| # taz.de -- Kolumne Schlagloch: Wir müssen die Eliten erobern | |
| > Die Unteilbar-Demo hat gezeigt: Es gibt viele Ideen für eine | |
| > Übergangsgesellschaft, aber niemand ist bereit, sie in Politik | |
| > umzusetzen. | |
| Bild: Protest auf der #Unteilbar-Demo in Berlin | |
| Am Samstag gingen in Berlin [1][so viele auf die Straße], dass die Welt am | |
| Sonntag unverzüglich Entwarnung geben müsste. Zum Glück, seufzte der | |
| Kommentar, war es nur „[2][die nivellierte Mittelschicht] mit ihren | |
| Kindern“ und sie war „nicht zornig, sondern heiter, nicht für die | |
| Veränderung des Status quo, sondern für dessen Verteidigung gegen | |
| Rechtspopulisten“. Nur einige Radikale – Hausbesetzer, Islamisten und | |
| Theologen – hätten „abschreckend“ gewirkt. | |
| [3][Die „Multitude“], jubelte der Kommentar der taz, habe „in historischer | |
| Größe“ und „ohne strategisches Ungefähr“ gegen die autoritäre Wende | |
| demonstriert und für die Grundrechte. Nur die [4][linksnationalistische | |
| Sahra] habe sich in „jämmerlicher Gesellschaft“ mit Reaktionären selbst | |
| ausgeschlossen von diesem „Prozess kollektiver Vergewisserung“, in dem | |
| „gesellschaftliche Debatten zu Übereinkünften gerinnen“. | |
| Aber ist die „kollektive Vergewisserung“ nicht eigentlich schon viel | |
| weiter? Besteht nicht ein breiter Konsens darüber, dass das Asylrecht | |
| unantastbar bleiben soll, aber es kein unqualifiziertes „Recht, zu kommen | |
| und zu bleiben,“ geben kann (weswegen die Häme gegen Wagenknecht ebenso | |
| fehlgeht wie deren Weigerung, sich der Volksfront gegen Autoritarismus, | |
| Rassismus und Xenophobie anzuschließen). | |
| Und weiter: Dass Pflegeheime, Schulen, Bahnverkehr und Löhne unter dem | |
| Niveau eines Exportweltmeisters sind – da gibt es durchaus solide | |
| „Übereinkünfte“ im Wahlvolk, ebenso wie für eine Mietpreisbremse, | |
| öffentlichen Wohnungsbau, Energiewende und scharfe Maßnahmen gegen die | |
| Migration von Vermögen in Steueroasen. Forderungen, die allesamt an die | |
| materiellen Ursachen von Migrantenfurcht und Ausgrenzung rühren. | |
| ## Die Kluft zwischen Notwendigkeit und staatlichem Handeln | |
| Ich finde, man kann davon ausgehen, dass eine Mehrheit der Bürger zumindest | |
| eine Ahnung von Missständen und Lösungsmöglichkeiten hat und zumindest ein | |
| Bauchgefühl davon, dass viele Probleme nur durch Systemwechsel mitsamt | |
| einer stark veränderten Einstellung zum Eigentum gelöst werden können. Und | |
| das heißt: die hemmendste, mentale wie politische Spaltung in unserer | |
| Gesellschaft ist nicht die zwischen Globalisten und Lokalisten, Volk und | |
| Elite, Armen und Reichen, nicht einmal zwischen Reaktionären und | |
| Progressiven. Die Kluft, an der unsere Zukunft gerade zu scheitern droht, | |
| ist die zwischen erkannten Notwendigkeiten und staatlichem Handeln, | |
| zwischen Bürgern und ihren Delegierten. | |
| Die Membran zwischen Bürgerwillen und Parlament ist undurchlässig geworden. | |
| In der Demonstration vom Samstag zeigte sich in volksfestartiger Heiterkeit | |
| der ganze Reichtum an Energien für eine Übergangsgesellschaft. Aber all | |
| diesen Initiativen fehlt (noch) eine politische Speerspitze, die | |
| Aufbruchsenergien politisch konzentriert, Vorstöße durch Gesetze absichert | |
| und ein Fundament für eine postkapitalistische Gesellschaft legt. | |
| Demonstrationen müssen sein, wenn politische Argumente oder Forderungen auf | |
| anderem Wege nicht geäußert werden können, Kommunikationskanäle blockiert | |
| sind, Tabus die Thematisierung verhindern. Aber wenn die Erkenntnis, dass | |
| Klimawandel, Migration, Ungleichheit und Unrecht Konsequenzen der | |
| kapitalistischen Ordnung sind, selbst Leitartikel der Financial Times trägt | |
| – aber alle Einsichten folgenlos bleiben, wie wir es seit 2008 verschärft | |
| erleben? Dann befreien uns Demonstrationen für ein paar solidarische | |
| Stunden (und der Samstag war sehr erhebend) von Resignation – aber sie sind | |
| zugleich ihr Ausdruck. Denn Resignation entsteht (so Wikipedia) „aus der | |
| Einsicht, dass ein angestrebtes Ziel mit den zur Verfügung stehenden | |
| Mitteln nicht erreichbar ist, oder durch die Einsicht, dass man sich nicht | |
| auf den erforderlich erscheinenden Einsatz oder die potenziellen Folgen | |
| einlassen will“. | |
| Die bittere Einsicht ist die, dass 100 Jahre nach der Erkämpfung der | |
| repräsentativen Demokratie nicht ausreichend viele Bürger bereit sind, für | |
| ein Durchbrechen der Mauer zwischen Bürgerwillen und seinen Repräsentanten | |
| ein Opfer auf sich zu nehmen: das Opfer an Lebenszeit. Unsere Erkenntnis, | |
| unser Gewissen nötigen uns zu politischer Aktivität über „Kundgebungen“ | |
| hinaus, aber wir wissen auch: nichts frisst so umbarmherzig Menschenleben | |
| wie die Institutionen der Politik, in den großen Parteien und erst recht in | |
| der großen Berliner Maschine mit ihrem Treibstoff aus Lobbyismus und | |
| Ehrgeiz. | |
| ## Langer Marsch durch die Institutionen | |
| Und die „potenziellen Folgen“, auf die man sich nicht einlassen will? An | |
| dieser Stelle lähmt uns die bezifferbare Ahnung, dass es mit einer | |
| Reichensteuer oder überhaupt mit Geld nicht getan sein wird, wenn wir uns | |
| für globale Gerechtigkeit, die Rettung der Atmosphäre, die Würde der Alten | |
| und die Chancen der Kinder einsetzen, sondern dass es bis weit in die | |
| aufgeklärte Mittelschicht hinein um eine Wende zum Weniger geht und um eine | |
| Umstellung unserer Lebensweise, so radikal, dass kaum ein Politiker glaubt, | |
| Bürger dafür gewinnen zu können, und so ungewiss, dass es bislang keine | |
| überzeugenden Erzählungen darüber gibt, dass wir durch sie nicht ärmer, | |
| sondern reicher würden. | |
| Am Abend nach der Demo musste ich an das Albtraumbild denken, das Günther | |
| Anders – der Philosoph, dem die Bewegungen gegen Atomwaffen und AKW so | |
| viele Gedanken und Parolen verdankte – gegen Ende seines Lebens, in | |
| bitterer Resignation, beschwor: eine „Prozession von Milliarden Bewohner | |
| unserer Erde, die begleitet von allen lebendigen Wesen“ für den Erhalt der | |
| Erde demonstrieren, um die Burgen der Herrschaft marschieren und rufen und | |
| singen und brüllen – und doch die Eliten in ihren Türmen nicht erreichen. | |
| Und wenn es (noch) einen Mangel bei „Aufstehen“ wie bei „Unteilbar“ gib… | |
| dann den, dass beide nicht deutlich genug zur Eroberung dieser Türme | |
| aufrufen – zum langen Marsch durch die Parteien und Institutionen. Wieder | |
| einmal. | |
| 17 Oct 2018 | |
| ## LINKS | |
| [1] /unteilbar-Grossdemo-in-Berlin/!5538530 | |
| [2] https://www.welt.de/politik/article182046206/unteilbar-Demo-Es-ist-leicht-s… | |
| [3] /Kommentar-zur-Unteilbar-Demo/!5542706 | |
| [4] /Nach-Kritik-an-Unteilbar-Aufruf/!5542893 | |
| ## AUTOREN | |
| Mathias Greffrath | |
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