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# taz.de -- Kolumne Knapp überm Boulevard: Die Kosten des Schulschwänzens
> Wie Österreich den politischen Widerspruch zwischen Neoliberalismus und
> Law-and-Order-Nationalismus austariert: mit 110 Euro Strafe​.
Bild: So mag es Österreichs Regierung: Brave Schüler, keiner fehlt
Sind Nachrichten aus [1][Österreich] Botschaften aus der Zukunft? Wir
wollen es für Deutschland und für Europa nicht hoffen. In jedem Fall aber
sind es Berichte aus dem Labor – von dort also, wo man in Realzeit
beobachten kann, was eine konservativ-rechte Koalition bedeutet. Was sich
da verändert. Das lässt sich an einer kleinen Gesetzesnovelle sehr
anschaulich darstellen.
Seit Beginn dieses Schuljahres wird [2][Schulschwänzen] mit einer Strafe
von 110 Euro geahndet. Das ist die Mindeststrafe. Der gesamte Strafrahmen
erstreckt sich auf bis zu 440 Euro. Diese Verschärfung sieht vor, dass
Kinder bereits nach mehr als drei vollen Fehltagen ohne Entschuldigung
(nicht unbedingt aufeinanderfolgend, sondern im Laufe der gesamten
neunjährigen Schulpflicht!) von der Schulleitung verpflichtend angezeigt
werden müssen.
Mal abgesehen von allen offensichtlichen, empirischen Einwänden gegen eine
solche Regelung – etwa dass Schulvergehen nunmehr zu Verwaltungsdelikten
werden und sich offenbar niemand überlegt hat, was es für den schulischen
Alltag bedeutet, wenn hier die staatliche Ordnung so direkt interveniert.
Mal abgesehen davon, muss man das Grundsätzliche in den Blick bekommen, um
das es hier geht.
Schulen sind seit dem 19. Jahrhundert paradoxe Institutionen. Paradox weil
sie Widersprüchliches verbinden – nämlich sowohl Normerfüllung als auch
Übertretungen. Schulen funktionieren keineswegs nur darüber, dass brave
Schüler strenge Regeln befolgen. Schulen funktionieren vielmehr durch
beides – durch Anpassung ebenso wie durch Regelüberschreitung. Die Schule
ist eine Disziplinarinstitution, zu der regelwidriges Verhalten dazugehört.
## Schule als paradoxe Institution
Sie ist es, die das Feld ihrer möglichen Übertretungen absteckt. Es gibt
hier also nicht nur erlaubt und verboten. Es gibt auch Dinge, die
erlaubt-verboten sind. Und erst danach kommen jene, die ganz, die
verboten-verboten sind (etwa Gewalt). Das Schulschwänzen aber gehört zum
sensiblen Bereich des Erlaubt-Verbotenen. Und genau dieser Bereich soll nun
neu geordnet, nein eher gestrichen werden und ins Verboten-Verbotene
verbannt werden.
Damit – sowie mit weiteren solchen Maßnahmen – soll die Schule in eine
reine Disziplinarinstitution rückverwandelt werden: Überwachen, Strafen und
Kontrollen, so die Losung. Der Bereich des Erlaubt-Verbotenen aber wird
sukzessive eingezogen. Die Grenze möglichen Verhaltens wird ganz
festgezurrt – sie kommt nunmehr gleich nach der Regelerfüllung. Da ist kein
Spielraum mehr dazwischen. Und genau an diesem Punkt zeigt sich das Dilemma
einer solchen Koalition in Reinform. Der Widerspruch, der sie durchzieht,
tritt klar hervor.
## Die Produktivität regelwidrigen Verhaltens
Denn neoliberale Konservative haben ihre eigene Agenda. Sie bedürfen der
Produktivität des (nicht unbegrenzt, aber tolerierbaren) regelwidrigen
Verhaltens. Denn diese rebellische Energie ist der Antriebsmodus für das
zentrale Subjekt der neobürgerlichen Ordnung – der Antriebsmodus des
Unternehmers. Nur als paradoxe Institution, die Anpassung und Übertretung
verbindet, und nicht als reine Disziplinaranstalt werden Schulen zu
„Lehrstätten“ für den unternehmerischen Geist.
Für die Hardcore-Rechtspopulisten hingegen geht es ums genaue Gegenteil: um
die Rückkehr zur reinen Disziplinar-Institution, um das Erzeugen von
Disziplinar-Subjekten, die einfach funktionieren. Für diesen Widerspruch
zwischen Neoliberalismus und Rechtsnationalismus wurde hier eine
spezifische Lösung gefunden: die finanzielle Abgeltung. Sie erlaubt eine
spezifische, eine klassenspezifische Lösung.
110 Euro für aufmüpfige Sprösslinge sind für die Mittelschicht tragbar bis
vernachlässigenswert. Hier bleibt das Schwänzen weiterhin ein mögliches
Kavaliersdelikt. Für weniger Begüterte jedoch sind 110 Euro keineswegs eine
Quantité négligeable – sondern vielmehr ein großes Problem. Für diese Leu…
wird Schule auf das Einüben in konformes Verhalten reduziert. So kann der
Ablasshandel fürs Schlimmsein den politischen Widerspruch zwischen
Neoliberalismus und Law-and-Order-Nationalismus wunderbar austarieren.
23 Oct 2018
## LINKS
[1] /Oesterreich/!t5007889
[2] /Schwaenzen/!t5011387
## AUTOREN
Isolde Charim
## TAGS
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Schwänzen
Sebastian Kurz
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