# taz.de -- Kriminologe über Polizeigewalt: „Graubereich Verhältnismäßigk… | |
> Die meisten Ermittlungen gegen Polizeigewalt werden eingestellt, sagt der | |
> Kriminologe Tobias Singelnstein. Er will das Feld systematisch | |
> untersuchen. | |
Bild: Schlagstockeinsatz gegen einen Anti-G20-Demonstranten in Hamburg | |
taz: Herr Singelnstein, von den Ermittlungen gegen Polizisten wegen | |
[1][Polizeigewalt beim G20-Gipfel] wurde bereits über die Hälfte | |
eingestellt. Was erwarten Sie von den noch laufenden Verfahren? | |
Tobias Singelnstein: Nach den Erfahrungen in anderen Verfahren wegen | |
Körperverletzung im Amt muss man davon ausgehen, dass die meisten | |
Ermittlungen eingestellt werden. | |
Woran liegt das? | |
Zum einen wird es Fälle geben, in denen die Betroffenen falsch einschätzen, | |
wie weit die Befugnisse der Polizei gehen. Sehr viel entscheidender sind | |
meines Erachtens aber die strukturellen Besonderheiten dieser Verfahren. | |
Worin bestehen die? | |
Zum einen ermitteln da Kollegen gegen Kollegen – es ist nachvollziehbar, | |
dass man da einen anderen Blick hat. In der Regel ist die Beweissituation | |
schwierig, weil die Aussage eines mutmaßlichen Opfers der Aussage mehrerer | |
Polizisten gegenübersteht, mehr Beweise gibt es oft nicht. | |
Gerichte glauben meist den Polizisten. Warum? | |
Polizeibeamte sind in Strafverfahren alltäglich präsent, es gibt kaum | |
Strafverfahren, wo sie nicht als Zeugen auftreten. Aus Sicht der Justiz | |
sind sie besonders glaubwürdige Zeugen. Dabei zeigt die empirische | |
Forschung keineswegs, dass sie besser beobachten und erinnern. Aber die | |
Gerichte sind daran gewöhnt, ihnen zu glauben. In Verfahren wegen | |
Körperverletzung im Amt wird dann oft nicht gesehen, dass die Polizisten | |
selbst Beteiligte sind, unter Umständen eine sehr subjektive Sicht haben | |
und Eigeninteressen verfolgen. | |
[2][Finden die Taten häufig im Grenzbereich] des Erlaubten statt? | |
Es gibt Graubereiche, zum Beispiel beim Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. | |
Staatliches Handeln muss ja immer erforderlich und angemessen sein. Da sind | |
die Grenzen mitunter fließend. | |
Welche Rolle spielen Gegenanzeigen? | |
Es kommt in der Praxis häufig vor, dass einer Anzeige wegen | |
Körperverletzung im Amt eine Anzeige wegen Widerstands oder versuchter | |
Körperverletzung gegenübersteht. Die Ermittlungen gegen die Polizisten | |
werden zumeist eingestellt, während die gegen die Bürger nach meinem | |
Eindruck häufig zu Verurteilungen führen. | |
Was wollen Sie mit Ihrer Forschung herausfinden? | |
Das Feld ist bislang nicht systematisch untersucht. Wir wissen zwar aus der | |
Statistik, dass jährlich etwa 90 Prozent der Verfahren gegen Polizisten | |
wegen Gewaltausübung eingestellt werden. Die Anklagequote in diesem Bereich | |
liegt bei nur zwei bis drei Prozent. Dies sind aber nur die Fälle, die zur | |
Anzeige gebracht worden sind. Über das sogenannte Dunkelfeld ist kaum etwas | |
bekannt. Da wollen wir Licht reinbringen. Wir wollen auch herausfinden, aus | |
welchen Gründen sich Betroffene für oder gegen eine Anzeige entscheiden. | |
Wie gehen Sie vor? | |
Aktuell führen wir eine [3][anonyme Onlinebefragung] durch, an der | |
Betroffene von rechtswidriger Polizeigewalt teilnehmen können. Im zweiten | |
Teil des Projekts vertiefen wir die Ergebnisse durch Interviews mit | |
Experten und Betroffenen. | |
Woran liegt es, dass das Feld so schlecht erforscht ist? | |
Bis vor ein, zwei Jahrzehnten hat in Politik, Polizei und Gesellschaft das | |
Bild vorgeherrscht, dass das Problem gar nicht existiert oder nur das | |
Problem einzelner schwarzer Schafe sei. In den letzten zehn Jahren hat sich | |
die Debatte geöffnet. | |
Woran machen Sie das fest? | |
[4][Vorwürfen gegen Polizisten] wird häufig immer noch mit Misstrauen | |
begegnet. Aber das Thema Körperverletzung im Amt spielt eine Rolle in der | |
öffentlichen Debatte, es gibt ein Problembewusstsein. Die | |
Kennzeichnungspflicht für Polizisten oder die Beschwerdestellen in einigen | |
Bundesländern sind Zeichen dafür. Auch wenn man im Einzelnen schauen muss, | |
wie viel diese Dinge in der Sache ändern, haben diese Entwicklungen doch | |
einen erheblichen symbolischen Wert und zeigen, dass der Gesetzgeber | |
Handlungsbedarf sieht. | |
15 Nov 2018 | |
## LINKS | |
[1] /G20-Polizeigewalt-nicht-zu-ermitteln/!5510928 | |
[2] /Film-ueber-G20-Polizeigewalt/!5510648 | |
[3] http://kviapol.rub.de/ | |
[4] /Realitycheck-zu-G20-Polizeigewalt/!5427171 | |
## AUTOREN | |
Katharina Schipkowski | |
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