# taz.de -- Künstlerbetreuer über seinen Job: „Ich war high von der Musik“ | |
> Gerrit Glaner betreut empfindsame Pianistenseelen für den Klavierbauer | |
> Steinway. Ein Gespräch über die Vorteile einer Banklehre und die Weisheit | |
> von Flügeln. | |
Bild: Übersetzt das Poetische ins Faktische: Gerrit Glaner | |
taz: Herr Glaner, der Beginn Ihrer musikalischen Karriere deutete nicht | |
gerade auf ihren erfolgreichen Verlauf hin. Was war Ihr erstes Instrument? | |
Gerrit Glaner: Die Melodica. Es ist ein Tasteninstrument, aber wie lange | |
eine Phrase geht, bestimmt dein Atem. Fürs musikalische Gefühl war das | |
nicht schlecht, auch wenn der Klang gewöhnungsbedürftig ist. Später hatte | |
ich dann Klavierunterricht, aus dem ich im Alter von zehn Jahren rausflog. | |
Warum? | |
Ich habe wohl eine gewisse Begabung offenbart, aber auch meine Faulheit. | |
Meine Mutter beschloss, dass ich ein Jahr Pause einlegen sollte. Nach | |
Ablauf dieser Zeit rief sie tatsächlich meinen Lehrer an. Der wollte mich | |
aber nicht wieder nehmen, weil ich ihn zu viel Kraft kostete. Das war eine | |
Erleichterung, aber auch eine Zurückweisung, die mich kolossal kränkte. | |
Aber ein Klassiker war ich zu dem Zeitpunkt schon. Ich sang im Kirchenchor, | |
und nachdem ich das Concertino von Carl Maria von Weber gehört hatte, fing | |
ich mit der Klarinette an. | |
Wo sind Sie aufgewachsen? | |
Ich war eine Hausgeburt in Hamburg-Barmbek, 1957. Groß wurde ich allerdings | |
ganz bürgerlich in den Walddörfern, in Sasel. Jeden Morgen fuhr ich eine | |
Stunde lang zu einem altsprachlichen Gymnasium nach Wandsbek. Ich war der | |
Dickste in der Klasse, wurde ständig von zwei jungen Mädels verkloppt. | |
Vielleicht habe ich deshalb für Minderheiten immer ein offenes Ohr. | |
Warum haben Sie nach dem Abitur eine Banklehre gemacht? | |
Meine Eltern schlugen ein Klarinetten-Studium vor. Aber acht Stunden Üben | |
am Tag kam für mich nicht infrage, und so etwas Trockenes wie | |
Musikwissenschaft erst recht nicht. Die Banklehre war die Notlösung. | |
Zunächst aber ging ich nach England, um die Sprache zu lernen. | |
… und Konzerte anzuschauen? | |
Natürlich. Warum London eine richtige Metropole ist, wusste ich, als ich | |
den Spielplan der Royal Festival Hall sah. Ich konnte einige der größten | |
Namen der Klassikszene sehen – für nicht einmal vier Mark! Die billigsten | |
Plätze kosteten ein Pfund, also war ich jeden zweiten Abend da. Ich habe | |
Sergiu Celibidache, den unsterblichen Dirigenten, von vorne gesehen! Nach | |
einem dieser Abende hatte ich eine Erleuchtung. Ich war vollkommen high von | |
der Musik – ich wusste, mein künftiger Beruf muss damit zu tun haben. | |
Haben Sie die Banklehre denn abgeschlossen? | |
Ja. Danach habe ich mit Musikwissenschaft angefangen – der trockene Kram | |
entpuppte sich als hochspannend! Ich habe mich in alles eingeschrieben, was | |
mir in die Finger kam. | |
Während des Studiums waren Sie Barkeeper im bekannten Hamburger Jazzclub | |
Birdland. | |
Das gab bis zu 80 Mark die Nacht, das hat mir Mitte der Achtziger Jahre | |
mein Studium finanziert. Oft kamen Mitglieder der NDR Big Band nach ihren | |
Proben vorbei. Eines Abends brachten sie einen etwas abgerissenen Typen | |
mit. Der hatte nicht einmal seine Trompete dabei und musste sich eine | |
leihen. Im Club war es so still wie nie – es war Chet Baker. Keiner sonst | |
hatte so einen so sanften, verhaltenen Sound. Ein halbes Jahr später war er | |
tot. Auch heute noch treffe ich solche Musiker, deren stille Art so | |
anziehend ist wie ein schwarzes Loch. Baker war müde, er war krank, er war | |
nie gut drauf, aber wenn er sein Horn ansetzte … | |
Was taten Sie nach dem Studium? | |
Als mein BAföG auslief, ging ich zum Leiter für Klassische Musik beim NDR: | |
„Ich suche nach einem Job, bei dem es um Musik geht. Egal welche Musik. | |
Aber ein Volontariat kommt nicht infrage, ich brauche Geld.“ Das fand der | |
Mann frech, stellte mich aber trotzdem ein. Eigentlich ist das nicht meine | |
Art, das kam einfach aus mir heraus. Ich kam dann zur Fernsehredaktion und | |
habe dort gearbeitet wie heute auch: bis man mich um 22 Uhr rausschmiss. | |
Später haben Sie für Plattenfirmen gearbeitet. Ihr Start dort war nicht | |
leicht. | |
Ich war zunächst bei EMI und bin dort nach anderthalb Jahren entlassen | |
worden – Umstrukturierungsmaßnahmen. Ich war ein Jahr arbeitslos, eine | |
brutale Zeit, aber auch eine gute, um sich fein zu kalibrieren. | |
Arbeitslosigkeit ist nach wie vor ein Stigma in Deutschland. Ich mag das | |
Motto der Amis: „I’m in between jobs“ – der alte Job ist vorbei, aber d… | |
neue wird kommen. Wer so denkt, fühlt sich anders, und wird auch anders | |
angesprochen. | |
Und der nächste Job kam. | |
Ich fing bei dem Musikunternehmen Polygram an. Die haben mich auch deshalb | |
genommen, weil ich kalkulieren konnte, da kam mir die Banklehre zugute. Das | |
Repertoire etlicher Labels wie Deutsche Grammophon und Decca stand mir zur | |
Verfügung – das war vielleicht der größte Klassikkatalog in Deutschland. | |
Ich arbeitete kreativ, durfte etwa entscheiden, welche der vielen Versionen | |
der fünften Symphonie von Beethoven ich für eine Edition nehmen wollte. | |
Für ein großes Label zu arbeiten, ist wie in einem Haifischbecken zu | |
schwimmen, oder? | |
Das war schon ein enormer wirtschaftlicher Druck, der bei Monatsabschlüssen | |
oft Zauberei von uns erwartete. Als „der Typ von der Klassikabteilung“ | |
wurde man belächelt, denn das große Geld wurde mit Pop verdient. | |
Wie kamen Sie zum Beruf des Künstlerbetreuers? | |
Auf einer Party traf ich meinen Vorgänger bei Steinway. Den Job gibt es nur | |
zwei Mal auf der Welt, in New York und in Hamburg. Man geht auf Konzerte, | |
spricht vorher mit den Künstlern darüber und geht danach mit ihnen essen. | |
Man ist im inneren Zirkel! Das war mein Traumjob. Plötzlich sprach der | |
Manager davon, dass er eines Tages einen Nachfolger braucht. Da haben alle | |
Glocken in mir geläutet. Irgendwas muss ich im Leben richtig gemacht haben, | |
dass einer da oben mir diesen Job verschafft hat. Seit 2002 bin ich bei | |
Steinway in Hamburg-Bahrenfeld. | |
Was ist Ihre Aufgabe? | |
Ich kümmere mich darum, wie die Instrumente Pianisten, Konzerten und | |
Festivals am besten dienen können. Im Prinzip bin ich ein Dolmetscher. | |
Meine Aufgabe ist es, das Poetische und Irrationale, das zum Konzertwesen | |
dazu gehört, in die Welt des Faktischen zu übersetzen. Die Techniker | |
brauchen klare Ansagen, dennoch muss ich denen oft sagen: Die Antwort kann | |
heute noch nicht kommen. | |
Der Künstler, das ewig komplizierte Wesen? | |
Viele sind locker. Was Künstler interessant macht, ist ihre Individualität. | |
Wer auf die Bühne muss, hat mehr Adrenalin als Blut in den Adern. Und soll | |
rausgehen und Schubert spielen. Da kommt eine Nervosität auf, die | |
Nichtigkeiten bedeutsam werden lässt. Da bin ich auch schon angeschnauzt | |
worden. Ich weiß, dass ich nicht persönlich gemeint bin. Je aufgeregter der | |
Künstler ist, desto ruhiger muss ich sein. | |
Die Reputation Ihres Arbeitgebers hängt maßgeblich von Ihnen ab. | |
Steinway ist ein Wirtschaftsunternehmen, das Flügel verkaufen muss. Das | |
unterscheidet uns nicht von Flugzeug- oder Autoherstellern. Aber das Gut, | |
dass wir herstellen, hat eine künstlerische Inklination. Letztlich ist ein | |
Flügel ein Möbel und wird erst dann ein Instrument, wenn es zum Klingen | |
gebracht wird. Es gibt 2.200 bekennende Steinway Artists, mit denen wir | |
sprechen müssen, um herauszufinden, ob wir das Richtige tun. | |
Wie sieht Ihr Job an konzertfreien Tagen aus? | |
Kürzlich erkundigte sich ein Pianist wegen eines anstehenden Konzerts nach | |
einem bestimmten Flügel in Moskau. Das Instrument kannte ich von einem | |
Wettbewerb und konnte über seinen Charakter berichten. Über den aktuellen | |
Zustand weiß ich freilich nichts. Hat der noch Filze? Muss er vielleicht | |
ausgetauscht werden? Auch bei Flügeln lässt mit zunehmendem Alter die Kraft | |
nach, aber die Weisheit nimmt zu. Da meine Kollegen und ich nicht überall | |
sein können, ist das Feedback der Künstler hilfreich. Ich leite es dann an | |
die Techniker weiter. | |
Nimmt auch bei Ihnen die Weisheit zu, Herr Glaner, wie bei den Flügeln? | |
So lange die Ohren funktionieren, ist die Welt stets frisch. Je älter du | |
wirst, desto tiefer wirst du. Das ist bei Dirigenten ähnlich, jedes Konzert | |
bringt dich weiter. | |
Wirklich jedes Konzert? | |
Nicht alles ist toll. Aber ich hasse es, in der Pause zu gehen – vielleicht | |
wird die zweite Hälfte besser. Wenn du nicht weißt, wie ein krachendes | |
Fortissimo klingt, kannst du nicht beurteilen, wie sich ein Pianissimo | |
anhören sollte. Du brauchst Gegenteile. | |
Sie arbeiten viel mit Nachwuchsmusikern. Wie behaupten die sich in einer | |
Branche, die kaum Fehler verzeiht? | |
Ich konnte nur der werden, der ich bin, weil Menschen an mich geglaubt | |
haben. Die waren mein Geländer, meine Rückendeckung. Die Konzertwelt ist so | |
marketingaffin, dass sie nur mit bekannten Künstlern arbeiten will, bei | |
denen sie die geringsten Risiken eingeht. | |
Den chinesischen Pianisten Lang Lang wollen alle sehen, aber Newcomer sind | |
uninteressant? | |
Leuten, denen es so geht, erzähle ich Folgendes. Stellen Sie sich vor, es | |
wäre das Jahr 1957. Man empfiehlt Ihnen ein Konzert eines jungen Mädchens | |
aus Südamerika. Aber – eine Argentinierin, zumal ein Teenager, die Chopin | |
spielt? Würden Sie eine Karte kaufen? Alle, die dennoch hingegangen sind, | |
haben die Pianistin Martha Argerich am Beginn ihrer Weltkarriere erlebt. | |
Entwicklungen im künstlerischen Bereich zu beobachten ist genauso spannend, | |
wie seine eigenen Kinder wachsen zu sehen. Ich möchte dafür werben, an | |
jungen Künstlern dranzubleiben. | |
Der Druck auf die Künstler bei Klassik-Wettbewerben ist enorm. | |
Ein Wettbewerb verlangt einem viel mehr ab als ein normales Konzert. Der | |
Beruf des Künstlers ist dort dennoch gut widergespiegelt. Du hast nach | |
einem Konzert ein tolles Gefühl, aber niemand klatscht, die Kritiken sind | |
vernichtend. Du stehst vor einem Scherbenhaufen. Aber am nächsten Abend, in | |
einer anderen Stadt, musst du wieder alles bringen. Das muss man als feine | |
Seele erst einmal bringen! Wer stets mit sich hadert, muss sich fragen, ob | |
er diesen Beruf bis ins hohe Alter ausüben will. Man sollte das Ziel haben, | |
einen Wettbewerb zu gewinnen, aber der größere Gewinn ist die | |
Selbsterkenntnis. Man muss sich sagen: Wenn die Juroren zu blöd sind, mich | |
zu wählen, hat das nichts mit mir zu tun. | |
In vier Jahren sind Sie 65. Ist dann Schluss? | |
Mal schauen, was die Zeit bringt. So lange ich atme, wird die Musik ein | |
wesentlicher Bestandteil meines Lebens sein. Ich hoffe, ich kann den | |
Wünschen meiner Familie irgendwann mehr gerecht werden und mehr Zeit mit | |
ihnen verbringen. Nur noch die Sachen machen, die wirklich sein müssen. Und | |
weniger Mails beantworten. Da habe ich Bock drauf. | |
22 Oct 2018 | |
## AUTOREN | |
Jan Paersch | |
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