant*innen | |
oder deren Nachfahren. Nahezu jede argentinische Familie hat einen | |
Migrationshintergrund. Der Rassismus richtet sich gegen die Herkunft. | |
„Meine Eltern kamen mit dem Zug nach Buenos Aires“, sagt Mariel Sanchez, | |
deren Mutter aus der nördlichen Provinz Jujuy stammt und dem Volk der | |
Collas angehört und deren Vater Quechua spricht, wofür er sich als Junge in | |
der Schule schämte, weil er ständig ermahnt wurde, spanisch zu sprechen. | |
Wenn sie neben ihrem deutschen Ehemann steht, hört sie die Lobeshymnen über | |
dessen Herkunftsland. Diese enden dann meist mit der an sie gerichteten | |
Frage, wo sie den eigentlich herkomme. Was dem Präsidenten mit seinem Satz | |
von den Schiffen entschlüpfte, ist die alltägliche Diskriminierung, die | |
jene erleben, die schon von der Ankunft der spanischen Eroberer auf dem | |
Kontinent lebten. | |
Die Erzählung löscht ihre Anwesenheit, Vertreibung, Gefangennahme, Folter | |
und Ermordung einfach aus. An diesem ‚weißen‘ Bewusstsein hat weder das vor | |
25 Jahren eingerichtete staatliche Institut gegen Diskriminierung, | |
Fremdenfeindlichkeit und Rassismus etwas geändert, noch die 2006 verordnete | |
Umbenennung des 12. Oktobers vom „Tag der Rasse“ in einen „Tag des Respek… | |
für die kulturelle Vielfalt“, der an die Ankunft von Christoph Kolumbus in | |
Jahr 1492 erinnert. | |
Dass Präsident Fernández [3][sich in einem Tweet entschuldigte], wenn er | |
möglicherweise jemanden beleidigt haben könnte, und zugleich das gute | |
Zusammenleben mit den indigenen Gemeinschaften lobte, ändert wenig am | |
fortgesetzten Willen der europäischen Kolonisator*innen und ihrer | |
Nachfahren, [4][die eigenen rassistischen Gräueltaten auszublenden.] | |
11 Jun 2021 | |
## LINKS | |
[1] https://www.youtube.com/watch?v=0qTKoAeqCwg | |
[2] /Coronapandemie-in-Argentinien/!5766631 | |
[3] https://twitter.com/alferdez/status/1402713952035934210 | |
[4] /Konservativer-und-Spaniens-Geschichte/!5551527 | |
## AUTOREN | |
Jürgen Vogt | |
## TAGS | |
Schwerpunkt Rassismus | |
Argentinien | |
GNS | |
Kolumbus | |
Argentinien | |
Argentinien | |
Reiseland Bolivien | |
Uruguay | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Argentinien in der Coronakrise: Massenprotest für mehr Staatshilfe | |
Am Freitag demonstrierten Zehntausende in Buenos Aires. In der Pandemie hat | |
die Armut zugenommen. Und derzeit breitet sich im Land die Anden-Variante | |
aus. | |
Polizeigewalt in Argentinien: Härte gegen Händler aus Senegal | |
In Argentinien werden Straßenhändler aus dem Senegal häufig zu Opfern von | |
Polizeigewalt. Aber sie wissen sich zu wehren. | |
Die afrobolivianische Community: Boliviens schwarzer König | |
Schwarze Menschen sind im Stadtbild der großen Städte Boliviens selten. In | |
Kolumbien, Brasilien oder Venezuela ist das anders. | |
Eduardo Galeano gestorben: Dem langweiligen Tod in die Arme | |
Der Autor des Standardwerkes „ Die Offenen Adern Lateinamerikas“ erliegt | |
mit 74 Jahren in Montevideo dem Lungenkrebs. |